Franz Josef Krafeld: Jenseits von Erziehung
Rezensiert von Arnold Schmieder, 11.05.2016

Franz Josef Krafeld: Jenseits von Erziehung. Begleiten und unterstützen statt erziehen und belehren. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 106 Seiten. ISBN 978-3-7799-3401-1. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 21,30 sFr.
Thema
Vor allem geht es um Fragwürdigkeit, Ineffizienz und Hilflosigkeit nicht nur überkommener Erziehungsvorstellungen, sondern in ihren Kernelementen immer noch dort verhafteter Erziehungsmethoden mitsamt impliziten Wertvorstellungen und solchen über biographische Verlaufsformen. Krafeld stellt das alles auf den Prüfstand und macht dabei auch auf den Einfluss neoliberaler Desiderate aufmerksam, die zur einen Seite im erzieherischen Verhalten durchschlagen, zur anderen Seite in lebensweltlichen Perspektiven junger Menschen zur eigentätigen Bearbeitung anstehen, was tradierte und auch an die gegenwärtigen Verhältnisse flexibel angepasste Erziehungsinhalte und wohlmeinende pädagogische Maßnahmen prekär macht. Demgegenüber plädiert der Autor – wie im Untertitel betont – für Begleitung und Unterstützung junger Menschen in ein Erwachsenenleben, das nach Diagnose des Verfassers nicht halten kann, was es verspricht, zumindest nicht im Begründungskanon vorgeblicher Erziehungsnotwendigkeiten.
Aufbau und Inhalt
Der Band beinhaltet ein Vorwort mit knappen Zusammenfassungen der Beiträge. Es handelt sich um kürzere, bereits publizierte Texte und Vorträge aus den Jahren 1986 bis 2015. Der Anhang, vom Autor „Kleine Anstupser zum Nach- und Querdenken“ genannt, kann und soll auch dazu dienen, Gruppendiskussionen zum Thema zu initiieren. Einer seiner „Anstupser“ lautet: „Prävention ist der Versuch, sich vor einer Jugend zu schützen, der man immer weniger Zukunft bietet.“ Da geht Krafeld in deutlichen Schulterschluss mit Mark Twain, den er zitiert (S. 47): „Erziehung ist die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.“ Was es da unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu verteidigen gibt, wird vom Autor kritisch benannt (s.u.). Beides könnte man als Motto dem Band voranstellen, der im Vorwort mit der provokanten Frage beginnt: „Brauchen junge Menschen heute überhaupt noch Erziehung?“ (S. 7) Dass es um Selbstreflexion derer geht, die junge Menschen eher begleiten und unterstützen denn erziehen sollen und wollen, klingt allenthalben an und erstarrt nicht bei solcher Vorbildfunktion, die Wasser predigt und dann auch selbst Wasser trinkt – abgestandenes. Gegenüber solchem verschleierten Machtverhältnis ist zu reklamieren: „Gelingende ‚Erziehung‘ ist tatsächlich in erster Linie Beziehung“ (S. 18), was auch heißt, „dass man sich gegenseitig respektiert und sich möglichst auch gegenseitig wichtig und bereichernd findet“ (S. 32), was verlangt, dass man „die Klienten dort abholen“ muss – übrigens auch die höchst problematischen –, „wo sie stehen, nicht dort auf sie warten, wo man sie gerne hätte.“ (S. 98) Der Autor fordert auf und weiß sehr wohl um die Schwierigkeit, eben „strukturell zugeschriebene() Besserwisserei und pädagogische() Machbarkeits- und Allmachtsphantasien zu verlassen und junge Menschen als die eigentlichen Subjekte ihrer selbst – und damit auch als die eigentlichen Fachleute ihrer selbst – anzusehen.“ (S. 71) Dem ist in der Regel nicht so und darum schlägt Klarfeld recht barsche Töne gerade im Hinblick auf „Werteerziehung“ an, die „letztlich kaum etwas anderes als der ideologische Mantel organisierter Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsflucht gesellschaftsprägender Erwachsenengruppierungen“ sei. (S. 36) Damit ist der Tenor der Beiträge umrissen und es sind nicht nur Zungenschläge wissenschaftlichen Räsonnements, sondern Resultate einer fundierten Kritik, die auf der theoretischen Beschäftigung des Autors als Hochschullehrer im Studiengang Soziale Arbeit und zahlreichen Erfahrungen aus Praxisprojekten aufbaut.
Die einzelnen Beiträge kreisen um zentrale Widersprüche zwischen Anspruch und Realität heutiger Erziehung und die Frage, ob Kinder überhaupt Erziehung brauchen und ob es nicht vielmehr darum geht, sie zu aktivem Suchen für den Zweck einer erst noch zu ‚ersinnenden Zukunft‘ anzuleiten. Dazu brauche es den – gleichberechtigten – Dialog, wozu der Autor auch Anregungen gibt, wie man mit jungen Menschen, insbesondere ‚schwierigen‘, in Kontakt kommen kann. Da geht es dann eben auch um die Problematik von Werten und Wertorientierungen, woran grundlegende – sozialisationstheoretische – Fragen um gesellschaftliche Einflüsse anschließen und solche um ein Menschenbild, wie es in pädagogisches Handeln einfließt. Über die Diversity-Debatte, das Gegenüber als kompetent hinsichtlich dessen Einzigartigkeit ernst zu nehmen, kommt der Verfasser mit dem Capability Approach auf eine radikale Subjektorientierung und thematisiert deren Praxistauglichkeit im Hier und Jetzt. Prävention darf nicht fehlen, wobei Krafeld Pädagogik nicht in die Pflicht genommen wissen will, als Instrument für ‚Sicherheit‘ zu fungieren. In den letzten Beiträgen wird diskutiert, wie und ob überhaupt junge Menschen pädagogisch auf die Arbeitswelt vorbereitet und für sie ‚fit‘ gemacht werden können. Da Skepsis angebracht ist, bestehe Begleitung und Unterstützung eben auch und zunehmend vorrangig darin, biographische Abschnitte ohne berufliche Integration möglichst heil zu überdauern. Am Ende stellt der Verfasser seine Aktivitäten im Bereich „Akzeptierender Jugendarbeit mit rechten Jugendcliquen“ darum vor, weil „die Nagelprobe dafür, was wirklich praxistauglich ist und was nicht, (…) am intensivsten in der Arbeit mit brisanten Extremgruppen“ stattfinde. (S. 11)
Wofür sich die Resilienzforschung interessiert und was sich manch einer im Nachhinein in Bezug auf sich selbst klammheimlich gefragt haben mag, „warum manche Menschen, die unter besonders widrigen Umständen aufwachsen oder leben, ihr Schicksal erstaunlich gut meistern“ (S. 80), diese Frage hat auch den Verfasser bewegt, für den – wie für viele seiner (Nachkriegs-)Generation – galt: „‚Was ich bin, das bin ich vor allem trotz (!) Erziehung und trotz (!) Schule.‘“ Darum bräuchten Kinder „keine andere, sondern möglichst gar keine Erziehung!“ (S. 17 f.) „Unterstützung und respektvolle Begleitung“ (S. 20) u.a. sollten eine Erziehung ersetzen und sich eines „Machbarkeitswahns“ entledigen, deren Kulminationspunkt er in einer „Machtwort-, Druck- oder Grenzpädagogik“ sieht, mit der schon die Nazis gegenüber den damaligen „Randalejugendlichen“ gescheitert seien, wo auch „Jugend-KZs und willkürliche Hinrichtungen“ nicht geholfen hätten. (S. 23) Insbesondere weil immer noch ein negatives Menschenbild vorherrsche, man Menschen sehr wenig zutraue, „so lange man sie nicht kontrolliert oder zwingt“ (S. 86) – eine durchgängige Einstellung –, komme es auf „Anerkennungsquellen und Wertschätzungserfahrungen“ an (S. 31) und die Möglichkeit von „Erfahrungsproduktion“, was die Frage danach bezeichne, „wie Menschen in einer von Entfremdung und vielfältiger Zerstückelung von Lebenszusammenhängen geprägten Gesellschaft ihr Erleben von Realität verarbeiten, in diesem Kontext sich selbst definieren und Orientierungen für ihre eigene Lebensbewältigung entfalten“, und zwar in Richtung einer „etwas qualitativ Neues schaffenden Verarbeitung durch jeden einzelnen“.( S. 40 f.) Da kann es dann zu einem wertorientierten Engagement junger Menschen kommen, das „allzu häufig nur dann anerkannt und wertgeschätzt“ wird, wenn es sich in Organisations- und Handlungsmustern bewegt, die der erwachsenen Mehrheitsgesellschaft erstens vertraut sind und zweitens von ihr geschätzt werden.“ (S. 35) Genau da aber sind die jungen Menschen als ‚Subjekte‘ wahrzunehmen, deren Erfahrungsproduktion unter erschwerten Bedingungen verläuft, nämlich in einer immer komplexeren und undurchschaubareren Welt, in einem segmentierten Alltagsleben, wo ihnen stets eine diffuse, aber überschattende Aussicht auflastet, dass „Orientierungen und Perspektivvermittlungen nicht mehr gekoppelt sind mit entsprechenden Chancen“. (S. 42) Das würde als ungerecht empfunden, worin eine pädagogische Chance liege, da das „Streben nach Gerechtigkeit (…) immer neue Verständigungen darüber“ verlange, „von welchen Grundwerten und weltanschaulichen Grundlagen – und nicht zuletzt natürlich: von welchen biographischen Erfahrungszusammenhängen – welche Maßstäbe hergeleitet werden.“ (S. 59) Nur so könne und müsse – mit Gorz – „Zukunft in zunehmendem Maße ersonnen werden“. (zit. S. 67)
Diskussion
In seinen Beiträgen bettet Krafeld seine Argumentation immer wieder gesellschaftskritisch ein. So sagt er deutlich, dass die „unterschiedlichen Sozialisationsvorstellungen (…) alle eins gemeinsam (haben), nämlich die Grundannahme, dass eine Integration in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse
prinzipiell erreichbar ist“, und er testiert, dass diese Integration „heute immer unsicherer“ wird. (S. 39 f.) Mit Adorno wäre hier die Dynamik um Integration und Desintegration einzubringen und gegenwartsdiagnostisch zu fragen, ob und wie mit integrierenden Maßnahmen desintegrierende Tendenzen freigesetzt werden, die erneuter Integrationsbemühungen bedürfen. Sicher lässt sich Krafeld mit seinen Appellen für Begleitung und Unterstützung nicht vor den Karren optimierter Disziplinierung und Kontrolle spannen. Ganz weit weg sind die ‚Schlagrituale‘ (vulgo: Prügelstrafe) des Numismatikers und Volkskundlers Hävernick und damit die Botschaft, dass und wie gesellschaftliche Ordnung bei jungen Menschen notfalls ‚festgeklopft‘ werden muss. An dieser ‚schwarzen Pädagogik‘ entbrannten Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts heftige Diskussionen vor allem im Hinblick auf elterliche Disziplinierungsmaßnahme überhaupt und körperliche Züchtigungen, wie sie Hävernick legitimiert hatte. Damit war auch eine (weitere und nicht nur pädagogische) Debatte um Erziehung statt Dressur ins Leben gerufen, worauf – im Zuge der Studentenbewegung nur folgerichtig – Analysen um die Funktion von Erziehung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess folgten. Eher da, nämlich an der Funktion von Erziehung in naturalisierten gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Anforderungen an Verhalten und Einstellungen, schließt Klarfeld an. Seine Kritik bezieht sich ausschnitthaft auf ökonomische Grundlagen, als er die mit der neoliberalen Entwicklung verbundenen lebensgeschichtlichen Unsicherheiten anprangert. Gegenüber der „Botschaft“ des Neoliberalismus können sich insbesondere Jugendliche nicht verschließen; ob sie ‚faustisch‘ anschließen, „allein mir fehlt der Glaube“, bleibt fraglich. Fraglos aber lehrt sie ihre Erfahrung, dass die Erfahrungen der erziehenden Erwachsenen an Überzeugungskraft verlieren, wie sie ihnen in Form von Handlungsanweisungen oder gutgemeinten Ratschlägen aus erodierenden ideologischen Beständen sozioökonomisch nicht mehr vorherrschenden Verhältnissen ‚um die Ohren geschlagen werden‘. Auch das nimmt Krafeld in seine Erziehungskritik auf und diskreditiert den Erfahrungsbegriff ähnlich wie Walter Benjamin: „Die Maske der Erwachsenen heißt ‚Erfahrung‘.“ Unter sich auf der Ebne der Erscheinungen verändernder Bedingungen kann ‚Erfahrung‘ andere Konturen bekommen, was bei jungen Menschen da zu Dissonanzen führen kann, wo sie auf die mit Erziehungsgewalt oktroyierten ‚Erfahrung‘ der Erwachsenen stoßen. Und darum bei Benjamin kritisch weiter: „weil er niemals zum Großen und Sinnvollen emporblickt, darum wurde die Erfahrung zum Evangelium des Philisters. Sie wird ihm die Botschaft von der Gewöhnlichkeit des Lebens. Aber er begriff nie, daß es etwas Anderes gibt als Erfahrung, daß es Werte gibt – unerfahrbare –, denen wir dienen.“ Nicht umsonst zitiert Benjamin aus Schillers Don Carlos die Zeilen: „Sagen Sie ihm / Daß er für die Träume seiner Jugend / Soll Achtung haben, wenn er ein Mann sein wird“, um fortzufahren: „Nichts haßt der Philister mehr als die ‚Träume seiner Jugend‘. (…) Denn was in diesen Träumen ihm erschien, war die Stimme des Geistes, die auch einmal ihn rief, wie jeden jungen Menschen. Dessen ist die Jugend ihm die ewig mahnende Erinnerung. Darum bekämpft er sie.“ Im Sinne dieses Zitats plädiert Krafeld mit guten Gründen dafür, dass junge Menschen ihre Erfahrungen machen und dann gewiss auch Widerspruchserfahrungen, dass sie dabei immer schon vorausgesetzte Wertorientierungen überprüfen und solche finden oder entwickeln, die für sie, die sie ‚auf Zukunft sinnen‘ können sollen oder sollten, tragfähig sind – und dies nicht im Sinne nacheilender Integration im Selbstvollzug. Das gilt für Jugendliche, aber nicht nur. Längst sind die behavioristischen Ansätze überwunden und schon lange weiß die Psychologie des Kleinkindes und des Kindes darum: „Jeder Mensch wird mit einer unbändigen Neugier und Lernlust geboren“. (S. 51) Ob unbändig oder nicht, Kinder wollen erfahren und ‚begreifen‘, sind aktiv und entwickeln Kreativität. Krafeld würde sicherlich Musil zustimmen, der in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ die „barbarische Sünde“ geißelt, welche „die Erwachsenen begehen“, „indem sie das Schöpfertum des Kindes durch den Raub seiner Welt zerstören, unter herangebrachtem, totem Wissensstoff ersticken und auf bestimmte, ihm fremde Ziele abrichten.“ Eine harte Kritik, die aber sehr wohl auf schon länger vorherrschende Erziehungstendenzen bezogen werden kann, was durch ‚Terminkalenderkindheit‘ u.a.m. nur illustriert wird.
Der Jugendliche, dessen ‚auf Zukunft sinnen‘ zu begleiten und zu unterstützen ist, steht erst einmal, worum Krafeld nur zu gut weiß, auf schwachen Kindesbeinen. Determiniert ist er, ist sie nicht. Erziehung verfestigt und steht im Wege, so sie nach herrschendem Verständnis als vorrangig Integrationsbemühung theoretisch gefasst und praktisch umgesetzt wird. (Und klassische pädagogische Vordenker wie bspw. Makarenko oder Montessori scheinen eh in der Versenkung verschwunden.) Wo aber bleibt Begleitung, bleibt Unterstützung, wenn junge Menschen das „Ganze“ im Sinne Adornos in den Blick nehmen? – was vorab nicht zu erwarten ist, zumal dann nicht, wenn sie um Benjamins „Geist“ systematisch amputiert werden, zumal in der nur noch wissensvermittelnden Schule oder unternehmerischen Hochschule. Was ist, wenn sie auf im Hier und Heute lebenspraktisch nicht erfahrbare Werte kommen? Das mag allerdings schon eher wahrscheinlich sein, und zwar infolge eines ‚Gerechtigkeitsgefühls‘ oder weil sie als kompensatorische Lippenbekenntnisse in ‚Sonntagsreden‘ anklingen. Mit der Logik von Gesellschaft sind sie nur im Sinne von Integration kompatibel, falls die Verhältnisse an sich nicht hinreichend ‚dressieren‘.
Dass dies jedoch, jener „Geist“, im Hintergrund lauert, weiß Krafeld nur zu gut. Er weiß auch darum, dass „geheime Lehrpläne“ zum „subjektiv sinnvollsten Umgang mit Belehrungen, Grenzsetzungen“ usw. immer wieder aufkeimen (S. 53), dass überfällige Alternativen gegenüber Erziehung als flexibler Integration bestehen oder entwickelt werden, „solche im ‚klein, klein‘ von unten her (…) – teils offen, teils aber auch eher unterschwellig.“ (S. 8) Nicht von Ungefähr merkt er an dieser Stelle Neill und das Beispiel „Summerhill“ an (S. 53, Anm. 7), das für viele andere steht – und wie das meiste ‚integriert‘ wurde, wovon sich Krafeld nicht beirren lässt. Für ihn steht fest, was er mit Argumenten unterfüttert, dass in einer „Gesellschaft mit immer rasanteren Wandlungsprozessen“, wie sie mit Habermas durch „neue Unübersichtlichkeit“ oder mit Beck als „hochindividualisierte Risikogesellschaft“ gekennzeichnet ist (zit. S. 67), „Entscheidungsalternativen“ (ebd.) undurchschaubarer bis ausgedünnt insbesondere da werden, wo zum einen die „krisenhafte Wohlfahrtsgesellschaft immer mehr außerstande gerät, ihre mit Sozialisation und Erziehung gekoppelten Integrationsversprechen einzulösen (S. 43), was zum anderen heißt, dass man „in solchen Zeiten (…) genau so fit werden (muss) dafür, notfalls auch Phasen ohne entsprechende Berufsintegration möglichst unbeschädigt zu überstehen“ (S. 11) – und auch dafür will Krafeld die Steigbügel ‚Begleiten‘ und ‚Unterstützen‘ halten. Sicherlich verfolgt er damit nicht gezielt eine raffiniertere Pazifikationsstrategie; eher ist es zum Frommen der Betroffenen, wenn sie eben anders nicht „fit werden“ und in der Spannbreite psychosomatischer Erkrankungen bis Kriminalität zu hart mit der Wirklichkeit kollidieren, und dies zu niemandes Nutzen, was der Autor entlang seiner praktischen Arbeit mit „rechten Cliquen“ vor Augen führt. Auch sie, muss man sich vergegenwärtigen, ‚sinnen‘ (s.o.), vielleicht umnebelt und dumpf, auf ‚Zukunft‘. Ob sie dann wie nach dem Capability-Ansatz (der sich auf niemand Geringeres als den Ökonom Amartya Sen und die Philosophin Martha C. Nussbaum berufen kann) zu „Subjekten und Akteuren ihres eigenen Lebens“ (S. 73) in dem Sinne werden, dass sie aus der „Gewöhnlichkeit des Lebens“ ausscheren und sich auf Werte einlassen, die moralisch, nicht ökonomisch-kalkulatorisch fundiert sind und auf Humanität verpflichten, also nach ihrem „Geist“ in der Fern- und Nahwelt „unerfahrbare“ sind (Benjamin, s.o.), bleibt abzuwarten – und zu ‚unterstützen‘, u.a. mit den „Anstupsern“ des Autors. Nahe dem Gedanken Benjamins steht die aphoristische Bemerkung von H. G. Wells: „Den Fortschritt verdanken wir den Nörglern. Zufriedene Menschen wünschen keine Veränderung“ – womit jener Typus hauptsächlich von Erwachsenen gemeint sein dürfte, der sich mit auskömmlichen Pfründen in seiner kulturindustriellen Zurichtung häuslich eingerichtet hat. Wie ein Leitfaden für das Untergraben systemisch-systematischer Bildungsferne als Eskamotage im Hinblick auf „Geist“ das Marx-Zitat: „Wir wollen die Welt nicht dogmatisch antizipieren, sondern aus der Kritik der alten Welt die neue finden.“ (zit. S. 103)
Fazit
Soziale Arbeit ist eine mühevolle. Sie kann bis in den Bereich verschleißen, dass sich die Professionellen auf Routinen und Formales zurückziehen. Darüber klären etliche Studien auf. Die Schriften von Krafeld sind vielleicht Erinnerung und Ermutigung für all jene, die im Tagesgeschäft aus verständlichen Gründen verzagen. Er sagt es deutlich und kritisch, was Erziehung ist und nicht sein sollte und was an ihre Stelle zu setzen ist, gerade in der Sozialen Arbeit, aber auch auf allen anderen pädagogischen Handlungsfeldern, nicht zuletzt familialen und schulischen. Darum ist dieser Band neben Eltern und LehrerInnen auch allen Studierenden zu empfehlen, die in gleichviel welchem pädagogischen Beruf tätig werden wollen.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 11.05.2016 zu:
Franz Josef Krafeld: Jenseits von Erziehung. Begleiten und unterstützen statt erziehen und belehren. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2016.
ISBN 978-3-7799-3401-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20719.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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