Ursula Lehmkuhl, Hans-Jürgen Lüsebrink et al. (Hrsg.): Spaces of Difference
Rezensiert von Dr. Andreas Siegert, 13.02.2017

Ursula Lehmkuhl, Hans-Jürgen Lüsebrink, Laurence McFalls (Hrsg.): Spaces of Difference. Conflicts and Cohabitation. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2016. 260 Seiten. ISBN 978-3-8309-3385-4. D: 32,90 EUR, A: 33,90 EUR.
Thema und Aktualität
Über 65 Millionen Menschen waren nach Angaben des UNHCR im Jahr 2015 auf der Flucht (UNHCR 2017). Andere entschieden sich, die Chancen globalisierter Arbeitsmärkte zu nutzen und den beruflichen und sozialen Aufstieg in anderen Ländern anzustreben. Gleichgültig aber, ob Menschen zur Migration gezwungen werden oder sich freiwillig dafür entscheiden: Sie befinden sich in einer Situation, die u.a. von Verlust, Ohnmacht, Ungewissheit oder Orientierungssuche geprägt ist und Unsicherheit bewirkt (Siegert 2011). Migration ist ein enormer Stressor (Merbach/ Wittig/ Brähler/ Siefen/ Tasdemir 2003). Denn eine neue Situation entsteht für Wandernde und Ansässige gleichermaßen. Sie ist durch Unterschiede, Gemeinsamkeiten aber auch dem Aushandeln neuer Kooperationsformen oder dem Durchsetzen von Abgrenzungen geprägt. Sich in eine neue Umgebung zu integrieren schafft für Migranten Orientierung und Sicherheit. Für die aufnehmende Bevölkerung aber kann es das Hinterfragen bisheriger gesellschaftlicher Praktiken bedeuten (Siegert et al. 2015).
Ergebnisse des Aushandelns von Kooperationsformen oder Ausgrenzungen gehen über individuelle oder kommunale Erfahrungen hinaus. Sie beeinträchtigen Narrative, nationale Identitäten, gesellschaftliche Werte oder auch Staatsbildungen. Schließlich definieren die genannten Aspekte das „Wir“ und das „Fremde“. Diese Definition geht damit über Staatsgrenzen hinaus, wie die Beispiele der durch ihre Herkunftsgesellschaften instrumentalisierten Bevölkerungsgruppen zeigen: Sowohl die Russische Föderation als auch die Türkei versuchen regelmäßig, die Politik der Bundesrepublik Deutschland über die ihnen verbundene Bevölkerung zu steuern.
Für Migranten könnten sich z.B. Fragen stellen, ob und ggf. in welchem Umfang sie sich in die Aufnahmegesellschaft integrieren wollen? Wie erfolgen Prozesse beruflicher und sozialer Integration? Welche Faktoren wirken erschwerend oder begünstigend? Oder wie wirkt sich ein solcher Integrationsprozess auf individuelle (z.B. Migranten, Ortsansässige) oder kollektive (z.B. aufnehmender oder abgebender Gesellschaften) Identitäten aus? Für die ansässige Bevölkerung stellen sich oft andere Fragen: Aufnehmen oder ablehnen? Welche Werte leiten bei der einen oder anderen Entscheidung und wie ist sie dann umzusetzen? Sind diese Werte allgemeingültig oder nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen bindend?
Diesen Fragen widmen sich die Beiträge des Buches aus historischen, ethnografischen, politischen oder soziologischen Perspektiven.
Herausgeberin und Herausgeber
Bei 13 Autor*innen ist eine Beschränkung auf die Darstellung der Positionen und Forschungsschwerpunkte der Herausgeber geboten. Das ist bedauerlich, da zweifellos auch alle nicht erwähnten Autor*innen über interessante und erläuterungswürdige fachliche Hintergründe verfügen.
- Ursula Lehmkuhl (Prof. Dr.) lehrt Internationale Geschichte an der Universität Trier und ist Direktorin der Forschungsgruppe „Diversity: Mediating Differences in Transcultural Spaces.“
- Hans-Jürgen Lüsebrink ist Professor für Romanistik und Interkulturelle Kommunikation an der Universität des Saarlands. Er ist Ko-Direktor der Forschungsgruppe „Diversity: Mediating Differences in Transcultural Spaces.“
- Laurence McFalls ist Professor für Politik an der Universität Montreal sowie Direktor der Forschungsgruppe „Diversity: Mediating Differences in Transcultural Spaces.“
Aufbau und Inhalt
Nach der u.a. zentrale Begriffe („space/ place“, „mediation/ translation“) definierenden Einleitung gliedert sich das Buch in vier Teile:
- Diversity: Entangled Histories of a Contested Concept,
- Border Crossing and Transcultural Spaces,
- Becoming and Belonging und
- Dynamics of Confrontation and Cohabitation.
Der erste Teil („Diversity: Entangled Histories of a Contested Concept“) besteht aus den Beiträgen (Autoren in Klammern)
- „Diversités controversées: Concepts, imaninaires et représentations“ (Hans-Jürgen Lüsebrink),
- „Diversity: A Late 20th Century Genealogy“ (Laurence McFalls) und
- „A Geography of Blood: Uncovering the Hidden Histories of Metis People in Canada“ (Carolyn Podruchny und Jesse Thistle).
Im zweiten Teil („Border Crossings and Transcultural Spaces“) werden behandelt:
- „The Everyday Experience(s) of Space: First-generation Algerian Immigrant Women in Paris“ (Rebecca Ferrari),
- „Biography en route: Investigating Mobility Experiences through Biographical Research“ (Xymena Wieczorek),
- „Beyond the Political Opportunity Structure Approach: Studying Agency through the ‚Local Realm of Immigration‘“ (Teresa Cappiali).
Inhalt des dritten Teils („Becoming and Belonging“) sind Beiträge über
- „‚La loi du Camembert‘ as an Issue of Federalism: Reconciling Liberalism and Protectionism in Quebec“ (Sohpie Schram) und
- „Nationhood as a Context for Staging Personas: A Sociological Narrative of Montreal and Brussels“ (Dave Poitras).
Gegenstand des vierten und letzten Teils („Dynamics of Confrontation and Cohabitation“) sind folgende Aufsätze:
- „Border Policies: From Denizens to Legal Ghosts“ (Chowra Makaremi),
- „La mobilisation des différences minoritaires: des dynamiques conflictuelles au-delà de l´ethnicité en France et en Allemagne“ (Nikola Tietze) und
- „Situated Cosmopolitans in Contemporary Indigenous Art Production in Canada“ (Heike Härting).
Ausgewählte Inhalte
Im Folgenden werden drei Beiträge des Buches näher behandelt:
- „Biography en route: Investigating Mobility Experiences through Biographical Research“,
- „Beyond the Political Opportunity Structure Approach: Studying Agency through the ‚Local Realm of Immigration‘“ und
- „Nationhood as a Context for Staging Personas: A Sociological Narrative of Montreal and Brussels“.
1. „Biography en route: Investigating Mobility Experiences through Biographical Research“
Wieczorek behandelt die Vielfalt räumlicher Bewegung. Sie stellt Um- und Neuansiedlung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Dazu wählt sie einen biographischen Ansatz, den sie mit soziologischen Perspektiven des Wanderungsverhaltens kombiniert (16). Am Beispiel eines polnischen Emigranten fokussiert sie sich auf dabei entstandene transkulturelle Räume.
Indem sie die generationsübergreifende soziale Interaktion betrachtet, zeigt sie in ihrer beispielhaften Betrachtung, wie eingeübte soziale Praktiken Veränderungen unterworfen sind und fließende geographische Räume entstehen lassen (16). Daraus ergibt sich eine strukturelle Asynchronität von Veränderung. Wieczorek unterscheidet zeitliche, räumliche und soziale Ebenen biografischer Mobilitätserfahrung (119). Insbesondere verweist sie darauf, dass sich das Wanderungsverhalten in der von ihr untersuchten Biographie als Ergebnis von Interaktionen zwischen Ausbildung, beruflichen und persönlichen Umständen aber auch Möglichkeiten ergab. Komplexe Wanderungsbewegungen sind ihrer Meinung nach generationsübergreifend, haben unterschiedliche Referenzpunkte, beeinflussen soziale Interaktionen und bewirken spezifische, von Biographien abhängige Wanderungsmuster (101).
An dem von Wieczorek gewählten Ansatz lassen sich die lokalen Folgen globaler Entwicklungen am Beispiel migrantischer Lebensläufe und ihrer Mobilität erkennen. Wichtig ist ihr die Vielfalt räumlicher Bewegungen anzuerkennen, die sich nur begrenzt in dem allgemeinen Begriff „Migration“ spiegelt. Am gewählten Beispiel illustriert sie, wie stark Wanderungsbereitschaft an individuelle Voraussetzungen gebunden sein kann und, dass diese Differenzierung sich nicht in klassischen Migrationstheorien wiederfindet. Wieczorek verdeutlicht zudem, dass lokale Bindungen (in Herkunfts- oder Zielgesellschaft) bestehen können, die keinen Widerspruch zu globaler Orientierung darstellen (120).
2. „Beyond the Political Opportunity Structure Approach: Studying Agency through the ‚Local Realm of Immigration‘“
Cappiali analysiert in ihrem Beitrag Vielfalt auf der Grundlage wissenschaftlicher Migrationsnarrative und deren Versuche, Wanderungs-, Integrations- und Mitwirkungsprobleme und -prozesse zwischen Einwanderern und Aufnahmegesellschaften zu erklären (16). Sie identifiziert dabei drei Haupterzählstränge („scientific master narratives“): a) Ansatz der Assistenz, b) interkultureller Ansatz und c) den Ansatz politischer Rechte.
- Der Ansatz der Assistenz wird durch die von McFalls in seinem Beitrag („Diversity: A Late 20th Century Genealogy“) identifizierten Ideologien geformt; hierbei werden Einwanderer als passive Mitglieder einer Gesellschaft angesehen (145).
- Demgegenüber nähert sich der institutionelle Ansatz Einwanderern über eine Aufwertung von interkulturellem Austausch und kultureller Diversität als Wert per se.
- Einwanderer über politische Rechte zu integrieren, unterscheidet sich von den vorgenannten Ansätzen dadurch, dass ihnen Kanäle politischer Teilhabe in der Aufnahmegesellschaft – und zwar ganz konkret in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld – eröffnet werden. Darüber können Migranten Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort erfahren und sich z.B. von Defizitbetrachtungen emanzipieren.
Mit ihrem Beitrag liefert Cappiali einen theoretischen Rahmen für Ausprägungen ziviler und politischer Beteiligung von Migranten auf lokaler Ebene (126). Auf Grundlage vorhandener Migrationsforschung argumentiert sie, dass diese Ansätze nur über begrenzte Aussagekraft verfügen, weil sie die Mikroebene vernachlässigen. Es ist aber ihrer Meinung nach die lokale und nicht die abstrakte staatlich-institutionelle Ebene, auf der Interaktion zwischen Beteiligten erfolgt. Interaktion aber vermittelt Handlungskompetenzen, Werte, Orientierung und legt damit die Basis für Integrations- und Partizipationsprozesse (125f.).
Cappiali schafft damit einen Integrationsansatz unterschiedlicher Akteure, bei dem lokale Gegebenheiten als Ausgangspunkt gewählt werden und indem sie Dynamiken politischer Beteiligung und die „um den Integrationsprozess“ arrangierte Interaktion zwischen Beteiligten analysiert (16).
3. „Nationhood as a Context for Staging Personas: A Sociological Narrative of Montreal and Brussels“
Poitras untersucht manifestierte institutionalisierte Alltagspraktiken der Nationalstaatlichkeit in bi-ethnischen oder zweisprachigen Städten (an den Beispielen Brüssel und Montreal). Er analysiert die Folgen bestehender Rahmenbedingungen für individuelle Handlungs- und Verhaltensmuster (17). Denn Alltagskontexte, so Poitras, beeinflussen Kommunikation und Handlung: Menschen tauschen sich dann mit ihrem Umfeld erfolgreich aus, wenn sie Kontexte beachten. Solche Kontexte sind nicht durch Nationalstaatlichkeit oder nationalistische Motive geprägt, sondern durch soziale Konstellationen, wie sie zum Beispiel durch Multi-Ethnizität oder Zweisprachigkeit geprägt werden (181).
Indem der Autor das Arbeitsumfeld konkreter Personen betrachtet, nähert er sich den Rahmenbedingungen ihres Alltags und leitet aus seinen Beobachtungen soziologische Narrative ab. Mit Hilfe derartiger Erzählungen entstehen Individuen verbindende Stränge („space of understanding“), die dem gegenseitigen Verständnis dienen.
Am Beispiel beider Städte illustriert Poitras wie Politik über die Reflektion ethnischer und soziopolitischer Aspekte die Lebenswirklichkeit prägt (183). Über diese Interaktionen zwischen Alltag und Politik auf unterschiedlichen Ebenen entsteht etwas, was der Autor als „banale Staatsangehörigkeit“ bezeichnet. Sie ist durch Weitschweifigkeit gekennzeichnet und spiegelt damit die Lebenswirklichkeit der Menschen. Insofern ergeben sich dem Autor zufolge Fragen nach Theorien der Nationalstaatlichkeit. Denn, wenn Territorien nicht ethnisch homogen sind oder werden können, wird dann Multi-Ethnizität hegemonistisch?
Diskussion
Mit dem Buch liefern Herausgeber und Autoren einen interessanten Diskussionsbeitrag. Sie greifen offensichtliche Mängel dominierender Migrationstheorien auf und liefern, auf Grundlage konkreter Lebenswirklichkeiten, mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen neue Erklärungsansätze zum Verständnis von Wanderungsverhalten und -motiven.
Dass Menschen ihr Überleben sichern oder ihre Lebensperspektiven verbessern wollen, ist nicht neu. Nicht anders handelten Europäer in den vergangene Jahrtausenden. Allerdings scheint es, dass Globalisierung die ungleiche Verteilung von Reichtum und Lebensperspektiven forciert und darüber Wanderungen fördert – ein Umstand, den Strahm bereits in den 1970er Jahren belegte (1985). Allerdings wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. Und offenbar ist weltweiter Austausch nicht nur auf Güter und Dienstleistungen beschränkt. Vielmehr tangiert Globalisierung auch Arbeitsmärkte in vielfältiger Weise.
Unfaire Handelspraktiken (supra-)staatlicher Institutionen, wie z.B. der Europäischen Union, verschlechtern die Lebensbedingungen bei Handelspartnerländern soweit, dass Menschen zur Wanderung gezwungen werden. Diese Menschen dann an Grenzen zurückzuweisen, bedeutet eben auch, Verantwortung für eigenes Handeln abzulehnen. Solches Handeln hat weit darüber hinausgehende Folgen für die wirtschaftliche und politische Stabilität in der Welt und gefährdet darüber u.a. die Perspektiven des Handels. Beispielhaft sei daran erinnert, dass die massive Wanderung syrischer Flüchtlinge nach Europa begann, nachdem sich u.a. die EU geweigert hatte, höhere Beiträge für die Versorgung der vom UNHCR betriebenen Auffanglager in der Türkei, Jordanien und dem Libanon zu zahlen.
Ausmaß und Struktur der Wanderungsbewegungen werfen allerdings auch Fragen nach der Konstituierung von Staaten, der Identität ihrer Bevölkerung oder von Integrations- und Partizipationsmöglichkeiten von Einwanderern und Ortsansässigen auf. Wie sich an nationalistischen Bewegungen in vielen europäischen Ländern zeigt, werden gängige Reaktions- und Erklärungsmuster politischer Eliten von Teilen der Bevölkerung nur noch eingeschränkt akzeptiert.
Lokale Integrations- und Partizipationsstrategien zu untersuchen und aufzuwerten, reflektiert ein solches Auseinanderklaffen des Handelns auf unterschiedlichen (gesellschafts-)politischen Ebenen. Denn auch in Polen, Tschechien, Frankreich oder Deutschland gibt es zahlreiche Kommunen, die gerne mehr Geflüchtete aufnehmen würden – und damit gegen die Abschottungspolitik ihrer Regierungen handeln.
Diesen Akteuren liefern die unterschiedlichen theoretischen Ansätze des Buches eine Argumentationsgrundlage und Handreichung zum Verständnis differenzierter Wanderungsprozesse. Die Beiträge bereichern die wissenschaftliche Diskussion und gesellschaftspolitische Debatten zur Integration und Einbindung von Einwanderern. Ein solcher Austausch kann den gesellschaftlichen Konsens und die Entwicklung erfolgversprechender Integrationsansätze fördern.
Fazit
In der Vergangenheit dominierten Migrationstheorien, die eine Vogelperspektive einnahmen und deren Erklärungen für komplexe Wanderungsentscheidungen begrenzt waren. Die Perspektive betroffener Menschen und ihrer Kontexte einzunehmen, bereichert die Diskussion und liefert interessante Ansätze zum Verständnis von Wanderungs-, Integrations- und Partizipationsprozessen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Ansätze konstruktiv aufgegriffen und weiter entwickelt werden.
Literatur
- Merbach/Wittig/Brähler/Siefen/ Tasdemir (2003): Die gesundheitliche Identität der SpätaussiedlerInnen und der türkischen MigrantInnen zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland, in: Migration – Integration – Minderheiten, BiB (Hg.), Heft 107, S. 17-34; Wiesbaden
- Siegert/ Ketzmerick/ Ohliger (2015): „anKommen – willKommen“. Menschen gewinnen, Migration ermöglichen, demografischen Wandel in Sachsen-Anhalt ermöglichen. Handbuch. Forschungsberichte aus dem zsh. Nr. 15-02, Halle (Saale)
- Siegert (2011): On socialization, patriotism and trust: the migration of homeward-bound Russian academics. Nationalities Pap.;39: 977-995
- Strahm (1985): Warum sie so arm sind. Arbeitsbuch zur Entwicklung der Unterentwicklung in der Dritten Welt mit Schaubildern und Kommentaren. Wuppertal
- UNHCR (2017): https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html; Zugriff am 04.01.2017
Rezension von
Dr. Andreas Siegert
Fachhochschule für Ökonomie und Management (Studienort Berlin)
Es gibt 19 Rezensionen von Andreas Siegert.