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Stephan Goertz (Hrsg.): "Wer bin ich, ihn zu verurteilen?"

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 29.04.2016

Cover Stephan Goertz (Hrsg.): "Wer bin ich, ihn zu verurteilen?" ISBN 978-3-451-33273-9

Stephan Goertz (Hrsg.): "Wer bin ich, ihn zu verurteilen?". Homosexualität und katholische Kirche. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2015. 448 Seiten. ISBN 978-3-451-33273-9. D: 39,99 EUR, A: 26,80 EUR.

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Der aktuelle katholische Debattenstand bzgl. Homosexualität

Auch in der katholischen Kirche wird über den Umgang mit ihren homosexuellen Gläubigen und mit Homosexualität insgesamt diskutiert. Die Aushandlungen wurden in den letzten Jahren verschiedentlich deutlich – durch Aussagen der Päpste und Thematisierungen im Kontext der Bischofssynode.

Der Band „‚Wer bin ich, ihn zu verurteilen?‘ Homosexualität und katholische Kirche“, hg. von Stepan Goertz, zeigt den aktuellen Stand der Debatte auf. Christlich-theologische und gesellschaftlich-politische Einordnungen ergänzen sich dabei wechselseitig; zwei diskutable Beiträge versuchen die Öffnung in biologisch-medizinischer und soziologischer Hinsicht.

Theologische Beiträge

Geklärt ist die Frage bzgl. „Homosexualität“ in der katholischen Kirche nicht – das erläutert Michael Brinkschröder im abschließenden Beitrag des Bandes „Neue Offenheit oder alte Ängste? Homosexualität und gleichgeschlechtliche Partnerschaften als Thema der Familiensynode“. Dabei beschreibt er ausführlich die Verläufe der Synode im Jahr 2014, mit der bzgl. „Homosexualität“ offeneren Zwischenbilanz und einem mageren Abschlussstatement, in dem sich die Bischöfe dagegen wenden, dass internationale Fördermittel für (arme) Staaten an die Einführung von „Homo-Ehe“ gekoppelt werden. Solchen Zwang auszuüben, ist tatsächlich nicht statthaft – gleichwohl sind die Forderungen an die katholische Kirche elementarer Art: Es geht darum, dass sie sich nicht daran beteiligt, strafrechtliche Regelungen – bis hin zur Todesstrafe – gegen gleichgeschlechtlichen Sex und gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen in Ländern aufrecht zu erhalten oder einzuführen. Insofern wertet es Brinkschröder als Erfolg der Synode, dass der Vorsitzende der Bischofskonferenz in Nigeria seine bisherigen Aussagen zu Homosexualität abschwächte und zum Ausdruck brachte, dass er lediglich gegen die Homo-Ehe sei (S. 422).

Der Blick des Bandes ist auch in den weiteren aktuellen Beiträgen viel nach außen – auf den internationalen Kontext – gerichtet. So erscheinen vielfach gerade andere Länder als Deutschland besonders problematisch; eine durchaus schwierige Verschiebung, da das deutschsprachige Buch in der Bundesrepublik wirken soll. Gleichwohl sind die Beiträge beachtenswert: So erläutert beispielsweise Alberto Bondolfi die rechtlichen Bedingungen bzgl. Ehe und „Eingetragener Lebenspartnerschaft“ in den verschiedenen Ländern Europas und geht dabei auch auf den „Zivilen Solidaritätspakt“ in Frankreich ein (S. 364f), der keine (sexuelle) Beziehung zwischen den Partner_innen voraussetzt, und mittlerweile in Frankreich jährlich häufiger geschlossen wird, als die Ehe. Hier eröffnen sich Möglichkeiten zum Weiterdenken, da offenbar auch eine rein staatliche, liberale Institution möglich ist, um den ordnenden Gedanken der Registrierung von Paaren umzusetzen.

Der Beitrag von Josef Römelt behandelt die Eingetragene Lebenspartnerschaft in Deutschland ausführlicher.

Mehrere der Beiträge unternehmen einen historischen Durchlauf durch die Geschichte. Besonders empfehlenswert ist hier der Beitrag von Stephan Goertz, der sich insbesondere der Moraltheologie seit der Neuzeit zuwendet und die Betrachtung bis in das 21. Jahrhundert verfolgt. Dabei wendet er sich auch offeneren Konzepten von „Homosexualität“ zu – sie solle nicht so identitär gedacht werden, sondern den verschiedenen historischen Konzeptionen gleichgeschlechtlichen Sexes und gleichgeschlechtlicher Beziehungen Rechnung tragen, sowie aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, in denen identitäre Konzeptionen zurück treten (S. 180f).

An diese Ausführungen knüpft Brinkschröder im abschließenden Beitrag (zur Synode 2014) wieder an – und betrachtet auch die katholischen Ausführungen zur Queer-Theorie und zur gesellschaftlichen Herstellung von Geschlecht und Zweigeschlechtlichkeit.

Reflektiert sind auch die ureigen theologischen Beiträge, die die christlichen Glaubenstexte auf Passagen durchgehen, die zuweilen im Sinne von gleichgeschlechtlichem Sex oder „Homosexualität“ gelesen werden. Thomas Hieke liefert hierzu im Beitrag „Kennt und verurteilt das Alte Testament Homosexualität?“ Einen sehr guten Überblick. Er fordert eine zeitgenössische Einordnung der Texte – und liefert sie gleich mit; und er fordert, dass die entsprechenden Passagen jeweils in den Gesamtkontext der jeweiligen Schriften gesetzt werden.

Michael Theobald unternimmt eine ähnliche Vorgehensweise für die Schriften von Paulus. Leider ist Theobald in Bezug auf die Anknüpfungspunkte zu jüdischer Tradition nicht so sorgfältig, so dass sich hier eine Schlagseite ergibt, die die christlichen Texte in Bezug auf den Umgang mit gleichgeschlechtlichem Sex bevorteilt. Hieke ist genauer.

Nicht unterschlagen werden sollte, dass sich ein explizit theologischer Beitrag „Gleichgeschlechtliche[r] Elternschaft“ zuwendet – er ist von Gerhard Marschütz verfasst.

Als Fazit für eine offene und wertschätzende Perspektive bzgl. sexueller Vielfalt in der katholischen Kirche fassen Todd A. Salzmann und Michael G. Lawier am Ende ihres Beitrags zusammen: „Damit eine sexuelle Handlung als wahrhaft menschlich gelten kann, muss sie holistische Komplementarität, Gleichheit zwischen den Partnern, gleiche Freiheit für beide Partner und die gegenseitige Zustimmung beider Partner aufweisen. Die christliche Tradition wird hinzufügen, dass diese Kriterien alle durch die Liebe Gottes und des Nächsten fundiert werden müssen, wie dies durch Jesus aufgegeben ist. Die Nächstenliebe wird konkretisiert durch den Wunsch, das Wohl des Nächsten zu befördern, durch Mitgefühl, Barmherzigkeit, Vergebungsbereitschaft und Versöhnung“ (S. 276).

Nicht-theologischen Beiträge

Als eine Art gesellschaftlicher Rahmen sind zwei weitere Beiträge in den Band eingefügt, die beide kritisch zu diskutieren sind.

Hartmut A. G. Bosinski macht als Mediziner den Aufschlag, um „Homosexualität“ gesellschaftlich einzuordnen. Dabei orientiert er einerseits auf biologische Fundierung und bezieht sich etwa auf neurowissenschaftliche und hormonelle Untersuchungen, die längst für Einseitigkeit in der Kritik stehen und deren Ergebnisse in sich anschließenden weiteren Untersuchungen nicht bestätigt werden konnten. (Vgl. für einen Überblick: Heinz-Jürgen Voß [2013]: „Biologie und Homosexualität“. Münster: Unrast-Verlag.) Wie aus dem Fazit hervorgeht, ist es Bosinski ein besonderes Anliegen, die biologisch-genetische Determiniertheit von „Homosexualität“ nachzuweisen (S. 125). Andere und mittlerweile verbreitete Perspektiven gehen hingegen davon aus, dass es sich bei der sexuellen Entwicklung eines Menschen um einen komplexen und psychosexuellen Entwicklungsprozess handele. Auch die Bezüge Bosinskis zum Tierreich (S. 109f) und die sich daran anschließenden Beschreibungen des Umgangs mit gleichgeschlechtlichem Sex unter Menschen verschiedener geographischer Regionen (S. 110) sind in verschiedener Hinsicht zu problematisieren. Einerseits wird der Eindruck erweckt, dass das komplexe menschliche Verhalten „Homosexualität“ (und Sexualität an sich) einfach auf andere Tierarten zu übertragen sei; andererseits wiederholt Bosinski klassische Aneinanderreihungen ethnologischer Forschung europäisch-kolonialistischer Prägung, mit denen versucht wurde über Beschreibungen von Tieren und von Menschen „anderer Kulturen“ weiße, europäische Selbstverständlichkeiten zu setzen und zu festigen. Eine Auseinandersetzung mit geschlechtlichen und sexuellen Lebens- und Beziehungsweisen setzt immer die genaue Einordnung in den geographischen und zeitlichen Kontext voraus – dafür müssen die Arbeiten und Expertisen der dort jeweils lebenden Menschen zentrale Grundlage sein.

Der Beitrag von Melanie Caroline Steffens und Claudia Niedlich unternimmt eine sozialwissenschaftliche Perspektive, wobei sie „die anderen“ Länder und Religionen als Deutschland und die Kirchen in Deutschland problematisieren. Die Auslagerung der Debatte auf andere Länder wurde zuletzt mit dem Begriff „Homonationalismus“ benannt (vgl. etwa den von Jin Haritaworn, Tamsila Tauqir und Esra Erdem verfassten Beitrag „Queer-Imperialismus“ im Band: „Re/Visionen: Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland“, hg. von Kein Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai und Sheila Mysorekar, Münster 2007: Unrast Verlag); auch die Verlagerung auf Jüd_innen und Muslim_innen ist vielfach kritisiert (vgl. ebenda) – zu rassistischen Setzung in der Simon-Studie, auf die sich beide Autorinnen beziehen, gibt es seit geraumer Zeit massive Kritik (vgl. etwa: Saideh Saadat-Lendle & Zülfukar Çetin in ihrem Beitrag „Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen“ im Band „Forschung im Queerformat“, hg. von der Magnus-Hirschfeld-Stiftung).

Fazit

Trotz der auch lesenswerten aktuellen theologischen Standortbestimmung sind für den Band auch ernstere Kritikpunkte festzuhalten; er sollte entsprechend mit kritischem Blick gelesen werden. Darüber hinaus stellt er eine aktuelle Ergänzung zum empfehlenswerten Buch „Größer als alles ist die Liebe: Für einen ganzheitlichen Blick auf Homosexualität“ (von Wunibald Müller, Ostfildern 2014: Matthias Grünewald Verlag) dar, der ebenfalls eine katholisch-christliche Standortbestimmung zu Homosexualität darstellt.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 65 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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ISSN 2190-9245