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Ina Rösing: Intelligenz und Dummheit

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.10.2005

Cover Ina Rösing: Intelligenz und Dummheit ISBN 978-3-89334-426-0

Ina Rösing: Intelligenz und Dummheit. Wissenschaftliche Konzepte, Alltagskonzepte, fremdkulturelle Konzepte. Ein Werk- und Denkbuch. Asanger Verlag (Kröning) 2004. 609 Seiten. ISBN 978-3-89334-426-0. 20,00 EUR. CH: 35,10 sFr.

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Dummheit in ein helleres Licht stellen?

Viele Sprichwörter in unserem kulturellen Wortschatz bringen es an den Tag: Die Dummheit, die sich beim anderen zeigt, spiegelt nie bei sich selbst. "Dummheit und Stolz, wachsen auf einem Holz". Die offensichtlich interessante Frage, was Dummheit ist, hat Denker und Nachdenker zu allen Zeiten zu Reflexionen und Spekulationen veranlasst. Das 1955 von Horst Geyer erschienene Buch "Über die Dummheit. Ursachen und Wirkung" wird bis heute in immer wieder neuen Auflagen vorgelegt. Der Autor differenziert die Fragestellung in vier Überlegungen: Dummheit infolge zu niedriger Intelligenz. Dummes Verhalten trotz normaler Intelligenz. Dummes Verhalten infolge zu hoher Intelligenz. Kluges Verhalten bei geringer Intelligenz. Ob bei den griechischen Philosophen oder in der Bibel, Dummheit wird immer dem angeblichen Gegensatz, der Klugheit, gegenüber gestellt. Dabei wusste schon die österreichische Schriftstellerin und Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach zu sagen: "Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit". Und der englische Premier Winston Churchill gab zu bedenken: "Lache nie über die Dummheit der anderen. Sie kann deine Chance sein!". Und schon Erasmus von Rotterdam schrieb ein 1509 verfasstes Traktat über das "Lob der Torheit". Klar ist jedenfalls, dass, wie der amerikanische Literat Tennessee Williams zum Ausdruck bringt, jede Dummheit einen findet, der sie macht. Dummheit ist also menschlich - und doch eine Eigenschaft, die man besser für sich selbst nicht in Anspruch nimmt. "Ein Hoch auf die Dummheit" (Franco Lucentini) wechselt also, je nach Anspruch an die eigene Intelligenz, ab mit dem Bedauern, dass es auf der Welt so viel Dummheit gibt, ja sogar hin bis zu der Forderung, dass den "sozial brauchbaren wie unbrauchbaren Formen der Klugheit und Dummheit" (T. M. Bardmann) im gesellschaftlichen Miteinander Raum gegeben werden müsse.

Kritik an den Maßstäben

Dass die Frage nach der Dummheit in der Welt ein Jahrtausendthema ist, zeigt die Heidelberger Sozialspsychologin, Wissenschaftssoziologin, Kulturanthropologin, Psychotherapeutin und Leiterin des Instituts für Kulturanthropologie am Universitätsklinikum Ulm, Ina Rösing. In rund 1000 Literatur- und Quellenauswertungen macht sie sich mit ihrer gewichtigen Veröffentlichung, die sie als Werk- und Denk-Buch bezeichnet, daran, die "Dichotomie der Konzepte von Intelligenz und Dummheit aufzulösen". Die polare Wertung der scheinbaren Gegensätze von Intelligenz und Dummheit identifiziert sie als ein Kennzeichen unserer westlichen Kulturen. Mit einem methodischen Dreierschritt macht sie sich daran, eine "behutsame" Kritik an den Maßstäben, Messlatten und Normen bei der individuellen und kollektiven gesellschaftlichen Wertung der Dichotomien "Intelligenz und Dummheit" im alltäglichen wie im institutionellen Umgang aufzudecken: Zum ersten analysiert sie die zahlreichen, historischen und aktuellen "Schreibtisch-Konzepte" von Intelligenz und Dummheit. Sie kommt dabei zu dem nicht allzu sehr überraschenden Ergebnis, dass die nach wie vor in der Bewertungs- und Einstellungspraxis verwendeten Intelligenz-Tests, die auf der Grundlage der "analytischen Intelligenz" beruhen, einer kritischen Betrachtung nicht mehr Stand halten. Mit dem zweiten methodischen Schritt begibt sie sich "auf die Straße" und betrachtet die Laien- und Alltagsvorstellungen der Menschen über das, was intelligent und was dumm eingeschätzt wird. Der dritte, in diesem Forschungskontext durchaus neue Schritt führt die Autorin in Vorstellungen, Haltungen und Werteeinschätzung bei Menschen in anderen Kulturen. Überraschend auch hier: Andere Kulturen kennen die genannten Konzepte entweder überhaupt nicht und wenden sie im gesellschaftlichen Umgang gar nicht an, oder sie kehren sie in ihrer Bedeutung und Handhabung gerade zu um: Dummheit stellt sich somit als "Stummheit" dar.

Aufbau und Inhalt

Sie gliedert ihre Arbeit in zwei Teile - Intelligenz und Dummheit / Stummheit - die sie wiederum in 8 Kapitel unterteilt. Sie  setzt sich mit der "Inflation der Intelligenzen" auseinander, die in der Diskussion nicht zuletzt um den "Pisa-Schock" zu teilweise abenteuerlichen "Ratgeber-Konzepten" geführt haben: Linguistische und verbale Intelligenz, logisch-mathematische und numerische Intelligenz, spirituelle und existentielle Intelligenz, intra- und interpersonale, soziale und emotionale Intelligenz, usw. Diesen Trends setzt sie im wissenschaftlichen Diskurs die von H. Gardner schon 1983 entwickelte "Theorie der multiplen Intelligenzen" entgegen, der insgesamt sieben Formen von Intelligenzwahrnehmungen unterscheidet: Sprachliche, logisch-mathematische, musikalische, räumliche, körperlich-kinästhetische, intrapersonale und interpersonale Intelligenz. Für ihre weitere Betrachtung übernimmt sie die Gardnersche Definition: "Eine Intelligenz ist eine Fähigkeit, ein Problem zu lösen oder ein Produkt herzustellen, das in einem oder mehreren kulturellen Kontexten geschätzt wird". Als einen intelligenten Menschen erkennt Ina Rösing also jemand, der unabhängig, aktiv und voller Energie, klug, erfindungsreich und unternehmungslustig ist, aber auch wohlüberlegt, bedacht, besonnen, gewissenhaft und verantwortlich sein Dasein gestaltet, und der zudem ehrlich ist. Zweifelsohne ein Hyper- (hypochrondischer) Mensch.

Besonders in der Auseinandersetzung mit Werten und gesellschaftlichen Normen in anderen Kulturen wird deutlich, dass "Dummheit nicht notwendigerweise das Gegenteil von Intelligenz ist und dass Dummheit nicht unbedingt Ausgrenzung und Abwertung beinhalten muss". Die Autorin plädiert deshalb, unabhängig von psychogenen Formen der Dummheit, dafür, im gesellschaftlichen Umgang "Freiräume der Dummheit" zu ermöglichen. Etwa dadurch, dass im gemeinschaftlichen Bewusstsein sich so etwas etabliert wie das "Menschenrecht auf Irrtum". Indem sie sich auf Josef Erdmann (1875) bezieht, der Dummheit als Enge, Enge des Gesichtskreises, dem Blick auf die Welt durch das Schlüsselloch des eigenen Ichs identifizierte, will sie uns eine Brücke zwischen den Polen Intelligenz und Dummheit bauen zu einer "um eine Prise Dummheit erweiterten Intelligenz". Damit kehrt sie von ihrer Schreibtisch-Analyse und ihren Ausflügen in anderskulturelle Gefilde zurück zu unseren Alltagen: "Denn ist es nicht klug und weise, Eifersucht zu vermeiden, Reibungsverluste einzudämmen, Sicherheit aufrecht zu erhalten, Solidarität herzustellen und gewisse Dummheits-Räume von Lachen, Lieben und Leben gelten zu lassen, wenn Dummheit ohnehin ’untilgbar’ist?"

Fazit

Ina Rösings Denk-Buch lässt uns erkennen, dass "Dummheit" nicht nur abzulehnen, lästig und als auszugrenzende menschliche Eigenschaft im gesellschaftlichen Umgang angesehen werden kann, sondern manchmal auch heiter, spielerisch, unbedarft, arglos, kindhaft und lehrreich ist. Und, das ist ihre Botschaft, das Nachdenken über das, was wir "Dummheit" nennen, auch das nicht selten miese Klima in der Erziehung, der Schule, im Beruf und in der Freizeit zu verändern vermag. So stellt sich das "Menschenrecht auf Dummheit" als ein Weg dar, einen "neuen Menschen" in unserer Einen Welt zu ermöglichen, um die zwischenmenschlichen, lokalen und globalen Beziehungen lebensfördernd zu gestalten (Theo Löbsack). Ina Rösing nennt ihre Studie auch ein Werk-Buch, weil die vielfältigen Quellenmaterialien und Denkanstöße vor allem denjenigen, die als ErzieherInnen, LehrerInnen, Personalchefs und Doktorväter, aber auch Eltern und Nachbarn ständig andere Menschen nach Intelligenz und Dummheit bewerten, Freiräume zum Nach- und Überdenken ihrer eigenen, kulturell überkommenen Einstellungen schaffen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245