Sarah Huch, Martin Lücke (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 22.04.2016
Sarah Huch, Martin Lücke (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule. Konzepte aus Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik. transcript (Bielefeld) 2015. 305 Seiten. ISBN 978-3-8376-2961-3. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 40,10 sFr.
Sachlicher Zugang zum Themenfeld sexuelle und geschlechtliche Vielfalt
Es ist erfreulich, dass neben der aktuell (noch) hitzigen gesellschaftlichen Debatte über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in den Fachdisziplinen und der Praxis auch in Ruhe und bedacht weitergearbeitet wird. So erschienen in der letzten Zeit eine ganze Reihe Bücher im Themenfeld und ist ein nennenswerter Fortgang der Fachdebatten festzustellen, wobei diese zunehmend mit der Praxis (Beratungspraxis und Selbstorganisationen) verschränkt sind. Das ist notwendig, damit auch die Akademie stets nah am Puls der Praxis ist und vielfältige Expertisen sich untereinander bereichern können.
Der von Sarah Huch und Martin Lücke hg. Sammelband „Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule – Konzepte aus Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik“ versammelt Beiträge, die sich a) den theoretischen, gerade auch geschichtlichen, Fragen zu geschlechtlicher und sexueller ‚Norm‘ und Vielfalt zuwenden und b) den Stand und mögliche Fortentwicklungen in einzelnen Unterrichtsfächern vorstellen. Fokussiert wird dabei „Homosexualität“, wobei Anschlussstellen zu geschlechtlicher Identität und intersektionale Verzahnungen in verschiedenen Beiträgen berücksichtigt werden.
Zahlreiche neue Beiträge gehen mit einigen zusammen, die bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden.
Aufbau und Inhalt
Der Band umfasst drei Kapitel.
1. Theoretische Grundlagen
Das erste Kapitel „Theoretische Grundlagen“ umfasst insgesamt fünf Beiträge, verfasst von Martin Lücke, Jutta Hartmann, Hannelore Faulstich-Wieland, Gudrun Perko und Uwe Sielert.
Ausgangspunkt ist ein historischer Zugang, in dem Martin Lücke einen Überblick über die Homosexualitätsforschungen seit der Jahrhundertwende 1900 gibt und insbesondere die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren darstellt und erläutert, wie sie sich in der Pädagogik niederschlagen haben. Lücke problematisiert dabei auch, dass selbst in den 1990er Jahren und heute Homosexuelle in den entsprechenden Schulmaterialien noch als „Andere“ zur Norm behandelt würden. Unhinterfragt bilde in den Materialien Heterosexualität die Basis und würden nur – mehr oder weniger freundlich – auch weitere sexuelle Orientierungen und Beziehungsentwürfe vorgestellt.
Jutta Hartmann erweitert die Perspektive und wendet sich zentral Fragen starrer Identitäten, aber auch möglichen Ambivalenzen zu. Sie entwirft Bildungsprozesse, die Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, anstatt Kinder und Jugendliche in festgesetzte Identitäten zu pressen. Dabei erläutert sie auch die Notwendigkeit intersektionaler Betrachtung und verweist etwa auf die – exzellenten – bei GLADT (Gays and Lesbians aus der Türkei) entstandenen Materialien: „Handreichungen für emanzipatorische Jungenarbeit“ (HeJ-Projekt).
Hannelore Faulstich-Wieland geht von Fragen der Integration und Inklusion behinderter und nicht-behinderter Menschen aus und eröffnet im Weiteren ebenfalls intersektionale Zugänge, wobei sie insbesondere Geschlechterverhältnisse und Rassismus in den Blick nimmt. In Bezug auf „Migrant_innenkinder“ thematisiert sie, dass diese eigentlich im Sinne einer Sprachausbildung einen Glücksfall darstellen könnten, da die sprachlichen Kompetenzen aller Kinder zusammengebracht werden und die Kinder untereinander lernen könnten. Aber statt diese Heterogenität zu nutzen, blieben diese Potenziale von bisheriger Pädagogik unbeachtet: „Die schulische Fremdsprachenförderung hat in der Regel gerade nicht die Migrantensprachen – insbesondere Türkisch, Polnisch, Farsi, Arabisch – als Ziel, sondern Englisch, Französisch und zunehmend Spanisch. Sie bezieht sich oft auf Transfermöglichkeiten zwischen verwandten Sprachen, aber auch damit werden in der Regel die Migrantensprachen nicht erreicht.“ (S. 55) Auf diese Weise würden „Migrant_innen“ auch bezogen auf Sprachkompetenz als defizitär konstruiert; um die sprachliche Heterogenität in der Schule als Ressource zu nutzen, wären Fremdsprachendidaktik und entsprechende Schulung der Lehrenden erforderlich (S. 56; vgl. auch Micek im Band: S. 171).
Die folgenden beiden Beiträge erläutern das Fortbildungskonzept „Social Justice und Diversity“, das seit längerem erfolgreich angeboten wird (Gudrun Perko), sowie die Zugänge von Seiten der Sexualpädagogik zu Heterogenität und Vielfalt (Uwe Sielert).
2. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den Unterrichtsfächern
Die sich im zweiten Kapitel anschließenden Beiträge untersuchen, wie Homosexualität – und im weiteren Verlauf auch geschlechtlicher und sexueller Vielfalt – in einzelnen Unterrichtsfächern thematisiert wird. Dabei wird in Bezug auf Geschichte (Martin Lücke), Politikunterricht (Simone Micek), Biologiedidaktik (Sarah Huch), Physik (Helene Götschel) und Informatik (Florian Cristobal Klenk) der jeweilige Sachstand vorgestellt und werden praktische Handlungsmöglichkeiten für den pädagogischen Umgang aufgezeigt.
In einem weiteren Beitrag arbeitet Petra Josting die Bedeutung von Kinder- und Jugendliteratur für die Thematisierung geschlechtlicher und sexueller Themen im Unterricht heraus.
3. Weitere Praxisfelder
Der Band schließt mit einem dritten Kapitel ab, in dem sich zwei Beiträge „Weiteren Praxisfeldern“ zuwenden:
- Thomas Wilke & Stefan Timmermanns thematisieren in einem sehr guten Überblicksbeitrag sexuell übertragbare Krankheiten und insbesondere HIV;
- Ammo Recla & Cai Schmitz-Weicht zeigen Ansätze queerer Bildungsarbeit auf.
Diskussion
Die Beiträge bieten insgesamt einen guten Überblick; allenfalls einige ergänzende Anmerkungen sind zu treffen: So ist es etwa für die Auseinandersetzung im Fach Geschichte wichtig, welche Inhalte in Bezug auf Homosexualität (und insgesamt zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt) gelehrt werden. In den allgemeinen deutschen geschichtlichen Großerzählungen bzgl. Homosexualität wird oft der Eindruck einer reinen „Opfergeschichte“ in Bezug auf „die Homosexuellen“ vermittelt. Wichtig erscheint es mir hier, die Homosexuellen selbst als aktive Akteur_innen herauszuarbeiten, die wesentlich an der Ausgestaltung des Diskurses über „Homosexualität“ beteiligt waren. Die biologisch-medizinische Konstruktion von „Homosexualität“ mit klaren Identitäten und aufgereihten Schaubildern sowie Diskussionen um das „Angeborensein“ versus „Erworbensein“ sexueller Handlungen wurden mit Beteiligung der „Homosexuellen“ erarbeitet. War ihr Ziel in gewisser Weise Selbstbestimmung – und nicht Verfolgung –, so haben sie dennoch dazu beigetragen, dass gleichgeschlechtliches sexuelles Tun in klare Bahnen gelenkt und die sexuelle Selbstbestimmung der Menschen durch scharfe Identifizierung eingeschränkt wurde. Der reinen „Opfererzählung“ sollte auch an anderen Stellen entgegnet werden und Schüler_innen ein glaubhaftes, differenziertes Bild der „Homosexuellenbewegung“ gezeichnet werden. Dabei muss einerseits die differente Rolle in der Nazi-Diktatur – einmal als Verfolgte, andererseits als Täter_innen – eine Rolle spielen (vgl. zuletzt: Koray Y?lmaz-Günay & Salih Alexander Wolter [2013]: „Pink Washing Germany? Der deutsche Homonationalismus und die ‚jüdische Karte‘“. Auch online: http://salihalexanderwolter.de [Zugriff: 18.4.2016]). Andererseits sollte thematisiert werden, wie in der „Homosexuellenbewegung“ gerade Schwarze [1] Trans*-Aktivist_innen die konkreten Kämpfe beim zentralen Ereignis in der New Yorker Christopher-Street tatsächlich geführt haben – etwa Sylvia Rivera und Marsha P. Johnson -; in den schwulen und lesbischen Organisationen wurden sie aber gemobbt und ihre Kämpfe im Nachhinein enteignet (vgl. Heinz-Jürgen Voß & Salih Alexander Wolter (2013): „Queer und (Anti-)Kapitalismus“. Stuttgart: Schmetterling-Verlag. S. 28ff).
Ausgehend von der nötigen ausdrücklichen Thematisierung der prominenten Position von Personen of Color und aus der Arbeiter_innenklasse in den Kämpfen mit der Polizei etwa in der Christopher-Street und insgesamt gegen rassistische und (hetero-)sexistische Ausgrenzung und Gewalt ist es auch nötig, die Arbeiten von Personen of Color in Betrachtungen zu Intersektionalität zu zitieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wichtige Ausgangspunkte sind hier die Materialien und Veröffentlichungen aus der Schwarzen deutschen Frauenbewegung, allen voran der Band „Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (1986, herausgegeben von Katharina Oguntoye, May Ayim, Dagmar Schultz); ebenso bedeutsam ist, dass Intersektionalität als Analysekonzept in Deutschland von Selbstorganisationen von Personen of Color auf den Weg gebracht wurde – zu nennen sind hier insbesondere: LesMigraS (www.lesmigras.de), GLADT (www.gladt.de) und I-Päd (http://ipaed.blogsport.de/). Sie sind die zentralen Kompetenzträger_innen im Feld und ihre Expertise sollte durch den (weiß dominierten) Beratungs- und Akademiebetrieb nicht „enteignet“ werden. Vielmehr ist es wichtig, von den Expertisen zu lernen, auf die zentralen Kompetenzträger_innen zu verweisen und Personen of Color berufliche Perspektiven im Beratungs- und Akademiebetrieb zu eröffnen. (Bislang ist der Zugang zu Hochschulen für Personen of Color durch Rassismus in Schule und Hochschule steinig, vgl. etwa die Twitter-Debatte unter #CampusRassismus.) In den Beiträgen im Band wird nicht bzw. lediglich ganz am Rande auf die konkreten Arbeiten von Personen of Color verwiesen.
Gerade in dem – ebenfalls lesenswerten – Beitrag zu Biologiedidaktik wäre eine stärkere Öffnung in Richtung geschlechtlicher Vielfalt auch auf Intergeschlechtlichkeit und Trans* wünschenswert gewesen. So bleibt „Homosexualität“ zentral. Für Homosexualität analysiert aber Sarah Huch klar, wie sie in der Biologiedidaktik behandelt wird (nämlich: äußerst randständig) und es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie sie besser thematisiert werden könnte. Dabei ist es auch erhellend, immer wieder auf die Argumentationen von Karla Etschenberg – die zuletzt durch sehr konservative inhaltliche Setzungen auffiel – für die wertschätzende Thematisierung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt hingewiesen zu werden.
Helene Götschel zeigt in ihrem Beitrag im Band einige Zugänge für das Fach Physik auf, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt zu betrachten. Neben der biographischen Einordnung der Physiker_innen, die im Schulunterricht stattfinden könne, macht Götschel die Grundlagen der aktuellen Physik als Anknüpfungspunkte aus: „[P]hysikalische Materie [ist] aktiv, prozesshaft und wandlungsfähig.“ (S. 211) Damit deutet Götschel an, dass die prozesshaften Erkenntnisse der Physik gut zu einem prozesshaften und offenen Verständnis von Geschlecht und Sexualität passen und so im Unterricht behandelt werden können. An Alfred North Whitehead u. a. mit seinem Buch „Wissenschaft und moderne Welt“ könnte angeschlossen werden. Bernhard Gill hat in dem Aufsatz „Über Whitehead und Mead zur Aktor-Netzwerk-Theorie“ (Online: https://epub.ub.uni-muenchen.de/13896/1/gill_13896.pdf) ebenfalls einige Anknüpfungspunkte aufgezeigt, wenn auch mit einer etwas pessimistischen Einstellung bzgl. der Anschlussfähigkeit zu einem populären Alltagsverständnis. Hier darf man optimistischer sein – vgl. für die Verknüpfung in Bezug auf Sexualität: Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß, Salih Alexander Wolter [2016, im Druck]: Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Fazit
Das vorliegende Buch ist ein gelungener Überblick über den aktuellen Stand zu Fragen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in den Erziehungswissenschaften und eignet sich als Einstiegslektüre.
Mit „Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule“ erhält die interessierte Leser_in einen guten und umfassenden Zugang zum Themenfeld. Gleichzeitig werden einige kreative Anschlüsse aufgezeigt, die zum Weiterdenken auffordern. Empfehlenswert!
[1] Schwarz wird definitionsgemäß hier auch in der adjektivischen Form groß geschrieben, da es um eine marginalisierte Position geht, nicht um irgend ein Merkmal, das essentialisiert werden könnte.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 61 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.
Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 22.04.2016 zu:
Sarah Huch, Martin Lücke (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule. Konzepte aus Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik. transcript
(Bielefeld) 2015.
ISBN 978-3-8376-2961-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20765.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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