Michelle Becka: Strafe und Resozialisierung
Rezensiert von Sabine Hollewedde, 09.08.2016

Michelle Becka: Strafe und Resozialisierung. Hinführung zu einer Ethik des Justizvollzugs. Aschendorff Verlag (Münster) 2016. 423 Seiten. ISBN 978-3-402-10642-6. 34,90 EUR.
Thema
Der Justizvollzug steht in einem Spannungsverhältnis zwischen seiner gesetzlich geforderten Aufgabe der Resozialisierung und institutionellen Grenzen sowie gesellschaftlichem Sicherheitsbedürfnis. In dem vorliegenden Buch wird das Ziel der Resozialisierung als Recht der Inhaftierten als Menschen aus ethischer Perspektive verteidigt. Dabei werden sowohl die für den Vollzug charakteristischen Probleme zur Erreichung dieses Ziels ausgemacht als auch durch einen sozialphilosophischen Blick gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen problematisiert. Zu fragen, „wie die Institution Justizvollzug ihrem Ziel der Resozialisierung angesichts der vielen Einschränkungen, die mit dem Strafen einhergehen, gerecht werden kann“ (S. 15), steht im Zentrum des Buches. Dabei wird zugleich das Ziel der Resozialisierung aus ethischer Perspektive – und ausdrücklich nicht soziologisch-funktionalistisch – begründet und damit „ein Beitrag zur christlichen Sozialethik“ (S. 16) geleistet. ‚Resozialisierung‘ wird im Kern als „Befähigung zu sozialer Freiheit“ (ebd.) verstanden, wobei die Autorin auf „kritische[r] Gesellschaftsethik“ aufbaut und Ansätze der „Frankfurter Kritischen Theorie (der drei Generationen)“ mit „Impulse[n] aus dem Poststrukturalismus“ verbindet. (S. 15 f.) „Sozialethisch wurde eine Institutionenkritik skizziert, die zugleich gesellschaftskritisch begründet, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, damit Resozialisierung als Verwirklichung sozialer Freiheit möglich wird.“ (S. 373)
Aufbau
In vier Hauptkapiteln führt die Autorin hin zu einer Ethik des Justizvollzugs.
Zu Kapitel 1
Im 1. Kapitel „Ethik und Recht und die Frage des Strafens“ wird ausgehend von einer begrifflichen Bestimmung des Verhältnisses von Recht, Moral und Ethik zu Straftheorien geleitet, wobei bereits der sozialethische Blickwinkel deutlich wird, der in klassischen philosophischen Theorien wie auch in neueren kriminologischen und sozialphilosophischen Ansätzen fundiert wird. So wird aus der Idee der Menschenwürde sowohl das sozialstaatliche Ziel der Resozialisierung begründet als auch „die Achtung der Autonomie des Inhaftierten.“ (S. 79) Damit ist bereits das Spannungsfeld angesprochen, welches nun in den behandelten strafrechtlichen Theorien thematisch wird. Es werden Vergeltungstheorien und relative Straftheorien diskutiert, welche sich in ‚Vereinigungstheorien‘ zusammenfügen ließen, die tendenziell „die Stärken beider Strafrechtstraditionen aufzunehmen und die Schwächen auszugleichen“ suchen (S. 101). Dabei könne aber nicht stehengeblieben werden, weshalb aktuelle Diskussionen um Prävention vs. Sicherheit aufgenommen werden. Damit wird die Frage nach der Funktion des Staates für die Gesellschaft und für die Individuen angesprochen und dies in den Kontext gestellt, „wie sich Strafe rechtfertigen lässt“ (S. 123).
Die Bedeutung rechtsstaatlicher Prinzipien als Garanten der Freiheit der Individuen wird hervorgehoben, zugleich die Gefahren staatlicher Machtausübung als Einschränkung individueller Rechte aufgezeigt. „Der Schutz des Strafrechts, und deshalb ist die ethische Reflexion darüber an dieser Stelle so bedeutsam, trägt dazu bei, dass Strafe legitimierbar bleibt, weil das Stafrecht die Freiheit als Rechtsgrundlage aller Bürgerinnen und Bürger verteidigt.“ (S. 123) Die Frage nach dem ‚richtigen Strafen‘ wird also nun gestellt, nachdem die Diskussion um die Legitimität von (staatlicher) Strafe aufgegriffen wurde. Hier bleiben gleichwohl theoretische Probleme offen, welche die Autorin hervorhebt: „Strafe erwies sich im Durchgang durch die verschiedenen Theorien nur schwer als hinreichend begründbar. Der Zweck von Strafe ist begründbar, so konnte deutlich gemacht werden: Dem Täter wird seine Tat vor Augen gehalten, wodurch kenntlich gemacht wird, dass er ein Unrecht begangen hat […] und dass er somit auch gegen die normative Ordnung der Gesellschaft verstoßen hat.“ (S. 126)
In der Begründung der Strafe durch Normverletzung stellt sich allerdings die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass nicht die Norm um der Norm willen sanktioiert wird, „sondern dass die Systemfunktionalität und die normative Ordnung selbst aufmerksam und kritisch betrachtet werden“ (ebd.). Und deutlich formliert die Autorin den hierin enthaltenen moralischen Anspruch: „Dass Normgeltung für das Bestehen einer Gesellschaft notwendig ist, rechtfertigt nicht, dass der Normverletzer zum Zweck des Normerhalts instrumentalisiert wird.“ (ebd.) Damit wird zugleich methodisch begründet, warum diese Frage nicht durch eine positivistische Auffassung von Norm und Kriminalität beantwortet werden kann, sondern einer sozialphilosophischen und ethischen Perspektive bedarf. Diese Fragen sind im Folgenden im Hinterkopf zu behalten, wenngleich es der Autorin nicht um die Diskussion der Legitimität von Strafe und der des staatlichen Gewaltmonopols geht. „Es muss stattdessen darum gehen, wie ‚bei unangefochtener Geltung oder Dominanz des Rechts […] belastende Sanktionen im Inhalt reduziert oder modifiziert werden können, damit die Normreglung erhalten bleibt und die Erwartungen gesichert bleiben.‘“ (S. 128, zit. H.-J. Albrecht)
Zu Kapitel 2
Damit wendet sich die Autorin dem Justizvollzug als Ort von Strafe zu und eröffnet in diesem Kontext Probleme bei der Realisierung des Ziels der Resozialisierung. Im 2. Kapitel „Die Institution Justizvollzug und das Vollzugsziel der Resozialisierung“ wird zunächst die Institution des Justizvollzugs analysiert, wobei auch darauf reflektiert wird, dass die Haftrate nicht die tatsächliche gesellschaftliche Kriminalitätsentwicklung spiegelt, sondern von vielen Faktoren, u. a. politischen Entwicklungen und Stimmungen in der Gesellschaft abhänge. (vgl. S. 134) Die Rolle der Medien für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Kriminalität wird kritisch aufgegriffen und so gezeigt, dass das Bild von Kriminalität und Straftätern in einer Gesellschaft sehr wandelbar ist.
Das Gefängnis wird in Anschluss an Goffman als „totale Institution“ charakterisiert; „sie ist ein Drittes neben Institution und Organisation“ (S. 141) und zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass „alle Lebensvollzüge […] auf diesen Raum reduziert“ sind. (S. 144) Bürokratisch durchorganisiert herrschen für die Insassen räumliche und zeitliche Beschränkungen, was für die Inhaftierten zunächst (offensichtlich) eine Einschränkung der Autonomie bedeutet, welche inhaltlich noch zu bestimmendes Ziel von Resozialisation ist. Auch in dieser Situation aber handeln und reagieren die Menschen und es werden Strategien und Verhältnisse zwischen Wärtern und Inhaftierten vorgestellt. „Wenn aber das Gefängnis als totale Institution strukturell Individualität ausschaltet, wird die Frage drängend, wie der Inhaftierte unter diesen Umständen Subjekt sein und ein Leben in Freiheit – in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten – einüben kann.“ (S. 168) Für den Zweck der Resozialisation in die gegebene Gesellschaft stellt sich somit dennoch die Frage, „ob der Freiheitsentzug eine sinnvolle und erfolgreiche Sanktionsform ist.“ (S. 169) Es muss die gesellschaftliche Funktion des Gefängnisses mitgedacht und hinterfragt werden, wenn es um das Ziel der individuellen Resozialisation geht. Wenn zwar deutlich wird, dass „Resozialisierung als Konzept sinnlos wird“ (S. 178), wenn nicht von den betroffenen Menschen ausgegangen wird, so lässt sich Resozialisierung auch nicht als individuelle, sondern als gesellschaftliche Herausforderung begreifen. Im Anschluss an Fritz Sack wird der Zusammenhang von Armut und Kriminalität angesprochen, jedoch festgehalten, dass die deutschen Justizvollzugsanstalten „sich nicht als ein Instrument der Verwaltung gesellschaftlicher Armut verstehen“ lassen (S. 179), wie es verstärkt in Amerika der Fall sei, allerdings sehr wohl „ein Stück weit der Verdrängung“ dienten (S. 180).
Das Prinzip der Resozialisierung wird von Becka im Weiteren grundgesetzlich abgeleitet und verteidigt. Der „Schutz der Würde“ als „Verpflichtung staatlicher Gewalt“ begründe das Vollzugsziel Resozialisierung. Zudem sei es als ein Sozialstaatsprinzip zu begreifen, wobei die Autorin auf einen Konflikt zwischen Rechts- und Sozialstaat aufmerksam macht, welcher auch in einer Entgegensetzung von Sicherheits- und Resozialisierungsbestreben deutlich wird. Nicht eindeutig rechtlich beantwortet ist „die Frage nach dem Verhältnis von Schutz der Allgemeinheit und Resozialisierung“ (S. 193), wobei Resozialisierung eindeutig gesetzlich als Vollzugsziel festgehalten sei. Dieses Ziel soll nun moralisch begründet werden. Die Autorin schließt an Kohlbergs Typen von Gefängnisgerechtigkeit an und zeigt damit Probleme und Chancen einer moralischen Entwicklung im Vollzug auf. Im „Vollzugsziel liegt ein moralischer Anspruch, weil der Inhaftierte zu einem Leben in sozialer Verantwortunng und ohne Straftaten befähigt werden soll.“ (S. 207) Es geht vor allem darum, dass ‚richtiges Handeln‘ gelernt wird, was mit dem Begriff der sozialen Freiheit verbunden wird, welche den Inhaftierten ermöglicht werden soll.
Zu Kapitel 3
Im 3. Kapitel „Ethikkomitees als Baustein einer Ethik im Justizvollzug“ wird die Bedeutung von Ethik im Justizvollzug betont und in solchen Komitees ein Ort zur Reflexion ethischer Probleme, die im Gefängnisalltag auftreten, gesehen. Das Gefängnis als ‚totale Institution‘ erschwert strukturell die Erreichung des Vollzugsziels: Menschen auf ein Leben in sozialer Freiheit, d.h. Verantwortung vorzubereiten. „Das Ethikkomitee im Justizvollzug […] kann ein Instrument sein, um eben jene Situationen aufzuspüren.“ (S. 262) So sollen diese Komitees einen Beitrag dazu leisten können, die Autonomie der Gefangenen zu wahren und unnötige Einschränkungen ihrer sozialen Freiheit aufzuheben.
Zu Kapitel 4
Im letzten und ausführlichsten Teil des Buches – 4. Kapitel „Ethik des Justizvollzugs“ - werden das Subjekt und die Rahmenbedingungen sozialer Freiheit diskutiert. „Die Ermöglichung dieser Fähigkeit bzw. die Realisierung von Freiheit weisen aber über den Justizvollzug hinaus, weil sie Rahmenbedingungen erfordern, die durch Recht und Gesellschaft bereitgestellt werden müssen.“ (S. 266) Im Anschluss an Foucaults und Butlers Subjektanalyse wird der Inhaftierte als „moralisches Subjekt [verstanden; S.H.]: als handelndes und verantwortliches und als gemachtes und unterworfenes Subjekt. Damit geht die vorliegende Untersuchung über Foucault und Butler hinaus.“ (S. 267) Die Autorin macht deutlich, dass kein ‚ursprüngliches‘ Subjekt angenommen werden kann, sondern sich von einem Subjekt nur in seiner gesellschaftlichen Konstituierung reden lässt. Wie die Bildung von Subjekten nur innerhalb gesellschaftlicher Abhängigkeiten stattfinden kann, seien auch „Macht und Freiheit […] untrennbar verbunden.“ (S. 283) „Da Handeln Freiheit voraussetzt, ist Freiheit ein notwendiger Bestandteil von Machtbeziehungen.“ (ebd.) So wird im Rückgriff auf Judith Butlers Theorie des Subjekts festgehalten, dass die „Macht, die Subjekte unterwirft und von der sie sich nicht lösen können, […] zugleich die Handlungsmacht dieser Subjekte“ konstituiert. (S. 288) Als „radikal bedingte“ befinden sich die Subjekte immer schon in einem Machtgefüge und werden nur in einem solchen zu gesellschaftlichen, handelnden und freien Subjekten. Es kann daher keine einfache Lösung des Problems der Autonomie geben, da die Subjekte nur innerhalb der Verstrickung in verschiedene Machtkonstellationen ihre soziale Freiheit gestalten können. „Die Verletzlichkeit und die gegenseitige Verwiesenheit aller können daher, gewendet in die Sphäre normativer Ethik, als Grundlage von Solidarität verstanden werden. Autonomie verwirklicht sich als Solidarität, die die Würde das Wohl des und der anderen unbedingt will.“ (S. 296) Dieser Autonomiebegriff müsse ebenso auf den Inhaftierten angewendet werden, welcher im Gefängnis zwar Beziehungen mit einem starken Machtgefälle ausgesetzt sei, welche aber gleichwohl nicht zu Herrschaftsverhältnissen führen müssten und so zu sozialer Freiheit befähigen könnten. „Wenn es dem in diesem Sinne autonomen Subjekt gelingt, mit seiner radikalen Bedingtheit umzugehen, dann kann das als Souveränität bezeichnet werden.“ (S. 310)
Unter Bezug auf Honneths Konzept sozialer Freiheit wird im Folgenden an der Realisierung von Freiheit im Gefängnis festgehalten, wobei auch spezifische Probleme der Subjekte „unter den Bedingungen des Strafvollzugs“ diskutiert werden. „Die Förderung von Selbstachtung und Nichtdemütigung ist auch im Justizvollzug unhintergehbar“. (S. 337)
Zur genaueren Bestimmung der Selbstachtung und damit zu ihrer Realisierung im Gefängnis sei wiederum der Annerkennungsbegriff von Axel Honneth zielführend, wonach „die jeweils erfahrene Anerkennung […] jeweils zur Konstituierung der Subjekte dieser Gesellschaft“ beiträgt. (S. 339) Die Institution Justizvollzug müsse diese Möglichkeiten der Erfahrung von Anerkennung bereitstellen und damit die Inhaftierten zu einem Leben in sozialer Verantwortung befähigen. Abschließend wird der bereits zugrunde gelegte Zusammenhang von sozialer Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe betont, was eine Kombination von Verteilungs- und Beteiligungsgerechtigkeit notwendig mache: „Freiheit, und insbesondere die hier vertretene soziale Freiheit, ist gerade keine Alternative zur Gerechtigkeit, sondern ohne soziale Gerechtigkeit ist die Realisierung von Freiheit gar nicht möglich.“ (S. 369) Die Anforderungen an den Justizvollzug, das Ziel der Resozialisierung zu ermöglichen, mündet also in der Forderung nach sozialer Freiheit und Gerechtigkeit auch und gerade im Justizvollzug. Dieser kann aber nicht isoliert betrachtet werden, was in dem Buch deutlich wird, sondern verweist auf gesellschaftliche Strukturen, in welchen die Subjekte handeln. Resozialisierung wird somit als „eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft“ herausgestellt. (S. 371) „Eine Gesellschaftsordnung aber, die Ressourcen, Teilhabe und Chancen gerechter verteilt, würde dazu beitragen, die Gründe für die Entstehung von Kriminalität zu reduzieren, statt Unsicherheit, Angst und Kriminalität zu produzieren.“ (S. 370)
Diskussion
Resozialisierung ist das erklärte Ziel des Justizvollzugs. An diesem Ziel festzuhalten und es nicht bloß ökonomisch, sondern ethisch zu begründen sowie praktische Möglichkeiten seiner Realisierung aufzuzeigen, ist Anliegen dieses Buches. Dabei geht es der Autorin um die Bildung der inhaftierten Personen zu autonomen, in sozialer Freiheit lebenden Subjekten. „Resozialisierung ist die spezifische Form der Anerkennung des und der Unterstützung zum Subjektsein unter Bedingungen des Vollzugs.“ (S. 129) In Rückgriff auf poststrukturalistische Theorien (Foucault, Butler) und die Anerkennungstheorie Honneths sowie des Capability-Ansatzes entwickelt Becka ihr Konzept einer Befähigung der Inhaftierten, bereits und auch als Gefangene soziale Freiheit zu leben. In wechselseitiger Anerkennung und Achtung der unhintergehbaren Würde jedes Menschen sei durch das Bewusstsein der je eigenen Verletzbarkeit und Bedürftigkeit ein Bewusstsein sozialer Verantwortung zu fördern, das zentral für die Entwicklung eines autonomen, stets ‚radikal bedingten‘ Subjekts sei. Becka verweist darauf, dass Resozialisierung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen werden muss, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen und sich Freiheit/Autonomie eben nur als soziale Freiheit verwirklichen lasse (womit sie Kants Autonomie-Begriff mit Honneth sozialphilosophisch erweitern möchte). Dieser Begriff sozialer Freiheit in seiner Fundierung durch ‚Anerkennung‘ eröffnet allerdings Anschlussfragen, die im Rahmen des Buches sicher nicht zu behandeln waren, sich aber dennoch bei der Lektüre auftun.
Subjektivität und der traditionell damit verknüpfte Begriff der Freiheit des Individuums können nicht ahistorisch und nicht außerhalb des sozialen Kontextes begriffen werden, in dem sie stehen. Mit dem Verweis auf die ‚radikale Bedingtheit‘ des Subjekts betont Becka dies und schließt mit ihrer Konzeption sozialer Freiheit daran an. Dieser Begriff allerdings könnte seinerseits kritisch hinterfragt werden. Wie ist die Gestalt dieser Freiheit, die sich eben nicht bloß intersubjektiv, sondern gesellschaftlich und historisch herausbildet, zu bestimmen? „Die Verletzlichkeit und die gegenseitige Verwiesenheit aller können daher, gewendet in die Sphäre normativer Ethik, als Grundlage von Solidarität verstanden werden.“ (S. 296) Gerade in der Situation des Justizvollzugs aber treten sich nicht zwei Individuen gegenüber, sondern delinquente Individuen (und Gruppen) und Vertreter der Staatsmacht – wodurch gegenseitige Verwiesenheit und Verletzlichkeit asymmetrisch ausfallen dürften und sich die die Frage der Anerkennung nicht bloß intersubjektiv stellt. Identität wird hier nicht mit Butler primär durch die Beziehung von Individuum zu Inidviduum hergestellt, sondern mittels Internalisierung gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen. „Die Verwiesenheit auf den Anderen bestimmt – für Butler, und ich schließe mich ihr an – die Identität.“ (S. 295) Dieser Andere aber tritt dem Inhaftierten eben nicht als andere Person gegenüber, sondern als Vertreter der Staatsmacht, als feindlich, worauf Becka verweist, wenn sie die Sonderstellung der Seelsorger hervorhebt, die eben nicht der ‚totalen Institution‘ angehören, wodurch die Inhaftierten auf sie anders reagieren als auf Wärter und andere Repräsentanten des Vollzugs. Gleichwohl – und dies zeigt Becka ebenfalls auf – kann nicht von den Bedingungen eines Machtgefälles einfach abstrahiert werden.
Ein abstrakter Subjektbegriff ist sicherlich nicht hinreichend, um das Ziel der Resozialisierung zu fassen, und er muss mit Material, mit sozialen und historischen Inhalten gefüllt werden, weshalb sich Michelle Becka um die Erweiterung durch den Begriff der sozialen Freiheit, welcher soziale Verantwortung umfasst, bemüht. Dennoch stellt sich aber die Frage, inwieweit der Begriff eines autonomen Subjekts gesellschaftlichen Strukturen angepasst werden kann (und sollte), ohne seinen kritischen Gehalt zu verlieren. Der Begriff der Würde (GG, §1) ist ebenfalls für sich genommen abstrakt und bedarf der materialen, sozialhistorischen Füllung. Die Frage, die bereits mit Kant ein Problem darstellt, ist, ob Autonomie und Würde nicht in einem unversöhnbaren Widerspruch zum Freiheitsentzug stehen. Wird nun durch den Begriff ‚soziale Freiheit‘ der Begriff der Autonomie ersetzt, so lässt er sich nicht mehr in Widerspruch zu gesellschaftlichen Strukturen denken und verliert damit seine kritische Essenz.
Über diese Arbeit hinausweisend wäre eine gesellschaftstheoretische Grundlage zum Problem der Resozialisation interessant, welche auch zu bestimmen hätte, wie und zu welchem Zweck ‚re-sozialisiert‘ und integriert wird. Das Buch stützt sich leider nicht wie anfangs angekündigt auf Vertreter der Kritischen Theorie (s.o.), wodurch dieser Frage sicher eingehender hätte nachgegangen werden und der analytische Blick des Lesers hätte geschärft und auf grundlegende gesellschaftliche Strukturen hätte gelenkt werden können, welche Kriminalität und Gefängnis produzieren. Nicht nur wäre dabei an den in der Kritischen Theorie kritisch verwendeten Begriff der Integration zu erinnern, welcher auf die sich in den Subjekten reproduzierenden Widersprüche, auf ihr Nicht-Aufgehen in der Ordnung, der sie dennoch strukturell untergeordnet sind, verweist.
Zwar spricht die Autorin die gesellschaftliche Funktion des Gefängnisses an (S. 178 ff.) und kommt mit Foucault darauf zu sprechen, dass sich Subjekte in einem Machtgefüge konstituieren, doch wird der Justizvollzug dann als Ort der Integration in die Gesellschaft betrachtet, ohne dass sein prinzipiell herrschaftlicher Charakter herausgestellt würde. Im Anschluss an Rusche (bereits 1933) kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass Justizvollzug als eine Form des Regierens der unteren sozialen Schichten gesehen werden kann, welche in der Hauptsache kriminalisiert werden. Für Rusche führte diese Regierungsfunktion des Gefängnisses dazu, „daß alle Bemühungen um die Reform der Behandlung der Verbrecher ihre Grenze finden an der Lage der untersten sozial bedeutsamen proletarischen Schicht, die die Gesellschaft von kriminellen Handlungen abhalten will. Alle darüber hinausgehenden, noch so human gemeinten Reformen sind notwendig zu einem bloßen Scheindasein verurteilt.“ Wie auch Becka betont, muss das Gefängnis, wenn auch ‚totale Institution‘, in seiner gesellschaftlichen Verortung und der Inhaftierte als soziale Person betrachtet werden. Gesellschaftliche Probleme, Armut und soziale Ungleichheit stellen sich so auch als Probleme im Justizvollzug ein. Daran anknüpfend und aktualisierend wäre auch auf den Zusammenhang von neoliberaler Entwicklung, Abbau sozialer Leistungen und einer repressiveren Kriminalpolitik zu reflektieren, was z.B. von Wacquant untersucht wurde. Hier ließe sich – gesellschaftstheoretisch einbettend – an Problemen der Ethik im Justizvollzug die eben auch ökonomische und die gesellschaftlichen Machtstrukturen stabilisierende Funktion des Justizvollzug analysieren, was Fragen auch in Bezug auf den Begriff der „sozialen Freiheit“ aufwirft, welchen Becka im Anschluss an Honneth als Ziel von Resozialisation benennt. In ihrem eindrücklichen Plädoyer für gesellschaftliche Übernahme von Verantwortung für Resozialisierung „blieb die Frage unbeantwortet, welche Inhaftierungen sich vermeiden ließen, wenn jene Unterstützungsleistungen frühzeitig ansetzten, um Straffälligkeit zu vermeiden.“ (S. 374) Die moralische und ethische Herangehensweise der Autorin bietet gleichwohl Reflexionen auf die Praxis des Justizvollzugs, die in einer christlich-humanistischen Tradition zu verorten sind und ihren Stellenwert in der Diskussion vor allem angesichts eines steigenden Sicherheitsbedürfnisses und zunehmender Unsicherheit in der Bevölkerung haben.
Fazit
Michelle Becka plädiert für einen auf Resozialisierung ausgerichteten Justizvollzug und argumentiert dabei interdisziplinär. Soziologische, sozialphilosophische und rechtswissenschaftliche Theorien und Traditionen werden in diesem Kontext aufgegriffen und diskutiert. Dabei wird das Subjekt der Resozialisierung stets in den Mittelpunkt gerückt und es wird die unhintergehbare moralische Erkenntnis festgehalten und auf dieses spezielle Gebiet hin ausgedeutet, dass kein Mensch und dies unter keinen Umständen als bloßes Mittel zu einem ihm äußerlichen Zweck behandelt werden soll. Dieses Postulat gerade auch auf das Feld des Justizvollzugs anzuwenden – und an der Bedeutung dieser das Subjekt hervorhebenden Position festzuhalten –, ist Ziel und Verdienst dieses Buches. Es stellt damit einen für die Diskussion um den Strafvollzug und darüber hinausgehend auch um kriminalsoziologische Probleme wichtigen Beitrag dar, wobei zugleich die Notwendigkeit einer (sozial-)philosophischen Reflexion auf gesellschaftliche Probleme deutlich wird.
Rezension von
Sabine Hollewedde
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