Timo Storck: Psychoanalyse und Psychosomatik
Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 15.02.2018

Timo Storck: Psychoanalyse und Psychosomatik. Die leiblichen Grundlagen der Psychodynamik.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2016.
252 Seiten.
ISBN 978-3-17-024838-0.
D: 29,00 EUR,
A: 29,80 EUR,
CH: 33,30 sFr.
Psychoanalyse im 21. Jahrhundert .
Thema und Zielgruppe
Das Buch ist Teil der Reihe: Psychoanalyse im 21. Jahrhundert – Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen (Hrg.: Benecke, C; Gast, L; Leuzinger-Bohleber, M & Mertens, W). Diese Buchreihe stellt grundlegende Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dar und wendet sich sowohl an psychotherapeutische PraktikerInnen als auch an sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte LeserInnen.
In dem vorliegenden – allerdings nicht immer ganz leicht verständlichen – Band geht es um einen differenzierten Begriff von Leiblichkeit, der die Grundlage bildet, das Verhältnis von Psyche und Soma in der Psychoanalyse zu beleuchten und im Kontext erschwerter Bewältigung von Nähe und Distanz in Beziehungen zu vertiefen. Weiterhin werden diagnostische Überlegungen und Behandlungstechniken/ Behandlungssettings dargestellt und ausgewählte gesellschaftliche Rahmenbedingungen reflektiert.
Autor
Timo Storck ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin und Psychologischer Psychotherapeut.
Aufbau
Die Kapitel beginnen jeweils mit einer Einführung und Lernzielen; sie enthalten am Ende eine Zusammenfassung sowie Literaturempfehlungen und Fragen zum weiteren Nachdenken und Vertiefen. Eingestreut sind grau unterlegte „Boxen“ mit Erläuterungen grundlegender Konzepte und Fallvignetten. Das Literaturverzeichnis ist sehr umfangreich.
- Nach der Einleitung „Freud und Leib liegen nah beieinander“ beginnt das Buch mit philosophischen Überlegungen zur Leiblichkeit, die besonders die Bedeutung phaenomenologischer Anschlüsse der Psychoanalyse hervorheben.
- Das 3. Kapitel gibt einen kritischen Überblick über (historische) Konzepte der psychoanalytischen Psychosomatik, um dann im 4. Kapitel zu gegenwärtig leitenden Ansätzen zu kommen.
- Im 5. und 6. Kapitel werden zunächst diagnostische Fragen thematisiert, um dann in knapper Form auf die Behandlung und ihre Settings einzugehen. Hierbei wird besonders die tagesklinische Behandlung in den Blick genommen.
- Das 7. Kapitel widmet sich der Psychosomatik im gesellschaftlichen Kontext und einigen Genderaspekten, das 8.Kapitel ausgewählten Forschungsergebnissen.
- Das Fazit ist mit „Psychoanalyse als Leibesertüchtigung“ überschrieben.
Inhalt
Fußend auf Plessners Unterscheidung zwischen „Leib sein“ und „Körper haben“ bietet der unaufhebbare Doppelaspekt des Leib-Seele Verhältnisses den Ausgangspunkt. Dieser wird besonders in der phaenomenologischen Betrachtung deutlich: Durch den Leib nehmen wir eine erfahrende Beziehung zur Welt, zum Nicht-Eigenen und zum seinerseits leiblich verfassten Gegenüber auf. Und zugleich trägt der Leib dieses Fremde bereits notwendigerweise in sich. „Wo“ ist Berührung verortet? An der berührenden oder an der berührten Hand?
Die zahlreichen im 3. und 4. Kapitel dieses Buches thematisierten psychoanalytischen Konzepte und ihre historische Entwicklung seit Siegmund Freud können hier nur in einer Auswahl wiedergegeben werden:
Freud unterschied zwischen Psycho- und Aktualneurosen, letztere (zu denen heute u.a. somatoforme Störungen zählen würden) seien eher auf gestaute Libido zurückzuführen. Sie ließen eine Übertragung ausbleiben und stellten einen Besetzungsentzug von der Umwelt zugunsten des Körpers dar und seien demzufolge nur bedingt analytisch behandelbar. In der Weiterentwicklung prägte Fenichel das Konzept der Organneurose und unterschied 4 Klassen:
- Affektäquivalente
- Ergebnisse von chemischen Prozessen innerhalb unbefriedigter Personen, die sich im Zustand der Libidostauung befinden und unbewusste Affekte ausdrücken
- Physische Ergebnisse unbewusster Einstellungen oder Verhaltensweisen
- Kombinationen der drei Arten
Bei den Affektäquivalenten wird das psychosomatische Geschehen um die psychische, d.h. die Erlebnisqualität verkürzt. Dies führt zum Alexithymiekonzept, bei dem sich Affekterleben und Affektausdruck in deutlich reduzierter Weise vorfinden.
In der Pariser Schule der Psychosomatik wird ein Denken und Sprechen herausgearbeitet, das sich entlang des Faktischen und/ oder Gegenwärtigen statt des Libidinösen und Beziehungshaften strukturiert und so vom Objekt und von der Fantasietätigkeit abgetrennt wird. So geht es bei der psychosomatischen Dynamik und der hierauf fußenden Behandlung weniger um ein Entschlüsseln symbolhafter Bedeutungen, sondern vielmehr um eine Unfähigkeit des psychosomatisch Erkrankten zur Symbolisierung überhaupt.
Im weiteren Verlauf werden Bezüge zur frühen Mutter-Kind-Beziehung hergestellt: Die Mutter besetze ihr Kind unbewusst als ihr eigenes. So entstehen symbiotische Beziehungen mit fehlendem Identitätsgefühl und mangelnder Autonomie. Kutter spricht sogar von einem frühen „Kampf um den Körper“ des Kindes mit der Mutter, deren Beziehung intrusiv und überwiegend unlustbetont sei.
Der Körper nimmt im psychosomatischen Leiden laut Hirsch
- introjektiv traumatische Objekterfahrungen auf,
- ersetzt übergangsobjektartig das mütterliche Objekt samt aller Idealisierungen und aggressiver Attacken und
- dient der Errichtung von Grenzen gegenüber zu intrusiv erlebten Objekten.
So wird der Körper zum Schauplatz einer schwer aushaltbaren Ambivalenz von Loslösungsimpulsen und -ängsten. Symptome dienen laut Küchenhoff dem Zweck, das Selbst vor einer Vereinnahmung durch den anderen zu schützen, es wird eine Leere errichtet als Schutz gegen die Wiederkehr der intrusiven, Grenzen nicht achtenden Objektbeziehungen. Die symbolische Angeschlossenheit des Leibes wird durch derartige Abwehrformen radikal zerstört. Der Bezug zum personalen Anderen wird unbewusst auf ein Entweder-Oder aus Isolation und Verschmolzensein reduziert. Psychosomatische Erkrankungen erscheinen so als Diskonnexion von Leib und Seele, als Grenz-Schutz seitens des Selbst gepaart mit Beziehungs-, Besetzungs- und Bedeutungslosigkeit.
Lombardi beschreibt psychosomatische Erkrankungen als mangelnde Entfaltung des Körpers, bei der etwas von der Durchformung des Psychischen durch das Leibliche zum Stillstand gekommen ist.
Im weiteren Verlauf des Buches macht der Autor deutlich, wie eine zugrunde liegende Belastung im Umgang mit Trennung und Getrenntheit in eine problematische Form der Bildung von Repräsentanzen und Symbolisierung führt, für die es verschiedene Unterformen gibt: Somatoforme und funktionelle Störungen, hypochondrische Verarbeitung und psychisch mitbedingte Organläsionen.
Im Kapitel zur Diagnostik und Klassifikation werden neben kurzen Ausführungen zur körperlichen Gegenübertragung zahlreiche Fragebögen und Interviewleitfäden aufgezählt und Bezüge zu DSM V und ICD 10 hergestellt.
- Hierbei bringt der Autor die Somatisierungsstörung und die somatoforme Funktionsstörung u.a. mit Angstkorrelaten in Verbindung: Angst vor Objektverlust, Objektvereinnahmung oder eigenen zerstörerischen Impulsen und Projektionen. Es herrsche ein Zuviel an Erregung bei gleichzeitigem Mangel an Containment.
- Die somatoforme Schmerzstörung wird mit autoaggressiven Grundeinstellungen, unbewussten Schuldgefühlen und in Trennungen begründetem Schmerz in Zusammenhang gebracht.
- Bei den eigentlichen Psychosomatosen (in der Regel begleitet von organischen Veränderungen) bleibt unklar, ob die Organwahl mit umschriebenen Konflikt- oder Persönlichkeitstypen in Verbindung gebracht werden kann. Hier werden auch genetische und somatische Einflüsse ins Spiel gebracht. Was herausgearbeitet wird, ist eine basale Verunsicherung angesichts von Trennung und Bezogenheit.
- Bezüglich der Hypochondrie gibt es unterschiedliche Konzeptionalisierungen. Storck sieht als verbindendes Element die Rolle eines internalisierten, ambivalent besetzten frühen Objektes, allerdings sei die Verbindung zwischen personalem und Körperobjekt konturierter als bei somatoformen Störungen. Ein Teil des Körpers sei mit dem hilflosen, versorgungsbedürftigen Selbstanteil des Patienten identifiziert. Auslösende Faktoren für hypochondrische Störungen seien oft Schwellensituationen und Entwicklungsaufgaben.
Das Behandlungskapitel ist sehr kurz gefasst. Der Autor betont die Bedeutung interdisziplinärer Arbeit und des Teams als Behandlungssubjekt im stationären und teilstationären Setting. Auf die Behandlungssettings nimmt der Autor im späteren Forschungskapitel erneut Bezug. Bei der Tagesklinischen Behandlung seien beispielsweise Ankommen und Weggehen zentrale Punkte, die mit den zentralen Ängsten um Trennung, Verschmelzung und Isolation in Beziehung stünden.
Im Kapitel der gesellschaftlichen Aspekte wird die verzerrte Interaktionspraxis in frühen Beziehungen als gesellschaftlich hergestellt hervorgehoben, des Weiteren werden entsubjektivierte Sprache und soziale Überangepasstheit kurz angeschnitten, um dann auf geschlechtsspezifische Fragen der Psychosomatik in Verbindung mit der frühen Triangulierung einzugehen.
Diskussion
Besonders ausführlich wird die historische Entwicklung psychoanalytischer Ursachenmodelle somatoformer Störungen, hypochondrischer Symptomatiken und psychosomatischer Erkrankungen dargestellt. Hierbei werden Bezüge zur psychiatrischen Klassifikation und zur kognitiven Verarbeitung von Emotionen hergestellt. Leider fehlen völlig die Bezüge zur empirischen Säuglingsforschung und zu videobasierten Beobachtungen früher Mutter-Kind-Beziehungen. Der Autor thematisiert mögliche Fehldiagnosen bei als somatoforme Störungen eingeordneten Krankheiten ebenso wenig wie neuere Erkenntnisse, die den Stellenwert psychogener Faktoren gegenüber biologischen Aspekten bei einigen klassischen Psychosomatosen verschieben, wie beispielsweise die Entdeckung des Einflusses von Helicobacter Pylori bei der Entstehung des Magenulcus. Die Fallgeschichten sind nur in Bezug auf einige Detailaspekte ergiebig, die psychoanalytische Behandlung bleibt in der Darstellung eher oberflächlich.
Fazit
Es handelt sich um eine detaillierte und dichte Darstellung psychoanalytischer Konzepte zur Beziehung von Psyche und Soma und zur Entstehung somatoformer, hypochondrischer und psychosomatischer Störungen: Im Zuge intrusiver früher Objektbeziehungen könne der Körper zum Schauplatz einer schwer aushaltbaren Ambivalenz von Loslösungsimpulsen und -ängsten werden, es resultiere eine Spaltung zwischen Psyche und Soma, sodass der gleichsam entleiblichte Körper sich nur noch als kranker Körper melde. Die Behandlung solle den Patienten die Erfahrung der Andersheit in einer Beziehung und das Erleben von Containment ermöglichen, sie wird jedoch durch mangelnde Symbolisierungsfähigkeit und unbewusste Ängste auf Seiten der Patienten, sowie durch mögliche Gegenübertragungsreaktionen wie Desinteresse oder Ablehnung erschwert. Positiv hervorgehoben werden die Möglichkeiten der Teamarbeit im (teil-)stationären Setting, unterstützt durch ein psychoedukatives, stützendes oder fokussiertes Vorgehen.
Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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