Andrea Siewert: Existenzgründung als biographische Chance
Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost, 26.07.2016
Andrea Siewert: Existenzgründung als biographische Chance. Berufliche Selbständigkeit im Kontext lebensgeschichtlichen Lernens. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2016. 255 Seiten. ISBN 978-3-658-12739-8. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Entstehungshintergrund
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertationsschrift, die 2015 an der Goethe-Universität Frankfurt angenommen wurde.
Autorin
Die Autorin ist Lehrbeauftragte des Instituts für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Goethe-Universität Frankfurt am Main und arbeitet als freiberufliche Pädagogin im Bereich der Existenzgründungsberatung.
Thema
Thema des Buches ist, welche Lernprozesse mit der Entscheidung und Durchführung einer Unternehmensgründung einhergehen. Eine Existenzgründung löst Entwicklungen und Anpassungen aus, die biographisch situiert sind und rekonstruiert werden können. Bezug genommen wird in der Analyse stark auf die von Fritz Schütze ausgearbeiteten Prozessstrukturen des Lebenslaufs sowie auf das lerntheoretische Modell von Nittel und Seltrecht, wobei eine Typologie von vier unterschiedlichen Gründertypen entwickelt wird.
Aufbau
Die Arbeit besteht aus drei Teilen:
- Im ersten Teil (Kapitel 1-3) werden neben der Darstellung der Forschungsfrage(n) auf den Forschungsstand der Gründungsforschung sowie auf konzeptuelle Überlegungen von Lernen in biographischer Perspektive eingegangen.
- Der zweite Teil (Kapitel 4 und 5) beinhaltet die Darstellung der Ergebnisse der empirischen Untersuchung.
- Im dritten Teil (Kapitel 6 bis Kapitel 11) werden die empirischen Analyseergebnisse stärker in ein theoretisches Modell und eine Typik von Gründungen weiterverarbeitet und Schlussfolgerungen gezogen.
Zu Teil 1
Im ersten Teil wird zunächst in Kapitel 1 die Relevanz des Themas und die Fragestellung bzw. der Aufbau der Studie dargestellt. Unternehmensgründungen sind für Volkswirtschaften sehr bedeutend: in Deutschland erfolgten im Jahr 2014, so die Autorin, im Bereich der klein- und mittelständischen Unternehmen, auf die sich die Studie fokussiert, 585 700 Neugründungen. Der Erfolg eines Unternehmens ist von berufsbiographischen, individualisierten Potentialen abhängig, sodass ein breites Angebot von Schulungen, Beratungen, Fort- und Weiterbildung zur Anwendung kommt. Damit können die Lernprozesse unterstützt werden. Forschungsleitende Fragestellungen umfassen die Formen und Dimensionen des Lernens in Folge der Existenzgründungen, die Differenzen in den Lernprozessen zwischen Gründern, die biographischen Dispositionen für die Gründung, die Frage der dominanten Prozessstrukturen und der Typiken (berufs-)biographischer Verläufe. Die Auswertung wurde nach dem biographieanalytischen Verfahren von Fritz Schütze durchgeführt, auf lerntheoretischer Ebene wurde das Konzept von Nittel/Seltrecht hinzugezogen.
Im zweiten Kapitel wird auf den Begriff des Unternehmers/Entrepreneurs eingegangen sowie ein Überblick über die Gründungsforschung gegeben. Dabei wird sowohl auf ökonomische, psychologische, soziologische und erziehungswissenschaftliche Forschungsbereiche Bezug genommen.
Kapitel 3 komplettiert schließlich diesen ersten Teil, indem auf Lernen und Lerntheorien insbesondere in biographischer Ausrichtung eingegangen wird. Lernen bedeutet nicht nur, neues Wissen zu gewinnen, sondern seine Selbst- und Weltsicht zu reflektieren, Handlungs- und Deutungsmuster zu verändern. Lernen erfolgt nicht nur während der Kindheit, sondern lebenslang und vollzieht sich nicht nur im Kontext von Bildungs-institutionen. Letztlich wird in diesem Teil noch auf das lerntheoretische Konzept von Nittel und Seltrecht eingegangen, welches zwischen Lernmodi (Neulernen, Umlernen, Verlernen und Nichtlernen), prozessuale und strukturelle Lerndimensionen sowie Lernkontexten unterscheidet.
Zu Teil 2
Der zweite Teil beginnt mit Ausführungen über das Forschungsdesign (Kapitel 4). Die methodologische Verortung innerhalb des interpretativen Paqradigmas erfolgt in der Erhebung über narrativ-biographische Interviews sowie – daran anschließend – leitfadenorientierten Experteninterviews, in der Auswertung über biographieanalytische Verfahren (Schütze). Verwiesen wird dabei auch auf methodologische Grundsätze der Grounded Theory und der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. Letztere rekonstruiert die Strukturen der meist mittels offenen Interviews erhobenen Lern- und Bildungsgeschichten. Die Autorin beschränkt die Reichweite ihrer Studie auf Unternehmensgründungen von Klein- und Mittelbetrieben, die sich jedenfalls seit drei Jahren auf dem Markt etabliert haben und mindestens eine Mitarbeiter/in aufweisen. Ausgeklammert wurden klassische Freiberufler/innen wie z.B. Juristen und Ärzte. Eine erste Erhebungswelle fand 2008/2009 statt, während der 14 Interviews durchgeführt wurden. Die Betriebe stammten aus dem Werbe- und Gesundheitsbereich, dem Einzelhandel und der Bildungs- und Beratungsbranche. Einige der Betriebe erfüllten die Auswahlkriterien nicht (z.B. Betriebsübernahme, keine Mitarbeiter/innen). Eine zweite Erhebungswelle – mit 7 Interviews – folgte 2011: hierbei wurden auch Gründungen in der IT-Branche, der Gastronomie oder des Handwerks einbezogen.
Im Zentrum des darauffolgenden Kapitels (Kapitel 5) steht die Analyse zweier „Eckfälle“, deren Strukturen sehr genau dargestellt werden. Die erste ausführliche Fallanalyse beschäftigt sich mit einer 34-jährigen Logopädin, die ihre Praxis ca. fünf Jahre davor gründete und zwei Jahre lang auch mehrere Angestellte beschäftigte. Die zweite ausführlich dargestellte Analyse beschäftigt sich mit einem 47-jährigen Gründer einer IT-Firma mit ca. 30 Angestellten. In beiden Fällen führt die Analyse zur Darstellung der Strukturen in folgenden Dimensionen:
- biographische Gesamtformung (u.a. Ablaufmuster oder berufsbiographische Handlungsschemata),
- Wissensanalyse (u.a. das Selbst- und Weltbild) sowie
- das biographische Lernportfolio (u.a. Lerndimensionen und -prozesse im Kontext der Unternehmensgründung).
Daran schließen noch drei kürzere Falldarstellungen mit der Darstellung ausgewählter Aspekte an.
Zu Teil 3
Der dritte Teil beginnt mit einer Abhandlung über Determinanten der Unternehmensgründung, die durch die Biographieanalyse deutlich wurden (Kapitel 6). Die Autorin entwickelt eine Bedingungsmatrix gründungsrelevanter Faktoren. Dazu gehören die Generationszugehörigkeit der Gründer, die gesellschaftliche und ökonomische Lage, regionale markt-, zeit- und branchenspezifische Bedingungen sowie soziale und unternehmensgezogene Determinanten.
Im darauf anschließenden Kapitel 7 werden die familienbiographischen und milieuspezifischen Dispositionen der Gründer/innen diskutiert, welche in der Forschung bislang eher geringe Aufmerksamkeit erlangten. Ein Teil der interviewten Gründer stammen aus Familien, in denen bereits eine unternehmerische Tätigkeit erfolgte, ein Teil nicht. Demzufolge wurde das Kapitel getrennt in Gründer/innen, die eine bzw. keine familienbiographische Verankerung der Selbständigkeit aufweisen. Für beide Gruppen wird dann das – natürlich differente – familiäre Herkunftsmilieu, der Bildungsverlauf bzw. das Bildungskapital sowie die Wirkung der beruflichen Erfahrungen der Eltern behandelt.
Die Typologie, dargestellt in folgendem Kapitel 8, knüpft unmittelbar an die familienbiographische Verankerung an. Gründer/innen mit unternehmerischem Hintergrund in der Familie lassen sich in zwei Typen fassen, den/die traditionsorientierte/n Unternehmer/in bzw. Unternehmensnachfolger sowie der/die traditionsbewusste Neugründer/in.
- Der erste Typus ist über die Familie langfristig in das Unternehmertum inkludiert. Dadurch haben sich in der Familie und im Umfeld Konventionen und Verhaltensweisen herausgebildet, die mit einer „naturwüchsigen“, wenig reflexiv geführten Sozialisation zum/r Unternehmer/in einhergeht. Merkmal dieses Typus ist u.a. die außengeleitete Motivation des Weges in die Unternehmensübernahme.
- Der zweite Gründertypus ist ein traditionsbewusste/r Neugründer/in, der die Kontinuität in der familiären Tradition des Unternehmertums aus eigenem Antrieb fortsetzt. Dieser Typus ist sehr individualistisch orientiert, handelt selbstbestimmt und hat eine hohe berufliche Eigenmotivation, kann sich aber durch die familiäre Prägung bereits früh das nötige unternehmerische Wissen und eine passende Unternehmeridentität aneignen.
Die beiden anderen Typen von Gründer/innen haben keinen familiär determinierten unternehmerischen Background.
- Der/die gelegenheitsnutzende Unternehmer/in weist eine pragmatische Handlungsorientierung aus, die ihn befähigt, sich an die Umwelt anzupassen. Vertreter dieses Typus wählen meist sehr selbstbestimmt ihren Beruf aus, erlangen in einem Angestelltenverhältnis zunächst eine relativ hohe berufliche Stellung, bevor sich widrige Umstände entwickeln, die eine Unternehmensgründung als besseren Weg erscheinen lassen. Meist wird eine Unternehmensgründung relativ spät gestartet, erfolgt erst zu diesem Zeitpunkt eine Transformation zu einem (stärker) unternehmerischen Habitus.
- Der vierte Typus schließlich wird als sich selbst verwirklichende/r Neustarter/in bezeichnet, der das klassische Bild des Innovators/der Innovatorin verkörpert. Aus Grenz- und Bewährungslagen heraus entwickeln sie eine Unternehmensgründung, um sich selbst zu verwirklichen. Zielgerichtet werden Wissensbestände in kreativen Lernprozessen sehr situationsangemessen angeeignet.
Im Zuge der Analysen und der Erstellung der Unternehmertypologie trifft die Autorin auf ein wiederkehrendes Phänomen: vielfach stehen die Gründungen im Kontext von biographischen Verlaufskurvenpotentialen und Leidensprozessen. Mit deren Bewältigung bauen sie Kompetenzen auf, die sie für eine Unternehmensgründung benötigen können. Die Autorin verweist damit auf ein grundlegendes Merkmal, dass solche (biographischen) Krisen einen Katalysator zur Selbständigkeit darstellen. Meist sind es komplexe, nicht lineare Biographien, die teils durch, wenngleich nicht „besonders schwerwiegende“ belastende Lebensereignisse, wie Misserfolge (auch von Elternteilen) oder Leiden gekennzeichnet sind. Wichtige Teile ihrer Kompetenzen entwickeln sich dann erst durch die Bewältigung der Krisen bzw. Problemlagen.
Abschließend erfolgen noch ein Exkurs über die Existenzgründungsberatung und Schlussbetrachtungen.
Diskussion und Fazit
Die Studie zeichnet sich durch einen gut nachvollziehbaren Aufbau aus: Ausgehend von der Forschungsfrage bis hin zu einem Überblick über die relevante und interdisziplinär ausgerichtete Literatur zum Thema Unternehmensgründung werden die passenden methodologischen und methodischen Entscheidungen getroffen. Die Arbeit ist dabei – trotz der Komplexität und der vielen Forschungsstränge, die hineinspielen (z.B. Unternehmensgründungs-, Biographie- und Pädagogikforschung) – für den/die Leser/in gut nachvollziehbar verfasst und lesbar. Die Arbeit ist daher gleichermaßen fundiert und interessant. Allerdings sind in methodischer Hinsicht und im Bereich der Verallgemeinerung der Erkenntnisse durchaus kritische Reflexionen angebracht. So koppelt die Autorin ein biographisch-narratives Interview mit einem leitfadenorientierten Experteninterview, etwas das zumindest partiell in den Ansprüchen beider Interviewformen widersprüchlich erscheint und in einer solchen Kombination in wissenschaftlichen Arbeiten kaum vorzufinden ist. Im Hinblick auf die Verallgemeinerung und der zentralen Grundthese, dass die Bewältigung von Problemlagen zur Entwicklung von unternehmerischen Kompetenzen beiträgt, wäre aus Sicht des Rezensenten eine Eingrenzung interessant, zu welchem Zeitpunkt bzw. in welcher Lebensphase, bei welchen familiären Rahmenbedingungen und mit welchem Schwierigkeitsgrad so etwas wie kritische Lebensereignisse auftreten, die dann zu einer gesteigerten Kompetenzentwicklung in Richtung unternehmerischen Handelns und nicht z.B. zu abweichenden oder beruflich absteigenden Karrieren führen.
Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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Es gibt 23 Rezensionen von Gerhard Jost.
Zitiervorschlag
Gerhard Jost. Rezension vom 26.07.2016 zu:
Andrea Siewert: Existenzgründung als biographische Chance. Berufliche Selbständigkeit im Kontext lebensgeschichtlichen Lernens. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2016.
ISBN 978-3-658-12739-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20815.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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