Julia Kristeva: Die Zukunft einer Revolte
Rezensiert von Arnold Schmieder, 30.05.2016
Julia Kristeva: Die Zukunft einer Revolte. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2016. 160 Seiten. ISBN 978-3-95558-168-8. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR.
Thema
Gemäß ihrem Motto, einem Heidegger-Zitat, „das Wesentliche des Revolutionärs“ sei nicht die „Umwendung als solche, sondern daß er in der Umwendung das Entscheidende und Wesenhafte ans Licht bringt“, will Julia Kristeva Revolte fernab aller sehr realen Turbulenzen als „innere“ verstanden wissen. (S. 10) Dabei beruft sie sich auf Camus und seinen bekannten Satz: „Ich revoltiere, also sind wir.“ (zit. S. 13) Als Psychoanalytikerin lauscht sie ihren Analysanten und macht da einen neuen Typus von „Enragierten, von Besessenen“ aus, der diesen Weg der „inneren Revolte beschritten“ hat: „der neuen Realisten, die – wie es im Mai ´68 hieß – das Unmögliche wollen. Ihre Revolte scheint mir die sichtbare Seite jener Aufwertung des religiösen Kontinents, der sogenannten inneren Erfahrung, zu sein, die sich zaghaft, heimlich, unmerklich unter der Oberfläche der identitären Bilder, Sprachelemente und Verkrampfungen weiter zur Geltung bringt.“ (S. 10) Dieser Revolte geht die Verfasserin auch als Linguistin, Schriftstellerin und über philosophische Anleihen nach und weist zum einen darauf hin, dass und wie man den „Willen zum freien Willen“ vornehmlich in der Dichtung ausmachen kann und betont dabei zum anderen, dass in Epochen, deren Verfall man „dumpf erahnen“ kann, „Fragen die einzige Möglichkeit des Denkens“ bleibt: „als Indiz für ein schlicht lebendiges Leben.“ In dieser „Innerlichkeit“ keime die Begründung für eine „neue Politik“; zudem wisse „das Seelenleben nur zu genau, daß es nur gerettet wird, wenn es sich Zeit und Raum für Revolten gewährt: einen Bruch vollziehen, wiedererinnern, neu beginnen.“ (S. 12 f.)
Aufbau und Inhalt
Um diesen wie im Vorwort definierten Begriff der Revolte geht es in den beiden Hauptkapiteln „Der Geist der Revolte“ und „Erfahrung von Freiheit“, die in zweiundzwanzig meist kürzere Kapitel untergliedert sind, wobei es sich um zum Teil ältere Schriften bzw. Vorträge handelt.
Zunächst testiert die Autorin der politischen Revolte, dass sie in Kompromissen versacke und wie die europäische „Kultur des Zweifelns und der Kritik“ an den Rand gedrängt sei, und zwar als „ein von der Gesellschaft des Spektakels toleriertes dekoratives Alibi“. (S. 18) Ob wir daher nicht zu den „kleinen Dingen“ zurückkehren müssten, „zur unendlich kleinen Re-volte, um das Leben des Geistes und der Gattung zu bewahren“, fragt sie eher rhetorisch. (S. 20) Nachdem Frau Kristeva knapp Freud und Heidegger als Referenzen für ihre Argumentation gestreift hat, gibt sie Einblick in „Paradoxe Logiken der Re-volte“: „Die Fortdauer des Widerspruchs, die Vorläufigkeit der Versöhnung, die Aufdeckung all dessen, was die bloße Möglichkeit des einheitlichen Sinns einer Prüfung unterzieht (darunter der Trieb, das Weibliche, das Namenlose, die Zerstörung, die Psychose): alles das wird von jener Re-volte-Kultur exploriert“ – worin sich eine „wahrhaftige Mutation des Menschen“ ankündige und nicht in der „Welt des Handelns“ zeige, „sondern in der des psychischen Lebens und dessen gesellschaftlichen Bekundungen (Schreiben, Denken, Kunst).“ (S. 31 f.) Daher und weil darin zumindest die Frage nach politisch Anderem virulent werden kann oder wird, sind wir aufgerufen, „unser inneres Leben im Zustand der Re-volte aufrechtzuerhalten.“ (S. 36)
Das zweite Hauptkapitel zu „Psychoanalyse und Freiheit“, das zudem in die Oberkapitel „Liebe zu anderen Sprachen“ und „Europhilie – Europhobie“ untergliedert ist, kreist zunächst um Freud und Lacan, um die (auch sprachliche) Entfaltungsmöglichkeit von Freiheit auszuleuchten, wobei Kant für die Feststellung herhalten muss, dass „Trieb und Begehren (…) im Netz der mit anderen geteilten Sprache gefangen“ sind. Schließlich kommt die Verfasserin auf ihren Ausgangspunkt zurück, nämlich ob die „Psychoanalyse den Menschen die Wildheit ihrer Wunschregungen zurück(gibt), für die nichts anderes bleibt als Hoffnung auf Erlösung“ oder sie „einen folgenreichen, vielleicht tragischen Atheismus vorweg(nimmt), der aber von Beginn an die Pluralität der gemeinschaftlichen Bande, die Möglichkeit ihres Neuanfangs in den Vordergrund stellt?“ (S. 50 f.) Fußend auf Überlegungen zur „Gegenübertragung“ kommt sie in Bezug auf den Analysanten zu dem Schluss, „je mehr er in der Lage wäre, sich selbst an die Stelle mehrerer anderer zu versetzen, um danach diese Übertragung aufzulösen, um so fähiger wäre unser analysiertes Subjekt auch zu richtigen Beziehungen und zu zutreffenden Urteilen.“ (S. 56) Unter der Frage, warum die Psychoanalyse ein Atheismus ist, geht es weiter um Freiheit und da wiederum mit Kant, der sie „positiv, als ein Beginnen aus eigener Kraft“ definiert habe, und den Anschluss seitens Heidegger, wo Freiheit „die Selbstoffenbarung in der Anwesenheit des anderen mittels des gegebenen Worts“ ist. (S. 61) Die Verfasserin kommt zu dem Schluss, dass die Psychoanalyse dem Analysanten „seine nicht aufhebbare Konflikthaftigkeit“ entdecken hilft und „ihn freimacht von allem Willen nach Einfluß, Macht und selbst Einheit. Diese besondere Freiheit rückt die Psychoanalyse ab von jedem moralisierenden und verklärenden Humanismus“. Allerdings bringe die „Fähigkeit zur Re-volte (…) den Analysierten dazu, sich neue Bindungen zu schaffen, was bedeuten könnte, daß die analytische Erfahrung am Ursprung eines tiefen Humanismus liegt.“ (S. 63) Das wird an der Fallbeschreibung einer Anorektikerin exemplarisch eingeholt.
Unter „Liebe zur anderen Sprache“ geht es um das Problem von Sprache und des Übersetzens überhaupt und im übertragenen Sinne des „Übersetzens des Sinnlichen“, um Unbewusstes und „literarische Erfahrung“ und darum, ob der „Schriftsteller ein Fremder“ ist, wie die Überschriften lauten. Selbst gebürtige Bulgarin, seit vielen Jahren in Frankreich und der französischen Sprache heimisch, vermerkt Frau Kristeva ganz allgemein, dass der „Fremde (…) wesentlich ein Übersetzer“ ist (und so eingeschätzt bis behandelt wird) und sie geht dieser „Spur des Zugewanderten“ nach (S. 70), um vor allem unter Bezug auf Mallarmé und Proust deutlich zu machen, dass gerade der Schriftsteller auch ohne die äußeren Merkmale des Zuwanderers ein ‚Übersetzer‘ ist, dabei „ein ‚Logothet‘ (…) – einer, der die Sprache verändert“. (S. 72) Selbst Schriftstellerin erzählt die Verfasserin von ihren eigenen Erfahrungen und meint, in „der Aufgabe einer Muttersprache steckt so etwas wie Muttermord“ (S. 78) und bedauert, dass sie die „vielfältigen, häufig unentscheidbaren Bedeutungen des bulgarischen Idioms, der (…) im Rhythmus des Herzensgebets und der Nacht des Sinnlichen mitschwingt, aufgeben muß“. (S. 81) An Proust als „Übersetzer“ verdeutlicht sie, dass diese „Sprache der Sinne (…) keine Sprache der Zeichen“ ist (S. 87), was für „verworrenes Unbewußtes“ und „literarische Erfahrung“ (auch) bedeute, dass „dieses Eintauchen, dieses ‚ich ist ein anderer‘ (…) mir zweifellos dunkle Kontinente meines Unbewußten, aber auch Regionen von Sinn vor der Sinngebung“ liefert: „Kurzum, die Erfahrung mobilisiert das Unbewußte, die Wahrnehmung, die Vorsprache und die Sprache.“ (S. 94 f.) Insofern hebt sie „diese innere und häufig ungeahnte Verwandtschaft zwischen dem Fremden und dem Schriftsteller nachdrücklich“ hervor, um sie beide in „einer gemeinsamen und doch immer einzigartigen Erfahrung des Übersetzens zu vereinen.“ Und im Grunde sind wir alle solche Fremden und Übersetzer (wohl der „Sprache der Sinne“), was die Autorin mit der Frage nahelegt: „Wären wir nicht alle Übersetzer, legten wir nicht immer die Fremdheit unseres inneren Lebens offen (…), um sie aufs neue in andere Zeichen zu übertragen, hätten wir dann überhaupt ein psychisches Leben, wären wir dann überhaupt lebendige Wesen? ‚Sich selbst fremd zu werden‘, sich zum Fährmann dieser stetig wiedergefundenen Fremdheit zu machen: Bekämpfen wir nicht dadurch unsere latenten Psychosen und sind da erfolgreich, wo der Psychotiker und der Autist scheitern: die sinnliche Zeit zu benennen?“ (S. 98)
Das folgende Oberkapitel „Europhilie – Europhobie“ beginnt mit einem Lob der amerikanischen Gastfreundschaft, wie sie von der Verfasserin als Gastdozentin erfahren wurde und wo sie sich „als Fremde unter anderen Fremden“ fühlte, was ihrer Meinung nach daran liegt, dass Amerika ein Land ist, „das die Verpflanzung willkommen heißt und ermutigt“ – einer „Solidarität“, aus der wir etwas machen könnten, „gehören wir doch einer künftigen Humanität an, und daß die künftige Humanität wie wir aus Fremden bestehen wird, die sich zu verstehen suchen.“ (S. 102 ff.) Damit wird eines der von ihr ins Visier genommenen „Forschungselemente“ thematisch, nämlich eine ganz andere als bisher – von den Stoikern bis zur Aufklärung – entworfene „kosmopolitische Gesellschaft“, die die „Form einer mehr oder minder konflikthaften Koexistenz von Nationen und Nationengruppen annehmen (wird), die mit und gegen andere werden leben müssen. Unter diesen Umständen sollte eine Mischung aus Respekt für die nationale Identität und Ermutigung zum Allgemeininteresse die jetzigen Mißbräuche der Globalisierung ersetzen.“ (S. 112) Im Anschluss bemüht sie nochmals für den Freiheitsbegriff Kant und führt weiter zu Heidegger und dessen Wendung auf „Befreiung des Seins zur – wechselseitige geteilten – Sprache“, wobei ihr daran liegt, „heute und im Horizont der modernen Welt nachdrücklich auf diese zweite Auffassung von Freiheit zu verweisen, die (…) sich vermittelt über die Präsenz des Selbst zum Anderen im Sein zur Sprache ereignet.“ Es ist die Freiheit der „Dichter“, des „Libertin“, sogar der „Revolutionär“ gehört in diese Reihe. (S. 115 f.) Und allenthalben gilt, da „alles zu der Annahme“ dränge, „wir würden davongetragen vom Mahlstrom des kalkulierenden Denkens und des Konsumismus“, die „Re-volte im Sinne eines freien, unabhängigen Fragens, einer permanenten Unruhe“ zu kultivieren, wenn sie auch – wie schon historisch zu sehen – erdrosselt zu werden droht, so „vermag die Möglichkeit der Freiheit in der Revolte, sich auch im politischen Raum und nicht nur im Denken zu entfalten, nicht auf ewig zu diskreditieren“ sein. ( S. 118 ff.) So werden wir dem näher kommen, „was uns mangelt: die Verschränkung dieser beiden Versionen von Freiheit, der liberalen und der solidarischen, der technischen und der poetischen, der kausalen und der offenbarenden.“ (S. 125)
Diskussion
Von welcher Revolte die Rede ist, erfährt man auf der Rückseite des Buchmantels, wo sie in den Rang einer „innere(n) ‚Revolution‘“ gehoben wird, die laut Julia Kristeva durch „psychoanalytische Erfahrung, aber auch literarisches Schreiben“ ermöglicht würde. Darum kreisen die Beiträge in der Tat, wenngleich sie sich zum Teil vom Thema recht weit zu entfernen scheinen. „Vom Gebet über Kunst und Analyse bis zum Dialog: das zentrale Ereignis ist und bleibt die infinitesimale große Befreiung: immer wieder von neuem beginnen“, heißt es im Vorwort (S. 13) und die Leser dürfen mit Fug und Recht beim Stichwort ‚Befreiung‘ an desolate materielle Lebensumstände denken und daran, dass diese nicht von Ungefähr so sind, wie sie sind. Die „Sorge um das menschliche Leben“ treibt die Autorin um und auch jenes der „Armen, Behinderten, Rentner, Sozialhilfeempfänger usw.“ (S. 117 f.) und auch derjenigen Zeitgenossen, „die sich, wenn auch desillusioniert, mit einem undurchdringlichen und letztlich glatten Innenleben verweigern.“ (S. 85) Weil Abhilfe not tut, sei die Psychoanalyse zur Biologie hin zu öffnen und „aus ihrer Isolation zu holen“, um sie „im gesellschaftlichen und politischen Bereich wirksam werden zu lassen“. (S. 107) Dieser Fingerzeig auf Gesellschaft mag trösten, will man nicht polit-ökonomisch nachhaken und es bei immanenter Kritik belassen, zumal später auch vom „politischen Raum“ die Rede ist, in dem sich die „Möglichkeit der Freiheit“ und dann zwingend „nicht nur im Denken“ entfalten könnte oder kann. (s.o.) Der Autorin geht es um „Innerlichkeit“, auch spezifische (S. 118), und ‚Denken‘ und man möchte ihr wohlmeinend mit dem Engels-Zitat zustimmen, dass alles, „was die Menschen in Bewegung setzt, (…) durch ihren Kopf hindurch (muß); aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.“
Und da ist man dann wieder bei Camus, auf den sie sich im Vorwort beruft; nimmt man nur sein Werk „Mensch in der Revolte“ (und empfiehlt dabei sein Drama „Die Gerechten“), wird der Unterschied zur „Re-volte“ bei Frau Kristeva augenfällig: Es ist die Vernunft, so Camus, die in der Freiheit praktisch erscheint, dem „einzigen unvergänglichen Wert der Geschichte“. Und die Revolte ist die „Weigerung des Menschen, als Ding und auf bloße Geschichte zurückgeführt zu werden. Sie ist die Bekräftigung einer allen Menschen gemeinsamen Natur, die sich der Welt der Macht entzieht.“ Laut Marcuse hat Camus damit das „‚Naturrecht‘ auf Widerstand“ begründet, das in der Revolte virulent ist, so lange menschliches Leid unnötig anhält. Bei aller Problematik des Revoltierens, wie sie Camus behandelt, ist ihm Revolte eine Negation, welche auf Abschaffung aller Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse abhebt, und dies ist eine höchst praktische Angelegenheit als radikales Nein zum Bestehenden. – Doch daran schließt die Autorin nicht an; sie verbleibt im Engelschen „Kopf“ und konzentriert sich auf eine „Aufwertung der sinnlichen Erfahrung als Gegengift zum technischen Vernunftdenken“ (S. 20), was sich als Kritik sicherlich breiter Zustimmung erfreuen dürfte (zumindest bildungsnaher Schichten), aber im Sinne jenes „Ich revoltiere. Also sind wir“ (Camus) ein zu schwaches Antidoton oder nur ein Placebo ist ebenso wie das „Erzählen mit seinem Moment von Nachdenklichkeit als eine Variante der minimalen Revolte.“ (ebd.)
Wo die Autorin über die „Fortdauer des Widerspruchs“ und die „Vorläufigkeit der Versöhnung“ spricht (s.o.), wobei sich die Widersprüchlichkeit ökonomischer Kernstrukturen in ihren Auswirkungen auf gesellschaftliches Bewusstsein im Anschluss an Marx und die Kritik der Versöhnung seitens Adorno assoziativ einstellen mag, kann diese Re-volte in und aus Innerlichkeit, Erzählen, Schreiben dann doch zum Tragen kommen, als kulturelle „mit weit- und tiefreichenden politischen Folgen; mit ihr ist die Frage einer anderen Politik aufgeworfen, die einer permanenten Konflikthaftigkeit“ (S. 32), einer „konflikthaften Koexistenz“, die es – politisch – auszuhalten gilt. (S. 112) Und sie ist laut Frau Kristeva als „Konflikthaftigkeit“ am Individuum, hier dem Analysanten, ebenso eine „nicht aufhebbare“. (s.o.) Auch wenn diese Gedanken nicht parallel zu schalten sind und selbst noch unter Freuds Diktum: „Wo Es war, soll Ich werden“ als Emanzipation vom Über-Ich diese Nicht-Aufhebbarkeit psychoanalytisch in ihrer Relevanz diskussionswürdig bleibt, rückt diese „Konflikthaftigkeit“ in den Bereich, der für Heidegger das „Entscheidende und Wesenhafte“ ist, das der ‚Revolutionär‘ „ans Licht bringt“, wie es im Zitat heißt, das die Autorin ihrem Buch als Motto voranstellt. Kritische PhilosophiestudentInnen bezeichnen solche Äußerungen schlicht als ‚Humbug‘. So wird insbesondere da dessen Philosophie abgekanzelt, wo man in philosophischen Seminaren von Heidegger als bekennendem Nazi absehen und in ihm hauptsächlich den großen Denker sehen will. Weniger plakativ wird dann über Textexegese eingeholt, wie seine bis in die Kleiderordnung durchschlagende nationalsozialistische Überzeugung in seinem Werk einen Nährboden hat. Gerade gegen eine solche Bemerkung über das „Wesentliche“ und eine „Umwendung“ wird (u.a.) mit sozialhistorischen Fakten gehalten. Gehaltvoll werden solche Invektiven gegenüber derart nebulösen Philosophemen schließlich mit tragfähigen Argumenten aus theoretisch fundierten Debatten um Gewalt und Moral gemacht – womit sich die Diskussion weit von einer immanenten Kritik der Philosophie Heideggers entfernt.
Man mag weiter die Verkürzungen, mit der Kant auf die Indienstnahme seines Vernunft- und Freiheitsbegriffs durch Heidegger von Frau Kristeva heruntergebrochen wird, einer verknappenden Argumentation zugute halten; es geht ihr um den Freiheitsbegriff und das Heideggersche „Ins-Ganze-Fragen“ damit das philosophische ‚immer weiter‘-Fragen. Dabei ist mitzudenken, was Heidegger in „Vom Wesen der Wahrheit“ meint, dass sich das Sein als solches gerade nicht und niemals dem Zugriff des – existentialen (dem „Dasein“ in Heideggers Terminologie) – Verstehens erschließt, obgleich das Seiende in seinem Sein offenbar und zugänglich ist. Im 0-Ton des Philosophen: „das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden.“ Ist damit – philosophisch – der „sinnlichen Erfahrung als Gegengift“ (s.o.) eine Berechtigung gegeben? Die Autorin lässt sich darüber nicht weiter aus und sie will „auch nicht auf die Einzelheiten dieser Dekonstruktion der Metaphysik, wie sie in der Auseinandersetzung Heideggers mit Kant impliziert ist“, eingehen – „und noch weniger auf seinen politischen Rückzug“. Was sie aber daraus bezieht und was ihr wichtig ist: „Wenn die Freiheit der Offenbarung anders denn als solitäre Spekulation existiert, dann eben genau in der Erfahrung der Übertragung und Gegenübertragung: hier realisiert sie sich.“ (S. 61) Ob man sich hier jenes schnoddrigen studentischen Urteils entschlägt, wird eine Diskussion über Psychoanalyse als wissenschaftliche Erkenntnis oder Methode therapeutischer Intervention näher erhellen können.
Dem „Befragen der Wertesysteme ins Unendliche zu verlängern, was weder Glaube noch Nihilismus ist“ (S. 63), trägt auch das Schreiben zu, wie Frau Kristeva auch aus eigener Erfahrung zu sagen weiß, wobei sie dem „Flash des Schreibzustands“ besondere Bedeutung beimisst. Nicht unähnlich der in der Tat auf die Psychologie zurückgehenden Écriture automatique und auch als dem surrealistischen „Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft“ (André Breton) gleitet dann doch „die Erfahrung vom Erfassen zum geduldigen Erhellen, zum Wissen“, wobei die „Endfassung (…) selten zufriedenstellend“ ist. Schließlich geht es darum, „eine flüchtige Spur zu erhaschen, das, was ‚stattgefunden haben wird‘, eine ‚vollendete Zukunft‘, wie es Mallarmé so treffend formuliert hat; sie schreibend, in der Sprache auf einem Blatt materialisierend, anzureichern, zu verändern, sie schließlich endgültig werden zu lassen.“ (S. 96) – Eine Re-volte mag das sein, ob es gar schon eine Revolte oder die „Zukunft einer Revolte“ ist, bleibt fraglich.
Fazit
In einem bestimmten Segment der Scientific Communitiy erfreut sich Julia Kristeva höherer Bekanntheit und hat sicherlich eine breitere Leserschaft nicht nur unter psychoanalytisch Interessierten. Die Hannah Arendt-Preisträgerin kann mit zahlreichen Publikationen aufwarten, auch literarischen. Wer ihren Argumentationen, ob u.a. psychoanalytischen bis philosophischen (und nicht nur Anleihen bei Heidegger, auf den sich auch namhafte französische Soziologen beziehen), nicht ohne Einwände folgen mag, wird über Kritik doch Anregungen finden, zumindest dahingehende, auch in andere Richtungen zu denken. Wer das Thema „Innerlichkeit“ in seiner Dynamik und möglichen Relevanz als Initiation für (mögliche) Umgestaltung näher und wenn auch nur aus einem bestimmten Blickwinkel beleuchtet wissen möchte, mag zu dieser Schrift greifen.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 30.05.2016 zu:
Julia Kristeva: Die Zukunft einer Revolte. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2016.
ISBN 978-3-95558-168-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20822.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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