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Karsten Michael Drohsel: Das Erbe des Flanierens

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 31.05.2016

Cover Karsten Michael Drohsel: Das Erbe des Flanierens ISBN 978-3-8376-3030-5

Karsten Michael Drohsel: Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur - ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse. transcript (Bielefeld) 2016. 282 Seiten. ISBN 978-3-8376-3030-5. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Urbane Erinnerungsorte als Lebens- und Erlebensaspekte

In der sich immer interdependenter, entgrenzender und globaler entwickelnden Welt wird Mobilität für die Menschen zum existentiellen, berufs- und einkommensfixierten Muss, und zum Aktivitäts- und Heilsversprechen. Das Wachsen der Städte und Megazentren vollzieht sich weltweit als Sog und Erwartung. In der Wanderungsmotivforschung wird den Fragen nachgegangen, wie Wohnen und Leben in polyzentrischen Stadtregionen sich vollzieht, entwickelt und entgrenzt (Rainer Danielzyk, Hrsg., Suchst du noch oder wohnst du schon? Wohnen in polyzentrischen Stadtregionen, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18196.php). In der Stadt- und Landschaftsentwicklung bündeln sich die vielfältigen Ansprüche und Herausforderungen, wie sie sich als historische, planerische, architektonische, rechtliche, kulturelle, ästhetische und kreative Anforderungen und Traditionen darstellen. Der Diskurs vollzieht sich dabei in je unterschiedlichen praktischen, paradigmatischen, bürokratischen oder partizipatorischen Prozessen. Die Ausgangspunkte für Stadtbesiedelung und städtebaulichen Maßnahmen sind dabei immer: Wie gelingt es, Wohnen preisgünstig und den mobilen und konsumtiven Ansprüchen der Menschen gerecht werdenden Ansprüchen und Erwartungshaltungen zu ermöglichen?. Dass dabei die Nützlichkeits- und Machbarkeitsprämissen im Vordergrund stehen, ist den kapitalistischen und neoliberalen Zwangskorsetts zu schulden, die Menschen meist frei-willig akzeptieren.

Entstehungshintergrund und Autor

So wundert es nicht, dass bei den urbanen Stadtdiskursen Aspekte vernachlässigt werden oder gar nicht vorkommen, die in der Stadt mehr sehen wollen als bebaute, gestaltete Räume und Infrastruktur: „Eine Stadt ist auch ein riesiger Speicher an Gelebtem und Erlebtem, ein Kommunikationsraum, durchkreuzt durch und aufgefüllt mit Geschichte und Geschichten“. Die gegenwärtige und zukünftige kulturelle Gestaltung von urbanen Räumen bedarf einer neuen Aufmerksamkeit. Sie fokussiert sich etwa im Konzept des französischen Historikers Pierre Nora, der im „lieu de mémoire“, dem Erinnerungsort, ein wichtiges Identifikations- und Identitätsmerkmal des Menschseins sieht, die als kollektives Gedächtnis wirken. Diese Zugangsweise erfordert freilich andere Formen des Planens und Gestaltens, als sie mit dem herkömmlichen Verständnis praktiziert werden. Die Werkzeuge, wie sie (früher) mit dem Reißbrett und (heute) mit virtuellen Programmen benutzt werden, ergänzen sich durch direkte Formen des Beobachtens, Schauens, Reflektierens und Kommunizierens: „Die planerischen Formate und Disziplinen (erreichen) viele Menschen nicht mehr, da sie sich vom Alltagsgeschehen der Adressaten und der konkreten lokalen Relevanz entfernt haben“. Es bedarf also „Vermittler“ und „Übersetzer“, um urbanes Planen und Bauen näher an die Menschen heranzubringen und mit den Betroffenen zu verwirklichen.

Der Berliner Stadt- und Raumplaner Karsten Michael Drohsel ist Mitglied des Vereins URBANOPHIL, einem Netzwerk, in dem sich junge Stadtforscher aus den verschiedenen Disziplinen der Stadtplanung, des Städtebaus, der Architektur, Geographie, Soziologie, VWL, Pädagogik und Geschichte zusammengeschlossen haben, um der Idee des urbanen Gestaltens neue Impulse zu geben. Sie kritisieren die traditionellen Formen der Städteplanung und provozieren mit der Forderung: „Hört auf zu Bauen, fangt an zu Denken!“ (Streitschrift von Daniel Fuhrhop, „Verbietet das Bauen“, 2015). Menschen wohnen aus ganz unterschiedlichen Gründen in städtischen oder ländlichen Räumen. Während die einen Ruhe, Natur, Tradition, Nachbarschaft suchen, wollen die anderen eher Öffentlichkeit, Mobilität, kulturelle und Konsumangebote.

Karsten Michael Drohsel will ein „Katalysator“ sein, der den Menschen das Leben in der Stadt als „Erinnerungsort“ schmackhaft macht. Er begeht die urbanen Räume im wahrsten Sinne des Wortes. Er entdeckt dabei Dinge, die dem flüchtigen und beschäftigten Bewohner eher verborgen bleiben; und er erlebt als „urbaner Geher“ Situationen, „Orte und Gegenstände…, an denen sich Erinnerungen festmachen, die lesbare Spuren oder Geschichten besitzen“. Angelehnt an die Figur des traditionellen und literarischen „Flaneurs“ erfindet er den „Souveneur“, der mit dieser Erinnerungsarbeit „Menschen über gemeinsame Erlebnisse oder einen gemeinsam geteilten Erinnerungsraum zusammenbringt“. So entsteht nicht „Müßiggang“ oder ein „L´art pour l´art“, schon gar nicht „Oblomerei“ (Frank Henning: Oblomowerei – eine Vorstufe der Sucht? Oder: Die Metamorphose des Stolz, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/18191.php), sondern ein intellektuelles und produktives, scheinbares „Nichtstun“ ( Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18946.php; siehe auch: „Nichtstun ist eine Aufgabe fürs ganze Leben“, 30. 3. 2016, www.sozial.de/ Schnurers Beiträge). Drohsel erhebt den Anspruch, „durch die Methodisierung des Gehens zu Erinnerungszwecken und der Weitergabe des daraus resultierenden Wissens … neue kultursoziologische Sichtweisen auf klassische Felder und Betrachtungsgegenstände der Stadt- und Regionalentwicklung“ zu lenken.

Aufbau und Inhalt

Die kultursoziologische Studie wird in acht Kapitel gegliedert.

Im ersten erläutert der Autor seine Kunstfigur des „Souveneurs“, indem er die Methodik seines handlungsbezogenen Erinnerungskonzepts darlegt und die Sozialfigur definiert: „Ein Souveneur ist ein sich selbst und andere erinnernder Flaneur, der durch die Stadt streift, Erinnerungsspuren sucht und diese beschreibt, der anschließend Ereignisse und Geschichte(n) recherchiert, Gespräche führt und dazu einlädt, mit ihm zu spazieren“.

Im zweiten Kapitel „Innenwelt und Außenwelt“ werden Fragen nach den Grundlagen und dem Erkenntnisstand von „Erinnerung“ und „Gedächtnis“ thematisiert (siehe dazu auch: Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer, Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2010, https://www.socialnet.de/rezensionen/12904.php). Dabei wird deutlich, dass Wahrnehmungen und Ausdrucksformen von Erinnertem immer subjektiv sind. Um sie objektivieren und damit im wissenschaftlichen Diskurs bearbeitbar machen zu können, bedarf es somit Methoden und Arrangements, individuelle und kollektive Wahrnehmungen erkennbar und ggf. auch veränderbar zu gestalten.

Deshalb wird im dritten Kapitel den Phänomenen des individuellen und kollektiven Erinnerns im sozialen Kontext mit einer besonderen Aufmerksamkeit bedacht. So wird gewissermaßen das Erinnern vom Olymp heruntergeholt und hineingestellt in die aktuelle Lebenswelt der Menschen: „Erinnerung ist somit ein Hinwenden zu Vergangenem, um sich die eigene aktuelle Lebenswelt zu vergegenwärtigen“. So wird Geschichte nicht zu einer Zahlenakrobatik, sondern zur Geschichtskultur und zu einem historischen Bewusstsein, die Intellekt und Verantwortung erfordern, was in den Kapiteln „Erinnerungskultur“ und „Verortung“ diskutiert wird (vgl. dazu auch: Pim den Boer, u.a., Hrsg., Europäische Erinnerungsorte. 3. Europa und die Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13336.php). Die Auseinandersetzung mit dem Raum als topografisches, geografisches, kulturelles und soziales Phänomen vollzieht sich theoretisch und praktisch, in der Reflexion und als sinnliches und physisches Erleben. Raum muss also angeschaut und begangen werden, um ihn zu verstehen.

Der französische Soziologe und Historiker Michel de Certeau hat die „Kunst des Handelns“ besonders mit der Tätigkeit des „Gehens in der Stadt“ erläutert, indem er es mit dem „dualistischen Konzept des Gehens als körperliche Bewegung und narrative Handlung“ verknüpft.

Im Kapitel „Erinnerndes Gehen“ entfaltet der Autor die historischen Bezüge, wie sie sich in der „Flanerie“ in den verschiedenen Ausprägungen des Konsumierens (Passagen), des Dandy- und Künstlertums, des Journalismus und der Literatur ausprägen. Die Konkretisierung zur „Urbanografie“ und zum „City-Telling“ vollzieht sich in den Herausforderungen und Handlungsanregungen:

  • Demokratisierung der Erinnerungsarbeit
  • In-Wert-Setzen der individuellen Erfahrung
  • Gehen als Form der politischen und ästhetischen Bildung
  • Beförderung des erinnerungsgestützten und -stützenden Handelns
  • Verknüpfung des Prozesses mit aktuellen lokalen Diskursen.

Im Kapitel „Erleben, Archivieren, Weitergeben“ werden die Werkzeuge des „Souveneurs“ vorgestellt und mit dem Praxisprojekt „Flanieren in der Stadt Görlitz“ dokumentiert. Die Exemplarität der Projektarbeit wird mit dem Dreischritt vollzogen:

  1. Unvoreingenommenes Gehen als Begegnung mit der Stadt („Was erfährt man durch das Gehen?“)
  2. Erkundung der Stadtgeschichte („Was erfährt man aus Quellen?“)
  3. Virtuelle und konkrete Diskurse („Ein zufälliger Erinnerungsort“). Im Wechselspiel von Spontaneität, Zielgerichtetheit und Zufälligkeit werden die Möglichkeiten deutlich, wie „Gehen in der Stadt“ zur Entdeckung, zur Innovation und zum Event wird.

Fazit

Der „Souveneur“ schöpft mit seinen spontanen und zielgerichteten Aktivitäten beim „Gehen in der Stadt“ aus zahlreichen Quellen, theoretischen und praktischen Vorlagen; etwa den Diskursen zum „kulturellen Gedächtnis“ von Jan und Aleida Assmann, dem „Lieux de mémoire“ von Pierre Nora, den Reflexionen zur „Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung“ von Moritz Csáky, den Konzepten des „Memorable Moments“ von Gaby Dolff-Bonekämper und den literarischen Texten zum „Gehen in der Stadt“ von Michel de Certeau, Walter Benjamin und Franz Hessel.

Die Einbeziehung von Mitteln, die durch die neuen Medien zur Verfügung stehen, wie z. B. erinnerungsrelevante Wegmarken als Marker und Visualisierungen, bietet nicht nur die Chance zur Popularisierung von Erinnerungsorten, sondern auch eine breit gefächerte, öffentliche Aufmerksamkeit und Kommunikation. Das eher absichtslose Flanieren als Zeitvertreib wird mit den Aktivitäten des Souveneurs zu einer verantwortungsvollen politischen und sozialen Herausforderung, die beim Gehen in der (Meta-)Stadt zum Perspektivenwechsel motiviert, etwa mit der Aufforderung von Luigi Nono: „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die größtmögliche entäußerte Innerlichkeit. Das ist heute das Entscheidende“, wie auch mit der Erkenntnis, wie sie die Oxforder Künstlerin und Kunstwissenschaftlerin Shelley Sacks zum Ausdruck bringt: „Responsibility is the ability to respond“, womit sie deutlich macht, dass es auf die Kompetenz ankommt, eine Person, einen Ort, eine Situation… mit neuen Augen, neuen Ohren und geschärftem Bewusstsein einzugehen und darauf zu reagieren (www.mikromakrowelt.de). Und siehe da: Aus dem scheinbar unverbindlichen Flanieren durch die Stadt wird das, was für eine humane Gegenwart und Zukunft der Menschheit gefordert und notwendig wird:: „Sustainable Development“, tragfähige Entwicklung, wie dies bereits im Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987 postuliert wird ( WCED. Our Common Future / Unsere Gemeinsame Zukunft, Oxford / Greven 1987, 421 S.).

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1685 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 31.05.2016 zu: Karsten Michael Drohsel: Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur - ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse. transcript (Bielefeld) 2016. ISBN 978-3-8376-3030-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20872.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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