Hilmar Schäfer (Hrsg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm
Rezensiert von Sven Schwabe, 17.08.2016

Hilmar Schäfer (Hrsg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. transcript (Bielefeld) 2016. 384 Seiten. ISBN 978-3-8376-2404-5. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 40,10 sFr.
Thema
Unter dem Schlagwort „Praxistheorie“ werden in der Soziologie seit einigen Jahrzehnten theoretische Ansätze diskutiert, die „Praktiken“ als fundamentale theoretische Kategorie ins Zentrum der Gesellschaftsanalyse rücken. Der vorliegende Sammelband möchte knapp 15 Jahre nach der programmatischen Konstituierung der praxeologischen Theoriebewegung eine Zwischenbilanz ziehen und Praxistheorie als ein Forschungsprogramm vorstellen. Ziel ist es
- praxistheoretische Debatten in ihrer Breite darzustellen,
- unterschiedliche Positionen innerhalb der Theoriebewegung zu markieren und
- ausgehend von konzeptuellen Überlegungen und empirischen Analysen Forschungsdesiderate aufzuzeigen (S. 9).
Dabei konzentriert sich der Band primär auf die deutschsprachige Rezeption im Feld der Soziologie, lässt aber einflussreiche Positionen aus dem angloamerikanischen Raum nicht unberücksichtigt.
Eingedenk der Heterogenität jener theoretischen Ansätze, die sich unter dem praxeologischen Banner versammeln, existieren Praxistheorien zwar nur im Plural. Gemeinsam ist den in diesem Buch vorgestellten Theoriefamilien aber andererseits die „kritische Reaktion auf das einst hegemoniale funktionalistische Paradigma in Soziologie und Anthropologie“, der Fokus auf soziale Praktiken als theoretische Kategorien sowie die Überwindung klassischer philosophischer und soziologischer Dichotomien (z.B. Struktur-Handeln; Mikro-Makro).
Die Einzelbeiträge bemühen sich um eine Standortbestimmung praxeologischer Ansätze im Feld klassischer soziologischer Theorien, stellen den Mehrwert einer praxistheoretischen Perspektiven für Sozialtheorie und Gesellschaftsanalyse heraus und zeigen auf, wie Praxistheorie in empirische Forschungspraxis übersetzt werden kann.
Herausgeber
Hilmar Schäfer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder).
Aufbau und Einleitung
Der 384 Seiten lange Sammelband versammelt 18 Beiträge aus verschiedenen Teilbereichen der Soziologie. Er gliedert sich in sechs thematische Blöcke, denen eine kurze Einleitung voraus geht.
Die Einleitung zum Sammelband liefert neben der obligatorischen Vorstellung der Einzelbeiträge einen kurzen aber prägnanten Überblick und Einstieg in das Feld der Praxistheorien. Hilmar Schäfer gelingt es überzeugend, das praxeologische Feld inhaltlich abzustecken und die Verbreitung praxeologischer Strömungen in den verschiedenen Gebieten der Soziologie zu skizzieren. Gegenüber klassischen sozialwissenschaftlichen Ansätzen, werden Handlungen aus praxeologischer Perspektive nicht isoliert betrachtet, sondern konsequent ins Verhältnis zu ihrem sozialem Kontext gesetzt. Dabei werden die Zeitlichkeit, die Körperlichkeit und die Materialität des Sozialen als zentrale Analysedimensionen berücksichtigt. Die Einleitung vermittelt dadurch das notwendige Rüstzeug zur Einordnung der anspruchsvollen Folgetexte.
Zum Themenblock Praxistheorie zwischen Mikro- und Makroperspektive
Der erstmals ins deutsche übersetzte Beitrag von Theodore R. Schatzki eröffnet den Themenblock Praxistheorie zwischen Mikro- und Makroperspektive. Praxeologische Ansätze bezweifeln die ontologische Bedeutung dieser Trennung und gehen von der Annahme aus, dass Individuen und ihre Aktivitäten, ebenso wie Strukturen und Institutionen allesamt als Produkte, Elemente oder Aspekte von Praktiken oder Praxis-Arrangement-Bündeln aufzufassen sind. Die Beziehung zwischen Praktiken und Arrangements lässt sich dann im Hinblick auf Dicke, Direktheit und Grad der Geschlossenheit analysieren, wobei soziale Ordnungen nicht als absolut geschlossene Formationen aufgefasst werden, sondern allenfalls als 'dynamisch stabil' zu verstehen sind.
Stefan Hirschauer fragt anschließend nach der mirkosoziologischen Fundierung der Praxistheorie und schlägt dabei eine Schärfung des praxeologischen Vokabulars vor. In Abgrenzung zum engen Handlungsbegriff klassischer Handlungstheorie beschreibe das 'Acting' in Praxistheorien ein breites Kontinuum menschlicher Aktivitätsformen, die immer schon in eigendynamische Geschehnisse eingebunden sind. Da jedes Tun eine kommunikative Seite habe, würden Praktiken immer auch zu verschiedenen sozialen Entitäten beitragen und soziale Strukturen koproduzieren. Hirschauer zeigt auf, inwiefern die praxeologische Theorieentwicklung durch eine Rückbindung an mirkrosoziologische Grundbegriffe profitieren könne.
Zum Themenblock Positionsbestimmungen
Der zweite thematische Abschnitt des Buches handelt von Positionsbestimmungen und wird mit einem Beitrag von Frank Hillebrandt zur Soziologie der Praxis als post-strukturalistischer Materialismus eröffnet. Unter Bezugnahme auf Pierre Bourdieu und Bruno Latour werden zwei zentrale Begriffe der Praxistheorie – Körper und Dinge – poststrukturalistisch beschrieben und Konsequenzen für weitere Theoriebildung und empirische Forschungspraxis angedeutet.
Der Aufsatz von Elizabeth Shove und Mika Pantzar deutet an, wie empirische Phänomene aus einer praxistheoretischen Perspektive untersucht werden können. Am Beispiel von Digitalfotografie und Floorball machen sie deutlich, wie PraktikerInnen rekrutiert werden und sich Praxisformationen reproduzieren. Dabei rückt die dynamische Beziehung zwischen Praxis-als-Entität und Praxis-als-Performance in den Fokus und es wird deutlich, inwiefern Praktiken durch Wiederholung eine eigene Identität entwickeln und sich von innen heraus modifizieren.
An dem Doppelverständnis von Praktiken-als-Entitäten und Praktiken-als-Performances setzen auch Thomas Alkemeyer und Nikolas Buschmann an. In ihrem Aufsatz über „Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis“ kritisieren sie, dass Praktiken in den Praxistheorien theoriearchitektonisch entweder den Platz von Strukturen einnehmen oder aber der Ort für Konstitution, Veränderung oder Überschreitung sozialer Ordnung sind. Um dieser vereinfachten Interpretation zu entgehen, führen sie das Begriffspaar 'Subjektivierung und Selbst-Bindung' sowie das Konzept der 'Befähigung' ein. Damit soll die immanenten Gleichzeitigkeit von Anpassung und Gegen-Verhalten, Heteronomie und Autonomie besser beschrieben werden können.
Hilmar Schäfer identifiziert in seinem Beitrag zur „Praxis als Wiederholung“ die Überbetonung der Stabilität des Sozialen als ein theoretisches Kernproblem der Praxistheorie. Gegen die Idee einer routinehaften, abbildhaften Reproduktion von Praktiken als Garanten für stabile Ordnungen macht er das Konzept der Wiederholung stark, welches auch Verschiebungen und graduelle Differenzen berücksichtigt. Er zeigt auf, wie ein Verständnis von Praxis als dynamischer Wiederholung am Beispiel von Machtverhältnissen, historischen Transformationen und sozialer Differenzierung gewinnbringend angewendet werden kann, bzw. bereits angewendet wurde.
Zum Themenblock Affektivität und Sinnlichkeit sozialer Praxis
Der Abschnitt zur Affektivität und Sinnlichkeit sozialer Praxis beginnt mit einem Aufsatz von Andreas Reckwitz über „Praktiken und ihre Affekte“. Der Autor fragt nach dem Ort und der Bedeutung von Affekten in Sozialtheorien allgemein und der Praxistheorie im Speziellen und konstatiert eine weitgehende Unsichtbarkeit und Nicht-Berücksichtigung von Affekten. Den Praxistheorien schreibt er das Potential zu, eine affektive Dimension informativ analysieren zu können, sofern sie das Zusammenspiel von Praktiken und Dingen in den Blick bekommen.
Die Sinneskompetenz des Sehens und Wahrnehmens ist das Thema von Sophia Prinz' Beitrag mit dem Titel „Dispositive und Dinggestalten. Poststrukturalistische und phänomenologische Grundlagen einer Praxistheorie des Sehens“. Ausgehend von der These, dass die Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata in Praxistheorien zwar erwähnt, aber nicht ausgearbeitet sind, gibt die Autorin einen Einblick in Wahrnehmungskonzeptionen bei Foucault und Merleau-Ponty. Es wird deutlich, dass Wahrnehmung in Praxistheorien keine anthropologische Fähigkeit ist, sondern von historischen Körper-, Praxis- und Artefaktkonstellationen abhängt, d.h. sowohl auf bilddiskursiven und materiellen Formationen des Dispositivs aufbaut, als auch körperlich inkorporiert wird.
Wie eine praxeologische Perspektive auf Architektur und Gebäude aussehen kann, zeigt Hanna Katharina Göbel in ihrem Aufsatz über „Die atmosphärische Vermittlung der Moderne“. Am Beispiel der Umnutzung von Gebäuden arbeitet sie heraus, wie sich Nutzungsroutinen von Gebäuden verändern und dadurch eine neue atmosphärische Wirkung produziert wird. Indem der praxeologische Blick diese Wandlungsprozesse sichtbar macht, können – so die These der Autorin – neo-marxistische Gentrifizierungstheorien und die Urban Studies innovativ erweitert werden.
Zum Themenblock Darstellungs- und Erkenntnispraktiken
Die folgende Gruppe von Beiträgen legt den Schwerpunkt auf Darstellungs- und Erkenntnispraktiken. Den Aufschlag hierzu macht Herbert Kalthoff, der „Die Darstellung der Ökonomie“ aus einer praxistheoretischen Perspektive in untersucht. Er geht darauf ein, wie ökonomische Märkte und Marktentwicklungen durch Technik, Zeichen und den Körper konstituiert werden, sodass die Praxis der Darstellung auf die Darstellung selbst einwirkt. An dieser Repräsentationspraxis wird schließlich das Verhältnis von Praxis und Handeln und die Materialität der Praxis vertieft.
Dass auch die Konstruktion sozialwissenschaftlicher Theorien als eine komplexe soziale Praxis untersucht werden kann, führt Robert Schmidt aus. „Doing theory“ wird dabei als eine Praxis des Theorie-Schreibens präsentiert, die gleichermaßen körperlich realisiert wird auf Artefakte angewiesen ist und auf der Rekrutierung von PraktikerInnen beruht. Als Erweiterung schlägt der Autor vor, auch das gesellschaftliche Theoretisieren der Leute praxeologisch zu untersuchen, da sie ununterbrochen Konstruktionsarbeit vollbringen und Alltagstheorien entwickeln.
In Larissa Schindlers Beitrag über Fliegen und Ethnografie stehen „Ereignisverknüpfungen“ im Mittelpunkt. Aus einer Doppelperspektive als Reisende und Feldforschende legt sie einerseits dar, wie sich die Flugreise aus einer Vielzahl verketteter Einzelereignisse zusammensetzt, während sie diese Ereigniskette in Form einer teilnehmenden Beobachtung gleichzeitig beforscht. Die dadurch entstehende Verkettung und Verschränkung von sozialen Praktiken, Körpern und Dingen wird anschließend reflexiv eingeholt und als ein innovatives praxistheoretisches Forschungsdesiderat ausgewiesen.
Zum Themenblock Arbeitspraktiken
Den vorletzten Abschnitt zum Thema Arbeitspraktiken leitet Stefan Laube ein. In „Goffman mediatisieren“ macht er Goffmans Konzept von Vorderbühne und Hinterbühne für eine praxeologische Analyse in digitalen Arenen fruchtbar. An den Beispielen Call-Center und Finanzhandel veranschaulicht er den Wechsel zwischen den Bühnen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für soziale Praktiken.
Einen Einblick in die praxistheoretische Soziologie der Arbeit gibt Hannes Krämer in seinem Aufsatz zu „Erwerbsarbeit als Praxis“. Darin stellt er exemplarische einen Arbeitsprozess in der Werbeindustrie vor und analysiert die verschiedenen formellen und informellen Prozesse, die Bedeutung von Artefakten, implizitem Wissen und Körperlichkeit, die allesamt in die Herstellung des Produktes eingehen. Auf diese Weise erweitern praxistheoretische Ansätze ein instrumentell-zweckrationales Verständnis von Erwerbsarbeit und helfen das Verhältnis von Stabilität und Instabilität in kreativen Arbeitsfeldern umfassender zu denken.
Zum Themenblock Soziologie des Alltags
Der Soziologie des Alltags widmen sich die drei letzten Beiträge des Bandes. Zunächst gibt Tobias Röhl eine praxistheoretische Perspektive auf den Schulunterricht, mit der grundlegende und verbreitete Annahmen über das Funktionieren von Wissensvermittlung im schulischen Feld irritiert werden. Bei der Rekonstruktion einer Physikstunde folgt der Autor den Artefakten, Materialien, Architekturen und Körpern und ihrem Beitrag zur Unterrichtssituation. Dabei wird deutlich, das Unterrichten mehr ist, als nur explizite und instrumentelle Wissensweitergabe in einem klar definierten Raum.
Eine praxeologische Kritik an politischen Anrufungen zum nachhaltigen Konsum stellt anschließend Michael Jonas vor. Der Autor kombiniert eine lebensstilorientierte Forschung mit einer praxeologischen Perspektive und entlarvt die Idee eines konsistent nachhaltigen Lebensstils als Illusion. Die Berücksichtigung der im Feld versammelten Alltags- und Mobilitätspraktiken macht deutlich, dass eine moralische Anrufung der BürgerInnen zu nachhaltigem Konsumverhalten keineswegs automatisch eine umweltschonende Lebensweise in breiten Teilen der Bevölkerung herbeiführt, da die Lebenswelt der Subjekte ausklammert werde.
Den Abschluss des Bandes bildet der Aufsatz von Julia Reuter und Diana Lengersdorf über den „‚Alltag‘ der Soziologie und seine praxistheoretische Relevanz“. Die Autorinnen thematisieren zunächst das schwierige Verhältnis von Alltag und Soziologie. Sie verweisen auf die Arbeiten von Jean-Claude Kaufmann und Michel de Certeau und arbeitet heraus, welchen Mehrwert eine stärkere Fokussierung auf das Alltagshandeln der Subjekte aus einer praxeologischen Perspektive hätte. Ins Zentrum geraten dann jene Erwartungen, Konventionen, Normen und Sinnschemata, aber auch die im Alltagshandeln involvierten Körper und Dinge, die scheinbar banales menschliches Handeln wie das Einnehmen einer Mahlzeit vor komplexe Herausforderungen stellt.
Diskussion
Der vorgelegte Sammelband gibt einen informierten und breiten Überblick über den aktuellen Stand praxeologischer Forschung und Theorieentwicklung und wird damit dem eigenen Anspruch „eine Zwischenbilanz der aktuellen Diskussion [zu] ziehen“ in vollem Umfang gerecht. Beeindruckend sind dabei einerseits sowohl die Vielseitigkeit der Beiträge aus dem Bereich der Soziologie, als auch die enge Verzahnung zwischen den aus der theoretischen Diskussion abgeleiteten Fragestellungen und empirischer Forschungspraxis.
So spiegelt sich das für praxeologisch Ansätze charakteristische Ineinandergreifen von Theorie, Methodologie und Empirie in einem Großteil der Beiträge wider. Die theoretischen Erörterungen werden in konkrete Forschungsmethoden übersetzt und auf empirischen Phänomen bezogen, ohne dabei plakativ zu werden. Gerade die Auswahl der Beispiele – eine Flugreise, Fotografie, Schulunterricht oder soziologisches Theoretisieren – sind eingängig und abwechslungsreich und verdeutlichen den analytischen Mehrwert einer praxistheoretischen Perspektive.
Die Tatsache, dass einige Beiträge an ähnlichen theoretischen Herausforderungen (wie z.B. „soziale Ordnung durch Wiederholung“ oder „practice-as-entity“ vs. „practice-as-performance“) ansetzen, wirkt wenig redundant. Vielmehr geben die innovativen und bisweilen konkurrierenden theoretischen Anschluss- und Lösungsoptionen vielversprechende Hinweise, wo der praxeologische Pfad in Zukunft hinführen könnte. Erfrischend ist außerdem, dass in einigen Beiträgen auch solche AutorInnen diskutiert werden, die bisher eher selten im Zusammenhang mit Praxistheorie sichtbar geworden sind (wie. z.B. Jean-Claude Kaufmann).
Fazit
Dem Herausgeber gelingt mit dem vorgelegten Sammelband eine umfassende und fundierte Bestandsaufnahme der Praxistheorie als soziologisches Forschungsprogramm. Das Ensemble der versammelten Beiträge stellt das analytische Potential von Praxistheorien überzeugend heraus und macht neugierig auf ihre Weiterentwicklung. Obwohl die einzelnen Beiträge sinnvoll strukturiert und mit vielseitigen und eingängigen Praxisbeispielen versehen sind, handelt es sich letztlich um ein voraussetzungsvolles Thema aus dem Bereich der Sozialtheorie. Der Band dürfte somit primär ein sozialwissenschaftlich-bewandertes und -interessiertes Fachpublikum ansprechen.
Rezension von
Sven Schwabe
Referent im Landesstützpunkt Hospizarbeit und Palliativversorgung Niedersachsen e.V.
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