Thorsten Fehlberg, Jost Rebentisch et al. (Hrsg.): Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 02.08.2016
Thorsten Fehlberg, Jost Rebentisch, Anke Wolf (Hrsg.): Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus. Herausforderungen und Perspektiven. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2016. 211 Seiten. ISBN 978-3-86321-295-7. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 25,30 sFr.
Thema
Die Folgen der Traumatisierung von NS-Verfolgten verschiedener Opfergruppen für die nachfolgenden Generationen.
Herausgeber
Herausgeber sind vom Bundesverband ‚Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V.‘ der Projektkoordinator Thorsten Fehlberg, der Geschäftsführer Dr. Jost Rebentisch und die für den Bereich Recht und Beratung und Projekte verantwortliche Anke Wolf.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um den Bericht einer Veranstaltung in Berlin des Bundesverbandes ‚Information & Beratung für NS-Verfolgte‘ zum Thema „Zweite Generation“, basierend auf den Ergebnissen von zwei Fachtagungen 2009 und 2011 mit Nachkommen von NS-Verfolgten. Die Veranstaltung und die Veröffentlichung wurden unterstützt von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit der ‚Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V.‘
Aufbau
Auf das Vorwort folgen Berichte über Vorträge und Workshops zu den zwei übergeordneten Themen
- ‚Trauma und Erinnerung‘ und
- ‚Aufarbeitung und Zukunft‘
und ein Nachwort.
Inhalt
Das Vorwort (S. 9-18) enthält die Einleitung der Herausgeber zur Konferenz, eine Ansprache von Rebentisch zur „Zweiten Generation“ und die Eröffnung der Konferenz von dem Vorstand der Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ EVZ Günter Saathoff.
Die Vorträge und Workshops ‚Trauma und Erinnerung‘ beschreiben die emotionalen familiären Konflikte der „Zweiten Generation“, ihre Isolierung, Ambivalenz, Parentifizierung (Miriam Victory Spiegel, Paar- und Familientherapeutin, S. 21-23), die Ressourcenaktivierung für die „Zweite Generation“, indem die transgenerationelle Weitergabe des Traumas verstanden und ihren destruktiven Folgen entgegengewirkt wird (Susanne Guski-Leinwand, Privatdozentin für Geschichte und Ethik der Psychologie, S. 25-32), die epigenetische trangenerationelle Weitergabe von Traumata TTT, Trangenerational Transmission of Trauma bei Kindern von Holocaust-Überlebenden (Natan P.F. Kellermann, klinischer Psychologe bei AMCHA/Jerusalem, S. 33-44) und die Probleme beim ‚Lernen aus den Erfahrungen anderer – Chancen oder Bürde?‘ aus einer sehr persönlichen Perspektive (Stella Shcherbatova, Psychologin, S. 45-49). Für ihre Arbeitsgruppe berichten Jeanine Bochat (ehrenamtlich tätig) und Gabi Mehmel (Soziologin, Pädagogin und Politologin) nach Gesprächen mit Kindern von KZ-Häftlingen unter dem Titel ‚Eine vergessene Generation‘ über Generationen übergreifende Traumatisierungen(S. 51-59) und Elisabeth Kahl, Leiterin von Erzähl- und Begegnungscafés, über die Bedeutung dieser Arbeit für die Nachkommen der NS-Verfolgten (S. 61-66). Die Sozialarbeiterin Maggi Gad beschreibt die Sicht der Zweiten Generation unter dem Titel „Wir sind ebenfalls Opfer – aufgrund von Erinnerungen“ und den schwierigen Anfang für viele Überlebende in Israel (S.67-77) und der Arzt und Psychologe Alexander Bakalejnik die Sozialisation der „Zweiten Generation“ im „Realen Sozialismus“ aufgrund fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz (S.79-83).
Die Vorträge und Workshops ‚Aufarbeitung und Zukunft‘ informieren über die Praxis von Anerkennung und Entschädigung (Michael Teupen, Sozialpädagoge und Psychotherapeut, S. 87-95), die Verfahren zur Restitution von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut gemäß der Washingtoner Erklärung (Jelena Wachowski, Juristin, S. 97-102) und über literarische Verarbeitungen und sehr persönlicher Erfahrungen (der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, S.103-122). unter dem Titel ‚Postmemory und Transgenerationales Trauma‘. Die Psychologin und Psychotherapeutin Marina Chernivsky geht auf die Differenz von personalem und kollektivem Geschichtsbewusstsein ein in ‚Geschichte(n) in einem Raum‘ (S.123-127) und Silvio Peritore, Historiker, Politologe und Ökonom, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma, thematisiert den Völkermord an den Sinti und Roma, die späte Anerkennung und die Folgen für die „Zweite Generation“ (S. 129-139). Die Lehrerin Christa Bröcher und die Bauingenieurin Klara Tuchscherer geben Einblick in die Arbeit der Gruppe Kinder des Widerstands unter dem Titel ‚Antifaschismus als Aufgabe‘, z.B. in der Weitergabe und Vermittlung an Schüler (S. 139-148) und der Historiker Oliver von Wrochem in die Gedenkstättenarbeit in Neuengamme mit den Nachkommen von NS-Verfolgten (S.149-162). Friedrich Boll, Professor für neuere Geschichte, berichtet über einen Workshop ‚Die Zweite Generation in der Selbstaufklärung‘ in drei Stufen: Die Erforschung der Tatsachen, das Durcharbeiten und die Weitergabe (S.163-172). ‚Heimat? – Vielleicht‘ ist der Titel von Anita Haviv-Horiner, Literaturwissenschaftlerin und Mediatorin, die von Interviews und einem Workshop mit Kindern von Holocaust-Überlebenden in Deutschland und Israel berichtet (S. 173-184). Über die Auswirkungen von Verfolgung und Haft während der NS-Zeit auf die Familienmitglieder nach 1945 berichtet die Soziologin, Pädagogin und Psychologin Petra Hörig (S.185-191).
Das Nachwort von Prof. Felix Kolmer, der als Kind in Theresienstadt war, und des Historikers Jost Rebentisch geht zusammenfassend auf die Herausforderungen und Perspektiven der Traumatisierungen der Folgegenerationen nationalsozialistischer Verfolgung ein.
Insgesamt handelt es sich um Untersuchungen zum Thema (Spiegel, Guski-Leinwand, Kellermann, Bakalejnik, Teupen, Wachowski, Brumlik, Chernivsky, Peritore, Hörig), mitunter eingeleitet durch einen sehr persönlichen biografischen Bezug, und um Tagungsberichte und Projekte (Sherbatova, Bochat/Mehmel, Kahl, Gad, Bröcher/Tuchscherer, v. Wrochem, Boll, Haviv-Horiner).
Diskussion
Das Buch, ein Bericht über eine Tagung, bringt einen Überblick sowohl über den Stand der Forschung als auch über die vielfältigen Projekte, die sich mit den transgenerationellen Traumen der Nachkommen der NS-Verfolgten befassen und bietet zudem reichlich Hinweise für weiterführende Literatur. Zweifellos hat die Veröffentlichung auch ein politisches Anliegen, die Verbrechen und ihren Folgen in der Erinnerung wach zu halten.
Je nach Interesse des Lesers wird es sich mehr auf die Tagungsberichte und Projekte oder auf die Untersuchungen, und deren Ergebnisse, fokussieren. Viele Themen, wurden, wie schon die Seitenzahl anzeigt, nur kurz behandelt, was bei einer Tagung angemessen ist, wenn in einer relativ kurzen Zeit sowohl Projekte als auch Untersuchungen vorgestellt werden sollen.
Ich hätte mir beim Lesen allerdings eine andere Einteilung gewünscht, z,B, einmal in auf die Praxis bezogene Projekte und Berichte und des weiteren in wissenschaftliche Untersuchungen, die darauf zielen, in der Vielfalt auch das Gemeinsame und Unterschiedliche (Schweigen oder Offenheit in den Familien und den Generationen, literarische Verarbeitung versus Zeitzeugen-Berichte, politische versus rassistische Verfolgungen) heraus zu arbeiten; die zahlreichen Literaturhinweise sind für den daran interessierten Leser hilfreich.
Wer allerdings sich nicht nur informieren, sondern auch aktiv engagieren möchte, findet Hinweise auf Initiativen, die drauf zielen, nicht nur eine Solidarität mit den Nachkommen der Opfer herzustellen, sondern auch Wege zur Überwindung der Folgen der Traumata, auch wenn die selbst nicht rückgängig gemacht werden können.
Fazit
Das Buch ist ein Tagungsbericht und als solcher zu empfehlen für Leser, die sich informieren möchten und einen Einblick in die Vielfältigkeit der Aktivitäten und Aspekte gewinnen und sich evtl. auch selbst engagieren möchten. Die Beiträge sind überwiegend gut verständlich geschrieben, haben allerdings insgesamt eher einen Berichts- als Diskussionscharakter. Eine intensivere Beschäftigung ermöglichen die vorgestellten Untersuchungen und vor allem die weiter führende Literatur bei den Beiträgen von Guski-Leinwand, Kellermann, Wachowski, Brumlik, Chernivsky, v. Wrochem.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 120 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 02.08.2016 zu:
Thorsten Fehlberg, Jost Rebentisch, Anke Wolf (Hrsg.): Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus. Herausforderungen und Perspektiven. Mabuse-Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2016.
ISBN 978-3-86321-295-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20883.php, Datum des Zugriffs 10.09.2024.
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