Dagmar Jacobs: Das Blau der späten Stunde
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.06.2016

Dagmar Jacobs: Das Blau der späten Stunde. Achtzehn und zwei Erzählungen. edition garamond (Wien) 2015. 114 Seiten. ISBN 978-3-85306-060-5. D: 19,80 EUR, A: 19,80 EUR, CH: 32,70 sFr.
Thema
Denen, die ihre eigenen Wege gehen, jenseits der eingewiesenen und vorgegebenen Pfade, gehört mein Herz! Bei der Suche nach dem Eigenen, dem Individuellen und dem Aufrechten Gang werden uns Navis angeboten, die uns die Richtung und die kürzesten Strecken unseres Lebensweges vorzeichnen und mit dem Versprechen locken, es ginge ohne Umwege, ohne Sackgassen und ohne Stolpersteine voran. Das ist manchmal richtig, weil der Verstand uns sagt, dass nur ein eigenes, möglicherweise egoistisches Verhalten uns auf Irrwege führt, die inhuman und auch unlogisch sind. Der anthorôpos, der Mensch, das haben uns schon die antiken Philosophen beigebracht, nämlich kann zwar als Robinson eine Zeitlang alleine existieren: doch ein gutes, gelingendes Leben ist nur in einer möglichst harmonischen, gerechten, also humanen Welt möglich; auch dass wir als Individuen tagtäglich nicht nur die Verantwortung für unser eigenes Leben mit uns tragen, sondern uns auch die Verantwortung für die gesamte Menschheit aufgebürdet ist. Diese schier nicht zu bewältigende Aufgabe stellt uns vor Herausforderungen, die sich anmuten wie die von Sisyphos, der von den Göttern dazu verdammt wurde, einen riesigen Felsbrocken den Berg hinaufzuwälzen, der kurz vor dem Ziel immer wieder zurückrollt. Während im philosophischen Denken diese Zumutung als ein Beispiel für Scheitern interpretiert wird, hat der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus einen Kontrapunkt gesetzt, indem er darauf hinweist: „Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“; vor allem deshalb, weil er immer wieder gegen sein Scheitern seinen unermüdlichen Optimismus, seine Lebenskraft und seinen Lebensmut setzte.
Autorin und Inhalt
Mit dem weit ausholenden Bezug soll auf das Buch der Malerin, Bildhauerin, Gesundheitscoacherin und Mitautorin eines Praxishandbuchs für Coaches und BeraterInnen, Dagmar Jacobs verwiesen werden. Die in der zwischen Hildesheim und Hannover liegenden Kleinstadt Sarstedt lebende Autorin legt bereits ihr zweites Buch mit diesem Titel „Das Blau der späten Stunde“ vor. Ihr Schreibtalent ist uns schon bei ihrem ersten Buch aufgefallen (Dagmar Jacobs, Dem guten Tag flieht nie die Nacht. Vierzehn Geschichten, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/16510.php).
Der italienische Psychotherapeut Eugenio Gaddini (1916 – 1985) hat einmal den Rat erteilt: „Wenn ihr eine Idee habt, einen Gedanken – so unvollkommen er euch auch erscheinen mag – zeichnet ihn auf, schreibt ihn nieder. Auch wenn es nur ein Satz ist, eine halbe Seite, eine Seite. Lasst nichts verloren gehen, bewahrt die Notizen auf; eines Tages findet ihr sie wieder; und die Verbindungen zwischen den verschiedenen Ideen nehmen Gestalt an“ (Eugenio Gaddini, „Das Ich ist vor allem ein körperliches“. Beiträge zur Psychoanalyse der ersten Strukturen, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19463.php). Es könnte sein, dass Dagmar Jacobs vielfältiges, künstlerisches und kommunikatives Schaffen sich an den Prämissen orientiert, wie sie von Gaddini und anderen propagiert werden. In den zwanzig Erzählungen, die sie im „Blau der späten Stunde“ flüstert, summt, sehnt, singt, tanzt, aussitzt und schreit, werden Gefühle, Erinnerungen, Sehnsüchte und Befürchtungen wach, die sowohl als individuelle Zuschreibungen, wie als Adressen an Erlebtes und Ersehntes wirken.
Es sind Nah- und Weitblicke, die in kurzen, vieldeutigen Sätzen daher kommen und sich mit Wünschen und Erschrecken verbinden, und doch Alltägliches und Erlebtes spiegeln,auch wenn manchmal dabei nur Scherben und Fetzen übrig bleiben. Es sind Schilderungen, bei denen die eigene Betroffenheit und der eigene Ursprung nicht verleugnet wird, wie auch solche, die wie Berichte klingen. Immer aber hat man das Gefühl, es geht um Gefühle, um das Eigene und das Andere, um die Zwänge wie Bedürfnisse zur Anpassung und zum Widerstand: „Ich will nicht singen…, nicht stehen wie all die anderen…“. Es sind Geschichten aus den Urgründen der eigenen Existenz, den Irrungen, Wirrungen und von den Angehörigen vorbereiteten Wegen, die ein Wegtreten nicht erlauben oder angesagt sein lassen – und die trotzdem, im Trotz und im Übermut, gegangen werden, damals, in der eigenen Kindheit und Jugend, bis heute! Und immer wieder das Warten – Worauf? – das ungeduldige Fragen, die Ungeduld überhaupt, die scheinbar, beinahe zwanghaft wirkend, ihr Leben bestimmt, ihre Neugier bei der Suche nach…? Nach den Sternen, nach dem Trotzdem, und auch nach dem „Ach“.
Fazit
Erzählungen vom Ich und vom Sein in den alltäglichen Zeiten, wie in den Erinnerungen, Phantasien und Visionen, liest man nicht einfach in einem Satz. So wie sie entstehen, in Erlebnis-, Erfahrungs- und Wunschzeiten, müssen sie auch gelesen werden. Das kann als Bettlektüre sein, am Wochenende, wenn man zur Ruhe kommt, im Urlaub, oder auch zu Gelegenheiten, bei denen man einfach Lust verspürt, sich zurück zu lehnen und eine kleine Geschichte zu lesen. Man braucht nicht zu übertreiben oder auch die Texte zu überschätzen oder gar ein Therapeutikum hinein denken, um festzustellen: Die Erzählungen von Dagmar Jacobs können das eigene Nachdenken über sich und sein individuelles und gesellschaftliches Dasein hin zu einem guten, gelingenden Leben befördern.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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