Helga Simchen: Essstörungen und Persönlichkeit
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 15.07.2016

Helga Simchen: Essstörungen und Persönlichkeit. Magersucht, Bulimie und Übergewicht - Warum Essen und Hungern zur Sucht werden. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2016. 2., aktualisierte Auflage. 210 Seiten. ISBN 978-3-17-029306-9. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Autorin
Dr. med. Helga Simchen ist Fachärztin für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie und Psychotherapeutin. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich der AD(H)S.
Thema
Der Schwerpunkt des Buches liegt in der Beschreibung von Essstörungen als stressbedingte AD(H)S-Spektrumsstörung. Die Sichtweise, Essstörungen als Folge von Beziehungsstörungen und psychisch belastenden Ereignissen anzusehen, ist für Helga Simchen überholt. Essstörungen beruhen für die Autorin zumeist auf einer genetisch bedingten und somit vererbten Persönlichkeitsvariante. In deren Folge käme es in der Regel durch frustbedingte, automatisch ablaufende Fehlreaktionen zu einem krankhaften Essstörung (Magersucht, Bulimie oder Adipositas). Diese von ihr als Suchtstörungen verstandenen Phänomene würden oft in einem Zusammenhang mit der AD(H)S stehen. Neurobiologische Erkenntnisse der letzten Jahre erforderten, so die Autorin, ein Umdenken in der Psychiatrie. Der Mensch müsse als Ganzes gesehen werden, Körper und Psyche würden eine untrennbare Einheit bilden. Für die Prävention sei es bedeutsam diese Störungsformen frühzeitig zu erkennen. In diesem Buch soll eine ursachenorientierte Sichtweise beschrieben werden, auf der neue therapeutische Strategien gründen.
Die 1. Aufl. erschien 2010, die 2. „aktualisierte“ Aufl., wurde durch einen anderen Druck um 28 Seiten erweitert, in der aktuellen Auflage enthält es fast keine inhaltliche Veränderung und keine Erweiterung durch neue Literatur.
Aufbau und Inhalt
Bereits im Vorwort wird die Entstehung von Essstörungen als Folge einer genetisch bedingten und somit angeborenen Persönlichkeitsvariante beschrieben. Die betroffenen Personen würden viel zu empfindlich gegenüber Emotionen und Stress reagieren, anhaltende psychische Belastung führe zu einem emotionalen Dauerstress, der destabilisiert und die Leistungsfähigkeit, das Verhalten und somit das Selbstwertgefühl und die soziale Kompetenz beeinträchtige. Um dieser psychischen Destabilisierung entgegenzuwirken würde über Essen oder dessen Verweigerung reagiert (Simchen, S. 11).
Das erste Kapitel beschreibt einführend Essstörungen als Konflikt zwischen „Wollen und Können“. Zusammenhänge zwischen Essstörungen und Persönlichkeiten werden vorgestellt, dies beinhaltet Hinweise auf biologisch fundierte Ansätze, bei denen besonders bei Menschen mit anlagebedingten Besonderheiten in der Informationsverarbeitung typische psychische Überforderungsreaktionen ausgelöst werden. Anschließend wird kurz auf soziokulturelle Faktoren eingegangen.
Das zweite Kapitel beschreibt die Bedeutung der Veranlagung, der Erziehung und des sozialen Umfeldes für das Essverhalten.
Im dritten Kapitel wird die Magersucht als Folge einer genetisch geprägten Persönlichkeitsstruktur mit reaktiver Fehlentwicklung beschrieben. Die Magersucht wirkt bei vielen Kindern, Jugendliche und Erwachsenen wie eine psychotrope Substanz, die der zyklischen Stabilisierung dient und über die Zwanghaftigkeit zu einer Sucht führt. Soziokulturelle Faktoren tragen zur Entstehung der Anorexie bei. In Bezug auf psychische Traumen in der Kindheit führt die Autorin aus (S. 82): „In der Vergangenheit wurden psychische und körperliche Beschwerden streng voneinander getrennt, nicht nur in der medizinischen und psychologischen Praxis, sondern auch in der Forschung. Auf der Suche nach den Ursachen für frühe psychische Störungen setzte man bei den Träumen und Erinnerungen der Kinder an, um Hinweise auf mögliche Konflikte zu finden. Nicht selten jedoch wurden den betroffenen Kindern dabei Erinnerungen suggeriert, die so als Tatsachen niemals existierten.“
Im vierten Kapitel wird ein Überblick über die Bulimie und im fünften Kapitel über Essanfälle und Übergewicht (Adipositas) gegeben. Erneut werden neurobiologische Ursachen und Stressfaktoren fokussiert.
Im sechsten Kapitel steht das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS) als eine häufige Ursache vieler Essstörungen im Zentrum der Ausführungen. Die AD(H)S wird als eine genetisch bedingte überschießende Stressreaktion beschrieben. Eingehend berichtet die Autorin, dass sehr viele erwachsene Frauen die mit einer typischen AD(H)-Problematik in ihre Praxis kämen und über frühere und zum Teil bis in die Gegenwart bestehende Essstörungen berichten. Beschrieben werden Ähnlichkeiten der Familien mit essgestörten Mitgliedern und von AD(H)S- Familien (ohne Literaturangaben). Behauptet wird im Kapitel 6.3, dass sich eine AD(H)S über mindestens 15 sogenannte Kandidatengene vererbt. Kommunikationen der einzelnen Mitglieder einer von ADHS betroffenen Familie seien oft recht oberflächlich. Irgendeiner rege sich in einer ADHS-Familie immer zu schnell und zu heftig auf, woraufhin die anderen in eingeschliffenen Bahnen reagieren (S. 166). Andere familiäre Konstellationen werden nicht beschrieben.
Verwiesen wird darauf, dass die derzeitigen Leitlinien zur Behandlung von Essstörungen den Zusammenhang mit einer AD(H)S nicht erwähnen. Dies sei auch deswegen von Bedeutung, da die Behandlung einer Essstörung um vieles leichter sei, wenn eine ADS ohne Hyperaktivität als auslösende Ursache diagnostiziert sei. Leider würden bislang für die ursächliche Verknüpfung der beiden Störungsbilder noch keine klinischen Studien vorliegen. Im kurzen Kapitel 6.5 über Essstörungen als Folge einer traumatischen Belastung in der Kindheit wird als besorgniserregend bezeichnet, dass Therapeuten den Betroffenen einen (angeblichen) Missbrauch als Ursache ihrer Essstörung suggerieren würden. Nicht selten würde so aus dem Pool der Erinnerungen eine „passende“ Erklärung gefunden oder „passend“ gemacht (S. 173).
Im siebten Kapitel über notwendige neue Therapiestrategien wird aufgefordert nach einer AD(H)S Symptomatik im familiären Umfeld zu suchen. Verhaltenstherapie und eine ergänzende medikamentöse Therapie werden als Kern der Behandlung einer solchen Störung benannt.
In den kurzen Kapiteln acht wird die Selbsthilfe und im neunten Kapitel die Prävention fokussiert.
Das Buch schließt mit einem Anhang mit Adressen über Kontaktstellen für Menschen mit Essstörung, eine Befindlichkeits-Skala, einer Skala zur Diagnostik und Verlaufskontrolle einer Magersucht, 20 Tipps und Ratschläge um Übergewicht zu verringern und einem Stichwortverzeichnis.
Aufgelockert wird der Text durch Fallbeispiele und die Markierung von Kernaussagen.
Diskussion
Dem Vorwort (S.11) wird der Satz „Wenn die Seele hungert, reagiert der Körper mit einer Essstörung!“ vorangestellt. Bereits dieser Satz weist auf einen stark eingeengten Ansatz hin. Aus der Perspektive der Autorin wurden Essstörungen bisher in erster Linie als Folge von Beziehungsstörungen oder psychisch schwer belastenden Ereignissen in der Kindheit angesehen. Diese Sichtweise sei überholt. Essstörungen würden auf einer genetisch bedingten und somit vererbten Persönlichkeitsvariante beruhen. Die Bedeutung von Traumata wird nur am Rande erwähnt. So wird z.B. darauf verwiesen (ohne Quellenangabe) dass der sexuelle Missbrauch, die Angst vor der Rolle als Frau und die Ablehnung der Sexualität im Hinblick auf ihre Häufigkeit bei der Entstehung einer Essstörung nur eine geringe Rolle spielen würden (S. 82).
Häufig wird die These wiederholt, dass Essstörungen häufig als Folge einer zuvor nicht erkannten oder bisher nicht behandelten Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ohne Hyperaktivität zu betrachten seien. Nur selten erfolgt ein Hinweis auf Quellen, eigene empirische Studien werden nicht vorgestellt. Beispiele für Angaben ohne Quellen sollen genannt werden: Die Sterblichkeitsrate bei Anorexie betrage 23 % (S. 19), Wissenschaftler (S. 25) würden anhaltendes und unstillbares Schreien eines Babys bisher ausschließlich als Symptom einer Drei-Monatskolik deuten. In den Ausführungen über das Schulsystem (S. 21f) wird ohne Quellenangabe darauf hingewiesen, dass das gleichzeitige aufzeigen zu vieler unterschiedlicher Rechenwege, das ständige Umsetzen in den unteren Klassenstufen oder die heute häufig anzutreffende Anordnung des Tische und Stühle in Sechsergruppen belastend seien.
An einem weiteren beispielhaften Punkt soll die verkürzte Darstellung der Autorin aufgezeigt werden. In Bezug auf die Genderproblematik referiert die Autorin, dass Frauen ein empathisches Gehirn besitzen, Männer hingegen ein strategisches (S. 33). Hieraus folgert sie (S. 34): „Es sind vor allem jungen männliche Jugendliche mit einem Empathie-Gehirn, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen eine Essstörung entwickeln können.“
Die Autorin negiert in ihrem Buch den umfassenden biopsychosozialen Forschungsstand (siehe Meerbaum und Vandereycken, H. Bruch, A. Franke, S. Orbach, M. Vogelsang, G. Reich) und verengt die Erklärung und Beschreibung dieser komplexen Phänomene. Sie unterschätzt die zirkulären Mechanismen der Selbstorganisation und der Emergenz in Bezug auf die psychoneuroimmunologischen Wirkwege (vgl. Schubert 2015 [1])
Fazit
Simchen weist mit der Thematisierung der ADHS auf die Bedeutung eines bisher sehr wenig thematisierten Aspekts der Frage nach der Ursache von Essstörungen hin. Empirische Forschungsbelege werden hierfür nicht vorgelegt. Leider verkürzt Simchen bei der Frage nach den Ursachen von Essstörungen die Bedeutung weiterer, insbesondere soziokultureller, Faktoren. Zudem verortet sie die Entstehung der Essstörungen auf viele Jahre vor der Pubertät (S. 13), sie negiert damit die mögliche Entstehung von Essstörungen in späteren Lebensjahren. Der von ihr erwähnte biopsychosoziale Ansatz wird nicht zirkulär gedacht.
[1] Schubert, Christian (2015): Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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