Uwe Tewes: Psychologie im Familienrecht - zum Nutzen oder Schaden des Kindes?
Rezensiert von Dr. Herwig Grote, 22.11.2016
Uwe Tewes: Psychologie im Familienrecht - zum Nutzen oder Schaden des Kindes? Springer (Berlin) 2016. 166 Seiten. ISBN 978-3-662-48925-3. D: 14,99 EUR, A: 15,41 EUR, CH: 19,00 sFr.
Autor
Prof. (i.R.) Dr. Uwe Tewes war Leiter eines Psychologischen Instituts an der Medizinischen Hochschule Hannover und mehr als vier Jahrzehnte nebenamtlich als forensischer Sachverständiger tätig.
Schwerpunkte seiner Forschungsarbeiten stellten die Entwicklung neuer Testverfahren für die klinisch-psychologische Diagnostik, insbesondere der Entwicklung verschiedener Leistungstests und Persönlichkeitstests zur Überprüfung der geistigen Entwicklung, der Sprachentwicklung und der emotionalen Belastbarkeit, sowie Arbeiten zur Prävention und Gesundheitsförderung im Gesundheitswesen und die Psychoneuroimmunologie dar (vgl. http://www.forschungsprofile-niedersachsen.de).
Thema
Vor dem Hintergrund einer kritischen öffentlichen Diskussion kindschaftsrechtlicher Begutachtungen in familiengerichtlichen Verfahren und der gegenwärtigen Qualitätsdebatte von Sachverständigengutachten (nicht nur im Familienrecht) ist mit der Publikation das Anliegen verbunden,
- „in erster Linie Eltern darüber zu informieren“, worauf sie sich im Falle einer familiengerichtlichen Anordnung eines Sachverständigengutachtens einstellen müssen und wie Chancen und Risiken einzuschätzen sind.
- Gleichzeitig sollen Lesern anderer Professionen, wie Juristen, Mitarbeiter der Jugendämter und Verfahrensbeistände die Arbeit von Sachverständigen „ein wenig transparenter gemacht werden.“
- Letztlich, so Uwe Tewes, handele es sich um eine Anleitung zum zweckdienlichen, sachlich begründeten, lösungsorientierten und konfliktvermeidenden Vorgehen mit einem Einstieg in die sehr komplexe Problematik in einer Form, die auch für psychologische und juristische Laien verständlich sein soll.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in sieben Kapitel gegliedert. Die Darstellung ist auffallend komplex, so dass Redundanzen nicht zu vermeiden sind, damit die einzelnen Kapitel und Abschnitte weitgehend aus sich heraus verständlich sind.
Kapitel 1 „Kindeswohl und elterliche Sorge“ führt in die Problematik von Trennungsfamilien ein. Tewes fokussiert auf Probleme der Eskalation des Trennungskonfliktes, Folgen für die Kinder, die Delegation der elterlichen Verantwortung an das Familiengericht bzw. an Fachkräfte / Experten, und fokussiert sodann auf die Kopplung von elterlichen Rechten und Pflichten sowie die Rechte und das Wohl von Kindern.
Kapitel 2 „Das Konfliktfeld und die beteiligten Akteure“ führt zu den formalen Bedingungen des familiengerichtlichen Verfahrens und deren vielfältigen Anlässe sowie nebenher den motivationalen Bedingungen der Eltern aus. Übersichtlich wird zur Rolle und den Aufgaben des Jugendamts und des Verfahrensbeistands ausgeführt, zur Wahl eines geeigneten Rechtsbeistandes (mit der Empfehlung an Eltern, keinesfalls auf einen Rechtsbeistand zu verzichten) sowie zur Auswahl des Sachverständigen, welche bisher alleinig der Entscheidung des Familiengericht obliegt. Kritisch wird von Uwe Tewes die Einholung von Privatgutachten bewertet (S. 41 f.), welche jedoch häufig die einzige Möglichkeit darstellen, zeitnah ein Sachverständigengutachten zu hinterfragen. Kritisch wird auch das „Cochemer Modell“ und die „Hannoversche Familienpraxis“ diskutiert: es würde eine Paradoxie bei Verordnung eines Einvernehmens entstehen, weil das Kind aus der Subjektrolle in die Objektrolle gedrängt würde.
Kapitel 3 „Psychologische Hilfen bei Problemen mit elterlicher Sorge und Umgang“ behandelt die außergerichtliche Konfliktbehandlung, von Eltern einzufordernde Regeln für die Tätigkeit von Sachverständigen, die überhöhte Rolle von Sachverständigen gegenüber Eltern und Handlungsspielräume von Eltern im gutachterlichen Verfahren. Bei sachlich sehr verdichteter Darstellung geht Tewes auch auf die methodische Kontroverse zwischen entscheidungsorientierte und lösungsorientierter Begutachtung ein. Tewes ist es ein Anliegen, den Eltern Optionen der Teilnahme wie auch der Verweigerung am Begutachtungsverfahren zu vermitteln und ihnen zu ermöglichen, Risiken und Chancen ihrer Einflussnahme abzuwägen.
Kapitel 4 „Eigenverantwortliches Handeln und Mitdenken der Eltern bei der Begutachtung“ erscheint mir als Herzstück der Publikation und stellt übliche Schritte gutachterlicher Tätigkeit sachlich fundiert und weitgehend allgemeinverständlich dar – verknüpft mit vielen praktischen Ratschlägen für Eltern. In übersichtlicher Form werden die wesentlichen Phasen des Begutachtungsverfahrens dargestellt:
- Vorbereitung auf die Begutachtung (für Eltern)
- Prüfung der gerichtlichen Beweisfrage – also des Auftrags an den Sachverständigen
- Kontaktherstellung zwischen Eltern und Sachverständigem
- Das Erstgespräch mit dem Gutachter
- Die Aktenlage – Berücksichtigung von „Anschlusstatsachen“ durch den Sachverständigen
- Die Exploration der familiären Beziehungen: Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen
- Testdiagnostik – schriftliche Befragungen (von Tewes sehr kritisch und fundiert diskutiert)
- Befunderstellung und gutachterliche Empfehlungen
- Stellungnahme der Eltern zum Gutachten
Das Fazit zu diesem Kapitel beginnt mit der Bemerkung: „Es ist unbestreitbar, dass manche Gutachten, möglicherweise sogar viele, gravierende Mängel aufweisen.“ Dennoch werden die Eltern zu einem besonnenen und selbstbewussten Verhalten ermutigt und darin – wohl effektiv – unterstützt.
Tewes behandelt sodann zwei Extremkonstellationen familiengerichtlicher Auseinandersetzung. In Kapitel 5 „Hoch eskalierte Trennungskonflikte“ beschreibt er die Dynamik sogenannter hochstrittiger Trennungsfamilien mit dem Bemühen, den anderen Elternteil auszugrenzen und also dessen Kontakt zum Kind nach Möglichkeit vollständig zu unterbinden (ggf. „um jedem Preis“ mit erheblichen Beeinträchtigungen der Kinder). Skeptisch beurteilt Tewes die Möglichkeiten von Sachverständigen, derartige Konfliktlagen deeskalierend zu beeinflussen und verweist auf die Verantwortung des Familiengerichts und Potentiale von Beratungs- und Therapieangeboten.
In Kapitel 6 diskutiert Tewes sodann die Inobhutnahme von Kindern, wenn also der Staat wegen (akut) drohender Kindeswohlgefährdung entsprechend §1666 BGB interveniert und also die Erziehungsfähigkeit von Eltern sehr weitgehend infrage gestellt wird. Die methodischen Anforderungen an den Sachverständigen seien sehr hoch und hinreichend sichere Prognosen häufig nicht ableitbar – nicht selten würden Gefälligkeitsgutachten im Interesse der Jugendämter resultieren.
Abschließend, in Kapitel 7, resümiert Tewes zur Qualität von familiengerichtlichen Gutachten. Er hebt die Kontroverse zwischen entscheidungs- und lösungsorientierten Gutachten, die Notwendigkeit der Entwicklung eines Qualitätsmanagements und eine Verbesserung der Auswahl von Sachverständigen hervor. Eltern in Konfliktsituationen seien noch immer einer Dominanz der Experten ausgeliefert.
Diskussion und Fazit
Die Publikation von Tewes kann betroffenen Eltern uneingeschränkt empfohlen werden. Tewes gelingt es, die Perspektive von Eltern aufzunehmen und ihnen viele praktische Ratschläge in übersichtlicher Form nahezubringen. Zugleich ist seine Darstellung sehr informativ und diskutiert aktuelle fachwissenschaftliche Standpunkte und Entwicklungen, ohne sich von jedweder Interessensgruppe vereinnahmen zu lassen. Entsprechend kann das Buch auch lernenden Sachverständigen oder solchen, die ihre berufliche Routine auffrischen wollen, Mitarbeitern der Jugendhilfe, Rechtsanwälten, Mediatoren u.a. nahegelegt werden.
Kritisch kann wohl angemerkt werden, dass Tewes seiner eigenen Profession als Psychologe, als Entwickler von psychologischen Testverfahren und als erfahrener Sachverständiger verhaftet bleibt. Wünschenswert wären (noch) klarere Worte zu weit verbreiteten Problemen familienrechtlicher Gutachten gewesen. Dass sich auf die massiven öffentlichen Beschwerden nun eben wieder dieselben (Berufs-)Verbände in Position bringen und ihre eigenen Interessen protegieren, lässt eher wenig Optimismus ableiten.
Dennoch ist vieles in Bewegung gekommen. Nicht zuletzt das Cochemer Modell hat, auch wenn Tewes begründete Kritik hieran übte, viele Anregungen gegeben die breit aufgenommen wurden. Es wird wohl ein Wandel des beruflichen Selbstverständnisses von Sachverständigen erfolgen (müssen) derart, dass sie sich nicht mehr als Diagnostiker und somit als wissenschaftliche Dienstleistende mit Objektivitätsanspruch verstehen, sondern sich vielmehr als Berater bzw. Moderatoren verstehen, welche mit den Beteiligten zusammen gerichtsanhängige Konflikte bearbeiten, welche sowohl den Dialog der Beteiligten und damit auch deren Realitätsbezug befördern. Ein solcher Perspektivenwechsel wird bereits praktiziert und ist zugleich mehr als überfällig.
Rezension von
Dr. Herwig Grote
Dipl.-Soziologe, Systemischer Therapeut / Familientherapeut (DGSF). Langjährige Lehrtätigkeit an Hochschulen der Sozialen Arbeit. Sachverständiger in kindschaftsrechtlichen Verfahren.
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Zitiervorschlag
Herwig Grote. Rezension vom 22.11.2016 zu:
Uwe Tewes: Psychologie im Familienrecht - zum Nutzen oder Schaden des Kindes? Springer
(Berlin) 2016.
ISBN 978-3-662-48925-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20938.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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