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Aleksander Knauerhase: Autismus mal anders

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 18.10.2016

Cover Aleksander Knauerhase: Autismus mal anders ISBN 978-3-7412-3501-6

Aleksander Knauerhase: Autismus mal anders. Einfach, authentisch, autistisch. Books on Demand GmbH (Norderstedt) 2016. 204 Seiten. ISBN 978-3-7412-3501-6. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.

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Thema

Das Buch legt die Innensicht eines Menschen aus dem autistischen Spektrum dar: Autismus wird als eine Reizfilterschwäche verstanden. Der Autor schreibt über sein Leben in einem Umfeld, das so gar nicht für Autisten geschaffen ist. Er nimmt die Leserschaft mit auf eine Reise vom Zeitpunkt der Diagnose 2009, da ist er 35 Jahre alt, bis heute und zeigt dabei, wie Autisten und Nichtautisten sich gegenseitig bereichern können. Im Teil „Therapie“ setzt er sich kritisch mit ABA auseinander.

Autor

Aleksander Knauerhase ist Jahrgang 1974. Er studierte Informatikwissenschaften und Bibliothekswesen. Seitdem er 35 ist und er seine Diagnose erhielt, beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema Autismus z.B. in seinem Blog „Quergedachtes“ oder als freiberuflicher Referent. Er lebt mit seiner Frau, zwei Katzen und einem Pferd in Wiesbaden.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst 202 Seiten und ist im Softcoverformat erschienen. Es gliedert sich in neun Kapitel, die nicht durchnummeriert sind. Diese Kapitel gliedern sich in zahlreiche Unterkapitel. Im Fließtext findet man Stichworte in Fettdruck, die in dieser Form den Text gliedern. Das Buch enthält viele persönliche Beispiele und jedes Kapitel endet mit Gedanken und meist mit etwas Positivem.

  • Einleitung
  • Wahrnehmung
  • Autismus
  • Therapie
  • Gesellschaft
  • Sprache
  • Inklusion
  • Specials
  • Gedanken zum Schluss

Das Buch beginnt mit Worten zur Wegbegleitung sowie einem Vorwort. Angefangen hat alles mit seinem Blog „Quergedachtes“, geschrieben in seinem Findungsprozess „was ist für mich Autismus, was verstehe ich darunter und was bedeutet Autismus für mein Leben? Dabei kam so viel Text Material zusammen, dass er sich irgendwann entschloss, daraus ein Buch zu machen.“

In der Einleitung gibt Knauerhase einen Überblick über das, was er unter Autismus versteht, was Autismus für ihn bedeutet. Neben zahlreichen authentischen Informationen sind im Text auch Gedanken eingestreut, die nicht direkt den Autismus beschreiben, die Denkanstöße geben sollen und einladen, gemeinsam nachzudenken, was Autismus in verschiedenen Lebensbereichen bedeuten kann.

Es folgt ein Kapitel über die autistische Wahrnehmung und deren Grundlagen. Autismus ist eine Reizfilterschwäche, „atemberaubend und ohrenbetäubend“ (S.14). Für den Autor ist das Verständnis der anderen Wahrnehmung einer der Schlüssel zur Welt der Autisten. Reize prasseln ein und es gibt keine „reizfreie“ Zeit. Das Gehirn ist gefordert und wird außerordentlich belastet. Autisten stehen ständig unter Strom und so ist es auch nicht verwunderlich, dass es zu einem sog. „overload“ kommt. Gelingt es nicht, der Situation zu entkommen, kann es zu einem Ausbruch kommen, der oft als Wutausbruch verstanden wird, aber keiner ist. Vielmehr geht es dabei darum, dass sich die Spannung löst. Ein derartiger Ausbruch ist sehr kräftezerrend und kann tagelang nachwirken. Und bei manchen Autisten kann es darüber hinaus zu einem sog. „meltdown“, einer Kernschmelze kommen, was Knauerhase als eine Art „Notabschaltung des Gehirns“ beschreibt, aus Sicht des Menschen mit Autismus eine Schutzmaßnahme (S.16).

Anhand der einzelnen Sinne wird danach die Art, wie Reize aufgenommen werden, erklärt. Menschen mit Autismus sind in der Lage Dinge aufzunehmen, die Menschen ohne Autismus (die sog. Neurotypischen) gar nicht erfassen können. Zu jedem Sinneskanal gibt er dabei anschauliche Beispiele. Bei autistischen Menschen ist der Tastsinn besonders ausgeprägt. Dabei liegt die Faszination nicht in der Gesamtheit der Dinge, sondern eher in den kleinen Details, Materialien und Strukturen.

Viele Autisten sind berührungempfindlich, in Bezug auf Kleidung, aber auch in Bezug auf das Nähe – Distanz – Verhältnis oder bei Berührungen. Knauerhase hat dafür folgendes Bild: Ein Mensch ist von konzentrischen Kreisen umgeben, in deren gemeinsamen Mitte der Betreffende steht. Den äußeren Kreis bezeichnet er als öffentliche Zone, es gibt eine private Zone und der innere Kreis ist die intime Zone. Der Unterschied zwischen Autisten und Nichtautisten ist, wie weit die einzelnen Zonen gefasst sind, aus seiner Erfahrung sind die Zonen der Autisten weiter gefasst, was z.B. bei Arztbesuchen bedeutsam ist.

Das Kapitel Autismus beginnt mit einer sehr persönlichen Beschreibung der sechs Stufen eines overloads:

  1. Unbewusste Kompensation
  2. Bewusste Kompensation
  3. Konzentration
  4. Tunnelblick oder das Leben in einem Film (overload)
  5. Der Meltdown
  6. Der Shutdown oder die komplette Leere.

Die Stufen fließen ineinander über und müssen nicht unbedingt in dieser Reihenfolge auftreten. An diese Ausführungen schließt sich die Beschreibung von Strategien zum Überleben an. Ein Schlüssel liegt für den Autor darin, diese Reizüberflutung als Unsicherheit des Lebens zu akzeptieren und einen Umgang zu finden. Er beschreibt sächliche und personelle Maßnahmen, die Sicherheit geben, wie z.B. geplante Tagesabläufe, eine gleichbleibende Umgebung, Routinen sowie eine „portalbe Sicherheit“ (S.38) oder auch eine Begleitung durch eine Person, in seinem Fall seine Lebensgefährtin bilden Unterstützungsmöglichkeiten. Er berichtet über ihre Rolle als Begleitung in seinem Studium.

Es folgt ein Abschnitt über das weit verbreitete Vorurteil, Autisten hätten keine Gefühle. Aus seiner Sicht liegt das Problem darin, dass das Portfolio eingeschränkter ist, wenn es darum geht, Gefühle zu definieren und nicht darin, Gefühle zu empfinden (S.42). Auch das Kapitel über menschliche Begegnungen ist spannend, denn er beschreibt, dass bei ihm die Gesichtserkennung wie ein Puzzle funktioniert. Statt ein Gesicht als Ganzes zu sehen sieht er Augen, Nase, Mund wie ein Menschenpuzzle. Zum Erkennen des Gegenübers gehört für ihn die Sprache. Druck und Hilflosigkeit sind Autisten nicht fremd und stehen häufig in Zusammenhang mit Aggressionen. Knauerhase definiert Wutausbrüche als Ergebnis einer gescheiterten Kommunikation zwischen dem Autisten und seiner Umwelt. Ein Autist möchte dabei aber niemandem schaden, es hat auch nichts mit Boshaftigkeit zu tun! In diesem Unterkapitel wird auch das Thema „Selbstverletzung“ behandelt. Aus Erfahrung weiß der Autor, dass Menschen mit Autismus nicht selten als soziale Rüpel bezeichnet werden (S.53). Und gleichzeitig berichten viele Autisten darüber, für ihre Umwelt quasi unsichtbar zu sein und übersehen zu werden, andere schützen sich mit Tarnkappen oder Masken. Als Autist ist man zwischen diesen Polen hin und hergerissen.

Das Kapitel Therapie befasst sich nochmals mit der Diagnose Autismus. Knauerhase teilt die unterschiedlichen Therapieangebote in drei Kategorien ein: 1.die, die in der Durchführung sehr viel Geld kosten und nicht selten Wunder oder Heilung versprechen. 2. Die die den Autisten gesellschaftstauglich bzw. „gesellschaftskonform“ (S. 79) machen wollen, bei denen man lernt, sich „normal“ zu verhalten wie z.B. ABA, auf diese Therapie geht er in einem eigenen Abschnitt (S. 82-86) genauer ein und 3. die Therapieformen, die Wert darauf legen, eine für den Autisten angepasste Umgebung zu schaffen und Hilfestellungen zu vermitteln, aber eben nicht wie bei ABA über Konditionierung, sondern über ein angepasstes Umfeld. In dieser dritten Kategorie geht es darum, dem Menschen mit Autismus die Welt verständlich zu machen und ihm Erklärungen zu geben, wie die nichtautistische Welt funktioniert. Dieser Weg dauert länger, aber ist auf jeden Fall lohnenswert, wie Knauerhase aus eigener Anschauung weiß! Das Kapitel schließt mit dem Thema Tiere und Autismus sowie dem Thema Körperwahrnehmung und Entspannungstechniken.

Im Kapitel Gesellschaft will der Autor anhand bekannter Stereotypien bzw. Vorurteile über Autismus aufklären. 1. Autisten sind savants und haben eine Inselbegabung?!, 2.Autisten können nichts?! und 3.Autisten leben in einer eigenen Welt?! In diesem Kapitel beleuchtet er die Diagnose Autismus aus verschiedensten Perspektiven und schließt mit dem Gedanken: „Ich bin Autist! Na und?“

Das Kapitel Sprache befasst sich mit der Definition „Autismus“ im Teufelskreis der Sprache. Der Begriff wird häufig diskreditierend und diskriminierend verwandt und es ist noch viel Aufklärung und intensive Kommunikation nötig, um die Gesamtsituation zu verändern.

Das vorletzte Kapitel Inklusion reflektiert darüber, dass Inklusion nicht nur Fachmenschen überlassen werden kann. Zentral ist Menschen aus dem autistischen Spektrum zu beteiligen, nach Sichtweisen und Bedürfnissen zu fragen und ihr Wissen zu nutzen, denn es geht darum, nicht über Autisten zu reden, sondern mit ihnen. Hier kann man einige Beispiele aus seiner Schulzeit nachlesen und Erfahrungen aus dem Leben des Autors kennen lernen

Das Buch schließt mit den Specials und Gedanken zum Schluss, eine Definition von Autismus, aufgeschrieben in Zeilen, die sich über drei Seiten erstreckt und auf einen Blick die Themen zusammenfasst, die im Buch vorkommen.

Diskussion

Der Titel des Buches bringt es auf den Punkt: „Autismus mal anders“. Es ist ein professionelles Fachbuch und persönliches Tagebuch zugleich, denn Grundlage des Buches bildet der Blog von Aleksander Knauerhase „quergedachtes“, der von vielen Menschen, mit und ohne Autismus gelesen wird. Verständlich geschrieben, eben „einfach“, direkt aus dem Leben „authentisch“ und wie kann es anders sein bei einem Autor mit Autismus „autistisch“ mit vielen Beispielen, die die Erklärungen unterfüttern. Der Autor gewährt auch bei Vorträgen und in Seminaren Interessierten Einblick in seine „Innenwelt“. Er zeigt eindrücklich, dass die Sicht von Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, Chancen bietet – persönlich, beruflich und für die Gesellschaft. Er macht deutlich, dass es nicht um eine Bewertung von „gutem“ und „weniger gutem“ Denken geht, sondern es geht ihm darum, darzustellen, dass das Denken anders ist, wodurch Vielfalt entsteht.

Ein Schlüssel zum Verstehen von Autismus ist zu erkennen, dass die Reizfilterung anders ist und er erläutert ein Beispiel: „Stellen Sie sich vor, um Sie herum dudeln 23 Radiosender gleichzeitig; Sie riechen den Duft aus 3 verschiedenen Parfümerien, spüren das Kratzen des Hemdkragens und das Reiben der Ferse an der Schuhkante, während Ihre Augen gleichzeitig diesen Klappentext lesen möchten …Klingt unmöglich – ist aber Alltag für Autisten“ (Klappentext).

Diese Einblicke in die Innenwelt, die für Menschen wie mich, die nicht unter den Bedingungen von Autismus leben, die sog. Neurotypischen, nicht kennen, sind für mich sehr hilfreich um zu verstehen, was gleich und was anders ist. Diese Bücher helfen aufzuklären und eine andere Sichtweise kennen zu lernen, die nicht einseitig auf Defizite abhebt, sondern auf Chancen und Möglichkeiten. Mittlerweile gibt es viele Bücher von Autisten und jedes ist anders, so wie die Menschen auch anders sind. In meinen Fortbildungen halten sich die Empfehlungen von Autoren wie Knauerhase und Profis die Waage. Solche Bücher, wie das hier vorgelegte, sind äußerst wertvoll, weil sie informativ und zugleich sehr lebensnahe Information vermitteln wie z.B. die Beschreibung der sechs Stufen eines sog. overloads. Damit macht Knauerhase sehr deutlich, dass Menschen mit Autismus einem enormen Stresserleben ausgesetzt sind. Eine neurotypisch geprägte Umgebung sollte sich dessen immer wieder bewusst sein, denn Stress ist ein universelles Thema, das uns alle angeht!

Die Definition von Autismus, als literarisches Special am Ende des Buches verfasst in Zeilen, die sich über drei Seiten erstreckt fasst die Themen zusammenfasst, die das Leben unter den Bedingungen von Autismus ausmachen und die Inhalte dieses Buches widerspiegelt wie z.B. „die Lupe der Wahrnehmung“, „eine Stärke und Schwäche zugleich“, „manchmal Panik in den Augen anderer“, „eine Antwort auf viele Fragen, der Grund für noch mehr Fragen“ oder „Lebensaufgabe und Lebenssinn?“

Fazit

Das Buch legt die Innensicht eines Menschen aus dem autistischen Spektrum dar. Autismus wird von Knauerhase als eine Reizfilterschwäche verstanden. Der Autor schreibt über sein Leben in einem Umfeld, das so gar nicht für Autisten geschaffen ist. nimmt die Leserschaft mit auf eine Reise vom Zeitpunkt der Diagnose 2009, da ist er 35 Jahre alt, bis heute und zeigt dabei, wie Autisten und Nichtautisten sich gegenseitig bereichern können. Im Teil „Therapie“ setzt er sich kritisch mit dem Ansatz ABA auseinander. Grundlage des Buches bildet sein Blog „quergedachtes“, der von zahlreichen interessierten Menschen, ob mit oder ohne Autismus, gelesen und kommentiert wird. Damit befindet sich Knauerhase, neben den eigenen Erfahrungen nah an dem, was Menschen bewegt, wenn es um das Thema Autismus geht. Das Buch ist Fachbuch und auch eine Art Tagebuch und hält was der Titel verspricht: „Autismus mal anders: einfach, authentisch, autistisch“. Es ist bei allen sachlich vorgetragenen kritischen Gedanken auch immer ressourcenorientiert positiv. Weitersagen und Kaufen!

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 18.10.2016 zu: Aleksander Knauerhase: Autismus mal anders. Einfach, authentisch, autistisch. Books on Demand GmbH (Norderstedt) 2016. ISBN 978-3-7412-3501-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20949.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.


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