Ortwin Renn, Christina Benighaus et al. (Hrsg.): Bürgerbeteiligung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.09.2016
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Ortwin Renn, Christina Benighaus, Gisela Wachinger (Hrsg.): Bürgerbeteiligung. Konzepte und Lösungswege für die Praxis. Wolfgang Metzner Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2016. 352 Seiten. ISBN 978-3-943951-68-4. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR.
Thema
Wir brauchen eine politische Alphabetisierung! Angesichts der zwiespältigen, lokalen und globalen, gesellschaftlichen Entwicklungen, dass in der sich immer interdependenter, entgrenzender, globalisierter und (scheinbar) anonymer entwickelnden Welt Ego- und Ethnozentrismen zunehmen und populistisches, fundamentalistisches und nationalistisches Denken und Handeln stärker werden, sind die Rufe nach der Entdeckung und Verteidigung von demokratischen, freiheitlichen Werte- und Normenvorstellungen notwendig. Beim „Abenteuer des Zusammenlebens“ (Tzvetan Todorow, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20386.php), den Fragen nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung in schulischen und außerschulischen Bildungs- und Aufklärungsprozessen (Dirk Lange / Sebastian Fischer, Hrsg., Politik und Wirtschaft im Bürgerbewusstsein. Untersuchungen zu den fachlichen Konzepten von Schülerinnen und Schülern in der politischen Bildung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11226.php), Innovations- und Erfolgberichten (Markus Hipp, u.a., Praxis gesellschaftlicher Innovation. Best Practice-Beispiele aus den Zukunftsfeldern Zivilgesellschaft & gesellschaftliche Beteiligung, Bindung & Integration, Diversity of Lifestyles, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19484.php), Aufforderungen zur Zivilcourage (Ulrich Beer, Zivilcourage, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12604.php) und den Herausforderungen, die das erziehungs- und sozialwissenschaftliche Feld der „Demokratiepädagogik“ (Hans Berkessel / Wolfgang Beutel / Hannelore Faulstich-Wieland / Hermann Veith, Hrsg., Jahrbuch Demokratiepädagogik, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15225.php), wird deutlich: Wir brauchen demokratische Bürgerbeteiligung!.
Entstehungshintergrund
Theoretische Begründungszusammenhänge darüber, dass in demokratischen und gerechten Gesellschaften die Selbstbestimmung des Volkes an oberster Stelle steht, gibt es genug! Es sind oftmals die Einstellungen und Erfahrungen, dass Wünsche, Hoffnungen, Vorstellungen und Visionen das eine ist, die real existierenden Wirklichkeiten jedoch das andere sind. Ob die gesellschaftlichen Individuen und Kollektive daraufhin mit Aktivität, Widerstand und Innovationen, oder mit Passivität, fatalistischen und Ohne-Mich-Einstellungen reagieren, hängt entscheidend davon ab, wie verfasst, aufgeklärt und aktiv die jeweilige Gesellschaft ist. Zivilgesellschaftliche Bürgeraktivitäten drücken sich in lokalen, überregionalen und globalen spontanen und organisierten Zusammenschlüssen und Vereinigungen wie Nachbarschafts- und Bürgerinitiativen, Stadtteilvereinen, kirchlichen und gemeinnützigen Organisationen, sowie in Aktivitäten von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen aus. Im anthropologischen, aristotelischen Denken ist der Mensch ein „zôon politikon“, ein politisches Lebewesen, weil er in der Lage ist, für sich und die Mitmenschen nach einem guten, glücklich-gelingenden Leben zu streben, fähig ist, Allgemeinurteile zu bilden und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 620f). Im freiheitlich-demokratischen Bewusstsein ist Partizipation ein Lebens- und Bildungsziel ( Benedikt Widmaier / Frank Nonnenmacher, Hrsg., Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der politischen Bildung, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12104.php).
Autorenteam
Die Stuttgarter Mediatorin und Bürgerrechtsaktivistin Christina Benighaus, die Sozialwissenschaftlerin Gisela Wachinger und der Sozialwissenschaftler Ortwin Renn von der Universität Stuttgart wollen mit ihrem Praxisbuch „Bürgerbeteiligung“ gegen Politik- und Bürgerverdrossenheit angehen und Wege aufzeigen, um „einerseits politische Entscheidungen auf eine breitere Grundlage zu stellen, andererseits in einer wertepluralen Gesellschaft ein höheres Maß an Zustimmung der betroffenen Menschen zu den sie tangierenden Entscheidungen und Planungen zu bewirken“.
Aufbau und Inhalt
Das Autorenteam gliedert das vom Verlag in stabiler Verarbeitungs- und Benutzungsform produzierte Handbuch in vier Teile.
- Im Teil A werden Grundlagen zur Bürgerbeteiligung thematisiert,
- im Teil B Fallbeispiele vorgestellt,
- im Teil C mit der Frage „Was hat sich bewährt?“ ausgewählte Verfahren und Modelle evaluiert und
- im Teil D Praxis-Empfehlungen erteilt.
Die Präsentation der einzelnen Themen zeigt, dass die Autorinnen und der Autor in den Bereichen Partizipation „zu Hause“ sind und sie das didaktische, methodische und verstehens- und aktivitätsorientierte Handwerk beherrschen. Mit den markierten Hervorhebungen von wichtigen Stichworten, Handlungsempfehlungen, begrifflichen Erklärungen und tabellarisch gegliederten Textverläufen werden den Benutzern des Praxisbuchs Lese- und Gebrauchshilfen angeboten.
Es sind Fragen wie: „Warum mehr Bürgerbeteiligung?“ – „Was ist Bürgerbeteiligung?“, Informationen über „Verfahren der Bürgerbeteiligung“ und „Kategorisierung der Beteiligungsverfahren“, Aspekte über „Voraussetzungen der Bürgerbeteiligung“ und „Auswahl und Design des Verfahrens“, die den Erfahrungsschatz des theoretischen und praktischen Diskurses zu den Forderungen nach Partizipation im gesellschaftlichen Leben ausbreiten und die LeserInnen davon profitieren lassen. Zur praktischen Benutzung der verschiedenen Methoden und Konzepte zur Bürgerbeteiligung wird für „eine grundsätzliche Offenheit (ermuntert), Ansätze miteinander zu verknüpfen und Verfahren zu verändern“.
Die vorgestellten, diskutierten und analysierten Fallbeispiele werden nach folgenden Praxis- und Gebrauchsanlässen klassifiziert: „Vermittlungs- und Wissensdiskurse“ – „Reflexionsdiskurse“ – „Gestaltungs- und Handlungsdiskurse“ – „Konfliktbearbeitungsdiskurse“. Es sind Praxisbeispiele, die sich jeweils auf konkrete Projekte beziehen und analysiert, verifiziert und falsifiziert werden. Die Ergebnisse und Bewertungskriterien beanspruchen und bieten sowohl die Berücksichtigung von Realitätsansprüchen, als auch exemplarischen, lokalen und globalen Vergleichs- und Übertragungsmöglichkeiten an.
Innovations- und Beratungsaspekte sind, sollen sie im öffentlichen Diskurs an-, aufgenommen und angewendet werden, dann glaubhaft und überzeugend, wenn die angebotenen Aktionsformen und -projekte evaluiert werden. Hier wird die zunehmende Bedeutung der wissenschaftlichen Evaluationsforschung deutlich (z. B.: Evangelischer Entwicklungsdienst e.V., Hrsg., Evaluation entwicklungsbezogener Bildungsarbeit. 2003, www.socialnet.de/rezensionen/1658.php Wilhelm Urban, Evaluation des tertiären Bildungssystems. Konzeption, Modellbildung und Durchführung, 2004, www.socialnet.de/rezensionen/1703.php; Christina Zitzmann, Wie gut sind wir eigentlich? Qualitätsmanagement und Evaluation in der außerschulischen politischen Bildung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/10691.php).
Eine überzeugende, objektive Glaubwürdigkeit und Offenheit, Transparenz, Ehrlichkeit und Dialogfähigkeit sind die Grundpfeiler einer gelingenden Bürgerbeteiligung. Bürgerrechtliche, politische Arbeit zielt auf einen Konsens, der entweder als Übereinstimmung oder als Kompromiss auf Augenhöhe möglich wird.
Fazit
„Es gibt kein Rezeptbuch für gelingende Bürgerbeteiligung“. Diese selbstverständliche und redundante Feststellung bedeutet jedoch nicht, spontane und organisierte Bürgerbeteiligungen dem Zufall oder sonstigen, undemokratischen Macht- und Manipulationselementen zu überlassen. Dass es für unterschiedliche Bürgeraktivitäten maßgeschneiderte Beteiligungsverfahren gibt, die durch Reflexion und Analyse von konkreten Erfahrungen verifiziert und erfolgreich angewandt werden können, zeigt das Autorenteam in eindrucksvoller Weise auf. Das Handbuch „Bürgerbeteiligung“ richtet sich in erster Linie an Tätige in kommunalen Verwaltungen, an Investoren, Bürgerinitiativen, Verbände, Vereine, Planungsbüros, ModeratorInnen und VertreterInnen der politischen Gremien, also an alle diejenigen, die Bürgerbeteiligung als eine notwendige und wichtige Herausforderung für demokratisches, freiheitliches Denken und Handeln erkennen und praktizieren!
Für das stille Kämmerlein, wie auch für die öffentliche Bühne mag das chinesische Sprichwort Motivation zum individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Mittun sein: „Erkläre mir und ich werde vergessen. / Zeige mir und ich werde mich erinnern. / Beteilige mich und ich werde verstehen“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.09.2016 zu:
Ortwin Renn, Christina Benighaus, Gisela Wachinger (Hrsg.): Bürgerbeteiligung. Konzepte und Lösungswege für die Praxis. Wolfgang Metzner Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2016.
ISBN 978-3-943951-68-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20953.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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