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Pierre Rosanvallon: Die gute Regierung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.09.2016

Cover Pierre Rosanvallon: Die gute Regierung ISBN 978-3-86854-301-8

Pierre Rosanvallon: Die gute Regierung. Hamburger Edition (Hamburg) 2016. 350 Seiten. ISBN 978-3-86854-301-8. D: 35,00 EUR, A: 35,90 EUR.

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Von der „Genehmigungsdemokratie“ zur „Betätigungsdemokratie“

Demokratie ist die beste, aber gleichzeitig die schwierigste, intellektuell und emotional anspruchsvollste Regierungsform, die sich Menschen ausgedacht haben, um ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes, also humanes Zusammenleben der Menschen auf der Erde zu ermöglichen. Der Mensch als zôon politikon ist kraft seiner Vernunftfähigkeit, seiner Kompetenz, Allgemeinurteile zu bilden und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, in der Lage, ein gutes, gelingendes Leben zu führen; soweit die antike, anthropologische Erkenntnis. Demokratie als Herrschaft des Volkes fällt allerdings nicht vom Himmel, noch liegt sie in den Genen der Menschen; sie kann nur funktionieren, wenn sich jeder Mensch bewusst ist, dass er permanent die Verantwortung für die Verwirklichung einer humanen Gegenwart und Zukunft der Menschheit mit und in sich trägt. Schauen wir auf den Zustand der Welt, und dabei insbesondere auf die politischen und gesellschaftlichen Situationen in den demokratischen Staaten, stellen wir fest: Das demokratische Bewusstsein schwindet, oder die demokratischen Freiheiten und Werte werden als so selbstverständlich hingenommen, dass viel zu wenig Menschen die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen (Jos Schnurer, Das sehnsuchtsvolle Verlangen der Menschen nach Freiheit. Freiheit, die ich meine, 25.8.2015,www.sozial.de/index.php?id=94). Wir brauchen eine politische Alphabetisierung,, und die Befähigung, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an den demokratischen Abläufen beteiligen (Ortwin Renn, u.a., Hrsg., Bürgerbeteiligung. Konzepte und Lösungswege für die Praxis, www.socialnet.de/rezensionen/20953.php; sowie: Serge Embacher, Baustelle Demokratie. Die Bürgergesellschaft revolutioniert unser Land, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12783.php). Im Demokratiediskurs besteht eine Kontroverse darin, dass die einen davon überzeugt sind, dass die Regierungsform der repräsentativen, indirekten Demokratie die größtmöglichen Chancen für einen demokratischen Lebensvollzug darstellt, während die anderen echte Partizipation eher in der direkten Demokratie sehen (Lars P. Feld, u.a.,.Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12329.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Die Auseinandersetzungen um gutes Regieren (good governance) in einer Demokratie muss zum Ziel haben, eine bessere Demokratie zu schaffen! In den Alltags- und gesellschaftlichen Wirklichkeiten entwickeln sich Tendenzen, dass die für eine Volksherrschaft grundgelegten und unverzichtbaren, gleichwertigen Gewalten – Exekutive, Legislative, Judikative – sich in ihrer Gewichtigkeit verschieben und aus der Balance geraten: „Inzwischen ist die vollziehende Gewalt zum Dreh- und Angelpunkt geworden und hat den Umschlag in ein präsidiales Regierungsmodell der Demokratie nach sich gezogen“. Anstelle von selbst- und mitbestimmten Ansprüchen beim Regierungsgeschehen haben sich wohlfahrtsstaatliche, bevormundende, behütende und bürokratisierte Formen des Regierens entwickelt, die beim Bürger Ohnmachtsempfindungen auslösen und zu einem Nährboden für populistische und antidemokratische Rattenfänger werden (Kenneth Minogue, Die demokratische Sklavenmentalität. Wie der Überstaat die Alltagsmoral zerstört, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/16608.php). Demokratie also muss gelernt und erfahren werden; nicht, indem man die Wirkungen und Strukturen über sich ergehen lässt oder aussitzt, sondern durch Mittun und Mitgestalten. Die Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten zeigen, dass antidemokratische, populistische, völkische und nationalistische Kräfte gegen ihre größten Feinde, die freiheitlichen, demokratischen Strukturen, angehen und die Demokratie zerstören wollen, und damit auch die Bemühungen, Grenzen zu überwinden und zu internationalen, demokratischen Zusammenschlüssen zu kommen (Jos Schnurer, Die europäische Idee ist in Gefahr, 24.11.2015, www.sozial.de/index.php?id=94) durch neue Zäune und Mauern torpedieren.

Der französische Historiker Pierre Rosanvallon ist ein überzeugter Demokrat. Seine wissenschaftlichen Arbeiten kreisen um die Fragen, wie den Menschen bewusst gemacht werden kann, dass sie Demokraten werden wollen oder, wenn demokratische Regierungsformen bereits in ihrer Gesellschaft vorhanden sind, sie zu bewahren, zu verteidigen und zu verändern hin zu mehr Demokratie. Dafür ist, um Demokratie leben zu können, der Blick in die Geschichte als Markierungspunkt dafür, wie wir geworden sind, was wir sind, unverzichtbar.

Aufbau und Inhalt

Der Autor sieht im Strukturwandel der zeitgenössischen Demokratien eine der größten Herausforderungen für die Menschheit. Es sind vier Dimensionen, die für eine Demokratie notwendig sind: Staatsbürgerliche Tätigkeit, politisches System, Gesellschaftsform und Regierungsform. Während er die drei genannten Voraussetzungen bereits in mehreren Veröffentlichungen diskutiert hat (auf Deutsch: „Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit. Reflexivität. Nähe“, 2010; und „Die Gesellschaft der Gleichen“, 2013), setzt er sich mit der Dimension „Demokratie als Regierung“ in diesem Buch auseinander. Er betont dabei, dass damit keinesfalls ein Schlusspunkt oder ein endgültiges Fazit gezogen werden soll; vielmehr will er nützliche Werkzeuge bereitstellen, um zu einer gedanklichen Neubestimmung dieser Fragen beizutragen. Denn das dürfte die Motivation sein, dass sich der Autor historisch und aktuell mit den Fragen nach der Demokratie als Regierungsform auseinander setzt: „Tatsächlich sitzt uns die Geschichte derzeit im Nacken, und vielleicht ist das Bemühen, die Welt zu erklären, noch nie so notwendig gewesen, um den Anforderungen einer Gegenwart zu begegnen, die auf Messers Schneide steht“.

Rosanvallon gliedert das Buch in vier Kapitel.

  1. Im ersten thematisiert er die „exekutive Gewalt“ als eine problematische Geschichte.
  2. Im zweiten Kapitel setzt er sich mit der „Präsidialisierung der Demokratien“ auseinander.
  3. Im dritten zeigt er Entwicklungen auf, wie sie sich als Typus „Aneignungsdemokratie“ darstellen.
  4. Im vierten Kapitel schließlich formuliert er Entstehungs- und Wirkungsprozesse einer „Vertrauensdemokratie“.

Die im politisch-philosophischem Denken etablierten Auffassungen von einer Objektivierung des Rechts und der Gesetze als Grundlage des demokratischen Handelns schufen und schaffen Einstellungen zu Regierungshandeln und Regierungsgewalt, die sich in den konträren Formen als „Bekenntnis zur Zentralität der Exekutive“ und als „Glorifizierung der Exekutive als ausschlaggebende, weil einzig unmittelbar aktive, sofort spürbare Wirkungen produzierende Macht, als geschichtliche Kraft und weltgestaltendes Agens“ zeigen. Anhand von exemplarischen, historischen Entwicklungen, etwa in Frankreich, verweist der Autor sowohl auf die geschichtlich gewordenen, politischen und gesellschaftlichen Traditionen, als auch auf das Weiterwirken in der Gegenwart: „Die technokratische Versuchung hat ihre Attraktivität bewahrt, wo die Ohnmacht einer parteiischen Exekutive zu einem Vertrauensverlust in die Demokratie führte“.

Als Beispiele für die Präsidialisierung und Personalisierung der Demokratie nennt der Autor die Direktwahlen des Staatsoberhauptes 1848 in Frankreich, die er als „Rückkehr des Cäsarismus“ bezeichnet, die Wahlen in der Weimarer Republik, die die Macht der Nationalsozialisten ermöglichte, und in der Nachkriegszeit die in Frankreich vollzogenen Zentralisierungen der Macht durch den Gaullismus. „Durch die Herstellung einer direkten, das heißt nicht durch Parteien vermittelten Beziehung zu den Wählern wird der Amtsträger mit einer Art ‚Superlegitimität‘ ausgestattet, die automatisch dazu tendiert, einen gewissen Illiberalismus zu befördern“.

Es habe niemals eine wirkliche Theorie, also Begründung des Regierens, gegeben. Diese erstaunliche Feststellung verweist darauf, dass es „Exekutivgewalt“ zwar immer schon gegeben habe, jedoch „für ihre Inhaber hatte die Macht ihre Rechtfertigung in sich“. Dies aber öffnet Manipulationen und Machtmissbrauch alle Türen. Der Autor analysiert die Erkenntnis, dass sich ein Volk nicht selbst regieren könne, unter zweierlei Aspekten: soziologisch und institutionell. „Wenn Demokratie eine Form des Regierens und nicht nur ein System ist, muss sie sich durch einen ihr eigenen Modus der Machtausübung definieren“. Es ist das Prinzip der Verantwortung, das sich in der Rechenschaftspflicht ausdrückt und als Gegenwarts- und zukunftsorientiertes Handeln zeigt. Medialisierungen und (vermeintliche) allgegenwärtige Öffentlichkeit erfordern, soll Demokratie tatsächlich Herrschaft des Volkes sein, einen Perspektivenwechsel: „Diese Repräsentation-als-Abbildung des Sozialen muss zunächst von der Tatsache ausgehen, dass das Wort ‚Volk‘ nur noch in der Vielfalt sozialer Lagen und existentieller Belastungen erfasst werden kann, die seine praktische Wahrheit begründen“.

In Parlamentarisch-repräsentativen Demokratien haben politische Programme Vorrang vor politischen Persönlichkeiten, während in der Präsidialherrschaft Personen hervorgehoben und gestärkt werden. Auch hier hilft ein Blick in die Geschichte des Regierens – vom tugendhaften Fürsten, über den Mandatsträger, dem Politiker aus Berufung, bis hin zur Vertrauensperson. Es ist das „Wahrsprechen“, das „Bürger in die Lage versetzen soll, ihr Leben besser zu bewältigen und ihnen zu ermöglichen, eine positive Beziehung zur Politik aufzubauen. Der politischen Sprache kommt deshalb eine im wahrsten Sinne des Wortes zentrale Rolle bei der Herstellung von Vertrauensbeziehungen zu“. Dafür aber sind Aufrichtigkeit, Verständlichkeit, Aufmerksamkeit, Transparenz und Integrität notwendig: „Über die Verpflichtungen zur Transparenz verändert sich faktisch der Status der Repräsentanten und der Regierenden“.

Fazit

Mit seinem Essay ruft Pierre Rosanvallon nach der ersten demokratischen Revolution, in der das allgemeine, gleichberechtigte Wahlrecht eingeführt wurde, die zweite demokratische Revolution aus. Es ist der Übergang von der „Genehmigungsdemokratie“ mit ihrem „majoritären“ Demokratieverständnis zur „Betätigungsdemokratie“, die gründet „auf die Festlegung der Prinzipien, die das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten dauerhaft regeln sollen“ und mit den Werten – Lesbarkeit, Verantwortung, Reaktivität, Wahrsprechen und Integrität – gekennzeichnet ist. Institutionell will der Autor die Betätigungsdemokratie festigen durch einen „Rat für den demokratischen Prozess“, der vorrangig die Integrität der Regierenden und die Transparenz der Maßnahmen und Institutionen sicherstellt; durch „öffentliche Kommissionen“, die die demokratischen Wege bei der Realisierung von politischen Programmen und dem bürokratischen Vollzug garantieren; und „zivile Wachsamkeitsorganisationen“, die das politische Wirken der Regierenden kritisch betrachten und bewerten. „Betätigungsdemokratie“ in diesem Sinne „hat insofern einen funktionalen Charakter, als sie nicht auf einem von strukturellen Spaltungen, ob ideologischen Gegensätzen oder Interessenkonflikten, durchzogenen Feld interveniert“.

Die Analyse und Fürsprache für eine gute Regierung von Pierre Rosanvallon beginnt mit dem Satz: „Unsere politischen Systeme können als demokratisch bezeichnet werden, doch demokratisch regiert werden wir nicht“; und sie endet mit dem hoffnungsvollen, herausfordernden Ausblick, dass „die Neudefinition der Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten den Weg zu einem klareren Verständnis der Realisierbarkeit einer Gesellschaft der Gleichen eröffnen“. Es ist ein tiefgreifendes, historisch und aktuell akzentuiertes Plebiszit, sich individuell und gesellschaftlich, lokal und global mit den Fragen auseinander zu setzen, wie Demokratie gestaltet, gelebt und weiter entwickelt werden kann. Es richtet sich an alle, die davon überzeugt sind (und überzeugt werden sollten), dass Demokratie die beste, aber gleichzeitig anspruchsvollste und schwierigste Regierungsform ist. Sie zu kennen, mitzugestalten und zu verteidigen ist existentielle und humane Herausforderung!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1693 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245