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Thomas Medicus (Hrsg.): Verhängnisvoller Wandel

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 11.11.2016

Cover Thomas Medicus (Hrsg.): Verhängnisvoller Wandel ISBN 978-3-86854-302-5

Thomas Medicus (Hrsg.): Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933-1949: Die Fotosammlung Biella. Hamburger Edition (Hamburg) 2016. 320 Seiten. ISBN 978-3-86854-302-5. D: 38,00 EUR, A: 39,00 EUR.
Anne-Frank-Shoah-Bibliothek.

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Thomas Medicus (Hg.): Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933-1949: Die Fotosammlung Biella. Hamburg: Hamburger Edition 2016. ISBN 978-3-86854-302-5. Geb., 312 S., 280 Abb. € 38.-

Thema

Anhand eines Fotofundes 2003 – ca. 2500 Fotografien –, Zeitzeugenberichten und Pressemitteilungen wird die ‚Machtergreifung‘ der Nazis in der Kleinstadt Gunzenhausen/Mittelfranken dokumentarisch dargestellt und analysiert: Die Veränderung einer Kleinstadt durch Identifizierung mit dem Nationalsozialismus und der Gewalt gegen Juden (Judenkartei) und Zwangsarbeiter. Nach Kriegsende wurden auch die lokalen Nazis zum Zweck der Entnazifizierung mit der Kamera erfasst. Die AutorInnen beschreiben den Aufstieg der NSDAP, den Terror und die Fotos illustrieren die Täter, Opfer und Zuschauer.

Herausgeber, Autorinnen und Autoren

Herausgeber Und Mitautor ist der in Gunzenhausen aufgewachsene Germanist, Politikwissenschaftler und Publizist Thomas Medicu, Gastwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung und Mitarbeiter im Projektverbund „Social Capital – Überleben im Umbruch“.

Weitere Beiträge stammen von

  • dem Historiker Felix Axster, Zentrum für Antisemitismusforschung TU Berlin,
  • der Historikerin Linda Conze, Stipendiatin als Museumskuratorin für Fotografie der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung,
  • der Mitarbeiterin des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Koordinatorin des Berliner Kollegs Kalter Krieg Bettina Greiner,
  • der Historikerin Ulrika Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, d
  • er Kulturwissenschaftlerin Britta Lange an der Humboldt-Universität Berlin,
  • dem Archivar Werner Mühlhäußer/Stadtarchivar und Museumsleiter in Gunzenhausen,
  • der Fotohistorikerin und Ausstellungskuratorin Sandra Starke und
  • der politischen Philosophin Karin Wieland/Stipendiatin der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur“.

Die zahlreichen Literaturhinweise zeigen eine hochkarätige Besetzung sowohl des Herausgebers als auch der Mitarbeiter.

Aufbau und Inhalte

Thomas Medicus: „Am Beispiel einer Kleinstadt“ (S. 7-31) beschreibt die „Nationale Erhebung“ in der Provinz, das Quellenmaterial der Fotosammlung Biella, die Chronik einer völkischen Radikalisierung, u.a. anhand der Wahlergebnisse, die Verbindung von Protestantismus und Nationalsozialismus und deren Hauptakteure in Gunzenhausen.

Werner Mühlhäußer: „Die Sammlung Biella – das fotografisch Gedächtnis einer mittelfränkischen Kleinstadt“ (S. 33-63) referiert als Stadtarchivar den Erwerb der Sammlung – diese unterteilt nach Personen, Gebäuden, Ereignissen – anhand von zahlreichen Bildbeispielen und gibt einen Überblick über die Fotografie in der Provinz und speziell des Fotoateliers Biella. Curt Biella trat 1935 in die Partei ein. Nach seinem Tod 1938 übernahmen seine Frau und die Töchter das Geschäft. Die unmittelbare Nähe zum Amtsgerichtsgefängnis erlaubte eine direkte Wahrnehmung der Gewalt gegen Juden bereits am Palmsonntag 1934. Das Fotoatelier konnte bruchlos in der Nachkriegszeit fortgeführt werden.

Sandra Starke/Linda Conze: „Die visuelle Chronik einer Kleinstadt, Fotografien zwischen Öffentlichkeit und Privatheit“ (S. 65 – 97) sondieren zunächst das Feld zwischen Atelier und Straße, die Frage des Geschlechts seit der Fortführung 1938 durch die drei Frauen, die Veränderungen des fotografischen Mediums, das Atelier als geschützter Raum für spezielle Posen und Familienbilder, hingegen die Straße als Dokumentation im öffentlichen Raum und die als Zwischenräume bezeichneten Klassenzimmer, Schulplatz und Gasthäuser. Fazit: Eine Gleichschaltung scheint in Gunzenhausen nicht notwendig gewesen zu sein, da im vorauseilenden Gehorsam bereits eine Anpassung erfolgt war. Insgesamt werden die Bilder als „Fragment des offiziellen Gedächtnisses“ bezeichnet, das keineswegs neutral zu verstehen ist.

Ulrike Jureit: „Bilder einer unheimlichen Verwandlung: Die mobilisierte Provinz im ‚Dritten Reich‘“ (S. 99 – 139). Bilder aus dem Jahr 1930 zeigen bereits eine Solidarisierung der Jugendlichen mit nationalsozialistischen Ritualen (Hitlergruss) und Rituale, die offensichtlich ein Gemeinschaftsgefühl – Volksgemeinschaft – vermittelten, z.B. bei Sportwettkämpfen und Aufmärschen auch anlässlich lokaler Anlässe wie Kirchweih usw. Das Kapitel „Umkodierung des Raumes“ beschreibt die Inbesitznahme einer mittelfränkischen Provinzstadt seit 1930 und die Errichtung eines Hitlerdenkmals bereits am 30.04.1933, an dem sich die Bürger beteiligt hatten und das von SA und SS eingeweiht wurde, zusammen mit einer Segelflugzeugtaufe auf dem Marktplatz und einer Fahnenweihe in der Pfarrkirche. Vermutlich 1935 folgte ein antisemitisches Ortseingangsschild und gleichzeitig mit dem Zugehörigkeitsversprechen auch eine Gewaltmobilisierung gegen Nichtdazugehörige, vor allem Juden. Der Pogrom am 25. März 1934 forderte bereits zwei Opfer. Fotos dienten zudem möglichweise auch dem (unvollendeten) Projekt der Herstellung einer „Judenkartei“, nachdem bereits alle Juden die Stadt verlassen hatten.

Felix Axster: „Zwischen fotografischer Erfassung und Selbstinszenierung – Überlegungen zum Gunzenhauser ‚Judenarchiv‘, das um 1939 möglichweise angelegt werden sollte“ (S. 141-169). Den Bildern haftet zum Teil eine Passbild-Ästhetik, für Kennkarten geeignet, an, aber ihre tatsächliche Verwendung lässt sich nur vermuten. Im Gegensatz zur Porträtfotografie jüdischer Bürgerlichkeit weisen diese auf bestimmte möglicherweise behördliche Vorgaben (Einzelporträt, Brustbild, Halbprofil, Sitzpositionen) hin. Lässt sich Zugehörigkeit und Ausschluss aus den Bildern lesen? Welche Unterschiede zeigen sich in den Bildern von rechtzeitig Geflohenen und später Ermordeten? Die Suche nach der Geschichte, bzw. den Geschichten zu den Bildern dauert noch an.

Britta Lange: „Bilder der Anderen – Andere Bilder. Fotografien von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiterinnen“ (S. 170 – 201). Nicht nur die Aussagen der Bilder, sondern auch eine Rekonstruktion der Biografien wird versucht, durch eine Gegenüberstellung von Atelierfotografie und Erfassungsfotografie und die Ikonografie des Hintergrundes von Gefangenenaufnahmen: Bretterzaun und Holztor. Das Individuelle erscheint mitunter in dem – für Passbilder – ‚Abgeschnittenen‘.

Karin Wieland: „Biella-Lab(Or): Porträts aus der Provinz“ (S. 203-261). Die Männer, z.B. der 1. Bürgermeister noch in Zivil, dann aber in Uniform, wie der Standartenführer Bär, der NSDAP Ortgruppenleiter Appler und das SA-Mitglied Freiherr von Falkenhausen. Die Frauen hingegen modisch gekleidet, sehr bürgerlich, aber keineswegs sich distanzierend vom Nationalsozialismus, dazu Bilder von lachenden Kindern, von Mädchen in Uniform und der BDM-Ortsgruppe vor dem Hitlerdenkmal.

Bettina Greiner: „Gunzenhausen nach 1945“ (S. 263 – 298), eine Nachkriegsgeschichte von Entnazifizierung und Rehabilitierung, von Schweigen und Verleugnungen und Porträts von lächelnden Amerikanern und Wiedergabe von Äußerungen, trotz der totalen Niederlage die amerikanische Besatzung für die gegenwärtige Not verantwortlich zu machen.

Thomas Medicus: „Nachwort und Dank“ (S. 301 – 306). Er weist darauf hin, dass sich die Sammlung von rund 2500 Aufnahmen in einer ungeordneten und Jahrzehnte langen unsachgemäßen Lagerung befunden hat. Technisch dokumentieren die Bilder auch den Übergang von der Glasplatte zum Rollfilm. Es gibt inszenierte und nicht inszenierte Aufnahmen; Bearbeitungen/Retuschen waren damals nicht leicht durchzuführen. Die Bilder sind – wie alle Bilder – von den Autoren dieses Buches interpretiert worden, doch waren sie bemüht, die Gründe für ihre Interpretation anzugeben. Eine Anfrage unter den Bürgern von Gunzenhausen, weitere private Fotos zur Verfügung zu stellen, ergab nur eine (!) Rückmeldung, und e-mail-Korrespondenzen zum Thema wurden mitunter abrupt abgebrochen, was auf eine familiäre Belastung auch noch der Dritten Generation hinweist. Umso mehr verdankt das Zustandekommen dieses Buch der Unterstützung des ersten Bürgermeisters, des Stadtarchiv und der Stadt selbst für die Überlassung der Bildrechte.

Diskussion

Das vorliegende Bild- und Archivmaterial ist in überaus sorgfältig und kritisch aufgearbeitet worden insbesondere was die Hintergründe und Interpretation einzelner Bilder oder Bildfolgen anbetrifft. Die Beiträge machen die unterschiedliche professionelle Perspektive der Autoren deutlich und regen zu einer intensiven, genauen und sehr auf Details achtenden Betrachtung des Bildmaterials an, das insgesamt einen sehr lebendigen Eindruck von der Nazifizierung einer Kleinstadt bietet und Stoff zum eigenen Nachdenken/Nachforschen bietet. Das wird zudem unterstützt durch die umfangreichen Literaturhinweise, in denen wesentliche und grundlegende Werke zum Thema Nationalsozialismus enthalten sind und das ich in seiner Auswahl als kritisch und informativ erlebt habe.

Den Aufbau hätte ich mir – als Leser – etwas anders gewünscht. Die Hinweise auf die NS-Geschichte der Stadt in einem zusammenhängenden Text (Beitrag Ulrike Jureit) hätte ich mir an den Anfang gewünscht und empfehle auch diesen zuerst zu lesen. Das erleichtert die Einordnung des reichen und informativen Bildmaterials.

Fazit

Das Buch ist nicht immer leicht lesbar, verlangt schon aufgrund der sehr detaillierten Informationen auch die Bereitschaft, sich selbst kritisch mit den Bildern auseinander zu setzen, die eine anschauliche und alltägliche Geschichte der Entwicklung einer Kleinstadt in Richtung einer zunehmenden Ideologisierung und Entsolidarisierung zeigen. Es eignet sich auch sehr gut, einzelne Kapitel gesondert für didaktische Zwecke zu verwenden und die in den Bildern und Texten enthaltenen Informationen durch die Literaturhinweise zu ergänzen.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 124 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.

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Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 11.11.2016 zu: Thomas Medicus (Hrsg.): Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933-1949: Die Fotosammlung Biella. Hamburger Edition (Hamburg) 2016. ISBN 978-3-86854-302-5. Anne-Frank-Shoah-Bibliothek. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20956.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.


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