Daniel Drepper: Jeder pflegt allein
Rezensiert von Prof. Dr. sc.hum. Nina Fleischmann, 08.12.2016

Daniel Drepper: Jeder pflegt allein. Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht – Eine Reportage. CORRECTIV (Essen) 2016. 224 Seiten. ISBN 978-3-9817400-1-1. 20,00 EUR.
Thema
Der Umzug in ein Pflegeheim ist ein großer Schritt. Die Berichterstattung in den Medien über Pflegeskandale macht es den Personen, die die Entscheidung für diesen Schritt fällen (müssen), nicht leicht. Der Autor dieses Buches fragt sich: Was muss sich ändern, damit Pflege wieder mit Freude und Geborgenheit verbunden wird statt mit Vernachlässigung und Gewalt? Daniel Drepper vom Recherchezentrum correctiv.org hat für dieses Buch über ein Jahr lang recherchiert.
Autor
Daniel Drepper ist Journalist und Mitbegründer von correctiv.org, die sich selbst als unabhängiges, werbefreies und nicht-gewinnorientiertes Recherchezentrum verstehen und „Recherchen für die Gesellschaft“ anbieten.
Aufbau
Dieses Buch beinhaltet 13 Kapitel und einen Anhang auf 215 Seiten.
Die Abschnitte wechseln die Perspektiven und Erzählarten. Einer der Erzählstränge behandelt einen Altenheimbetreiber und seinen Weg im Gesundheitssystem, ein weiterer die „Undercover“-Berichte.
Ein Drittel des Buches ist als Ratgeber ausgewiesen und beinhaltet u.a. Checklisten, an denen man die Qualität eines Pflegeheims erkennt, erklärt, was eine Pflegeberatung ist und welche Möglichkeiten es bei Demenz gibt.
Inhalt
Der Leser lernt gleich zu Beginn Marcus Jogerst und seinen Weg in der Pflege kennen. Jogerst hat ein Seniorenhaus eröffnet, das hier als positives Beispiel für gute Pflege dient. Anhand seines Weges wird die Historie der beruflichen Pflege in Deutschland nachgezeichnet, von Theodor Fliedners „Bildungsanstalt für Pflegerinnen“ über die Einführung und Folgen der Pflegeversicherung und weiterer Rahmenbedingungen für Pflegekräfte.
Neben Jogerst wird von weiteren Pflegekräften berichtet – stets eine Mischung aus privaten und beruflichen Erfahrungen. Die Personen erleben Missstände in ihrem Arbeitsalltag, die dünne Personaldecke oder die Schwierigkeiten, Vorgaben einer profitorientierten Geschäftsführung zu erfüllen. Jogersts Altenheim eröffnet 2006 mit innovativen Konzepten wie z.B. Wohnküchen und Mahlzeitenzubereitung unter Einbezug der Bewohner, in einem weiteren später eröffneten Haus zur Versorgung Demenzerkrankter sind die Arbeitszeiten an die Gewohnheiten der Bewohner angepasst. Seine Pflegesatzverhandlungen mit den Pflegekassen werden aufgezeigt und damit das Thema Geld angeschnitten: in der Pflege sei der Preis transparent, die Qualität sei es nicht und ohne Transparenz und unabhängige Testung unterscheidet sich dieser Markt stark von anderen Marktsegmenten. Um gute Mitarbeiter wird mit Abwerbung, Handgeld für Verträge und persönliche Kontakte konkurriert, die Besetzung der Schichten ist oft nur mit Leiharbeitern aufrechtzuerhalten. Die kritische Haltung zu den Qualitätsprüfungen des MDK wird deutlich.
2013 findet Jogerst Kontakt zur Initiative „Pflege am Boden“, eine Gruppe, die durch öffentliches auf dem Boden liegen auf die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte aufmerksam machen will, einen verbindlichen Personalschlüssel und mehr Mitbestimmung fordert. Für Jogerst ist es der Auslöser für politische Arbeit, er sucht das Gespräch mit Politikern, nimmt an Demonstrationen zur Sicherung der Qualität in der Pflege teil.
In drei weiteren Kapiteln wird beschrieben, wie ein Journalist vorgibt, pflegebedürftig zu sein. Er zieht für jeweils eine Woche in ein Pflegeheim ein und berichtet in Tagebuch-Form aus der Binnenperspektive: wie ist das Essen? Wie verhalten sich die Pflegekräfte zu ihm? Wie gestaltet sich sein Tag? Welches Verhalten beobachtet er bei den anderen Bewohnern? Welche Reaktionen erhält er auf bestimmte gespielte Verhaltensweisen wie Orientierungslosigkeit oder mehrere Tage nichts zu trinken?
In einem Schlusswort zieht Drepper eine Bilanz seiner Recherchen. Der gesundheitspolitischen Devise „ambulant vor stationär“ hält er entgegen, das eine ambulante Versorgung höhere Kosten nach sich zieht als in der stationären Pflege und das mit dem demografischen und gesellschaftlichen Wandel weg von der Großfamilie, die die Pflege der Generationen in sich regelt. Aus seiner Sicht ist eine Vollversicherung für das Risiko der Pflegebedürftigkeit eine Lösung.
Das letzte Drittel des Buches ist ein Ratgeber für Menschen, die für sich selbst oder einen Angehörigen eine Entscheidung für ein Pflegeheim treffen müssen. Das Buch verweist auf die Website von Correctiv, wo Daten zu den einzelnen Pflegeheimen in Deutschland aufgelistet sind. Zur Auswahl eines Heims sind Aspekte zusammengetragen wie: Wie riecht es in dem Heim? Wirken die Räume belebt und natürlich? Daraus wurde eine 10-Punkte-Checkliste für die Einschätzung der Qualität abgeleitet. Zudem gibt es einen Abschnitt mit Kontaktadressen von Organisationen, die Fragen zur Pflege beantworten können wie das Heimverzeichnis oder das Deutsche Zentrum für Altersfragen oder Interessenvertretungen wie der Pflegeselbsthilfeverband oder die Bundesinitiative Daheim statt Heim e.V.
Das letzte Kapitel gibt noch einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Buchs, wie Drepper gearbeitet hat, wie er die Daten recherchiert hat, welche Quellen er benutzt hat.
Diskussion
Nach Breitscheidel und Wallraff eine erneute investigative Recherche aus der Pflegebranche – braucht es das? Das war mein erster Gedanke, als ich die Pressemeldungen zum Erscheinen des Buchs las. Mit einem ansprechenden Schreibstil und den unterschiedlichen Erzählsträngen war ich positiv überrascht, wenn mich auch die Fakten nach 17 Jahren eigener Tätigkeit im Gesundheitswesen nicht überraschen. Persönliche Lebensgeschichten werden hier mit sachlichen Informationen verknüpft und dadurch leicht verdaulich für alle außerhalb der beruflichen Pflege. Aber auch für Pflegekräfte selbst wird mancher Zusammenhang im Gesundheitswesen deutlicher. Spannend ist der Undercover-Einblick in zwei verschiedene Pflegeheime aus der Bewohnerperspektive.
Dass Pflege ein Frauenberuf ist, wird im Buch erwähnt. Dennoch sind die beruflich Pflegenden, über die das Buch berichtet, mehr Männer als Frauen. Zu den Gründen lässt sich nur spekulieren, die Repräsentativität für den Berufsstand schränkt es dennoch ein. Als berufspolitische Initiative wird einzig „Pflege am Boden“ erwähnt. Ich stimme zu, dass der Pflegeberuf sich in berufspolitische Organisation nicht gerade hervortut, dennoch gibt es viele Berufsverbände z.B. der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe, kurz DBfK, die seit vielen Jahren tätig sind, hier aber keine Erwähnung finden.
Der Klappentext kündigt „bislang geheime Untersuchungsberichte“ an. Ich habe im Buch keine dieser geheimen Berichte ausmachen können.
Fazit
„Jeder pflegt allein – wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“ widmet sich der Pflegebranche aus journalistischer Sicht. Nah an beruflich Pflegenden werden Geschichten der Menschen mit Fakten verwoben und eine Hilfestellung für eine eigene Beurteilung von Pflegeheimen gegeben. Damit eignet sich das Buch für alle, die sich dem Thema Pflegeheim nähern wollen oder müssen.
Rezension von
Prof. Dr. sc.hum. Nina Fleischmann
Hochschule Hannover Fakultät V - Diakonie, Gesundheit und Soziales
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