Ann Elisabeth Auhagen (Hrsg.): Positive Psychologie. Anleitung zum "besseren" Leben
Rezensiert von PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke, 15.02.2005

Ann Elisabeth Auhagen (Hrsg.): Positive Psychologie. Anleitung zum "besseren" Leben. Beltz Psychologie Verlags Union (PVU) (Weinheim) 2004. 223 Seiten. ISBN 978-3-621-27555-2. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 52,90 sFr.
Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension
Dr. Ann Elisabeth Auhagen ist Privatdozentin im Studiengang Psychologie an der Freien Universität Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Positive Psychologie, die Sozialpsychologie, die Angewandte Sozialpsychologie sowie die Pädagogische Psychologie.
Einführung in das Thema
Als Präsident der American Psychological Association (www.apa.org) diagnostizierte Martin E. P. Seligman (www.psych.upenn.edu/seligman/bio.htm) 1998, die Psychologie habe zwei ihrer drei Aufgaben, die sie vor dem Zweiten Weltkrieg gehabt hatte, vergessen: zu einem erfüllteren Leben aller Menschen beizutragen, und Hochbegabung zu entdecken und zu fördern (www.apa.org/monitor/jan98/pres.html). Stattdessen habe sie sich auf die Diagnose und Heilung von psychischen Störungen und Krankheiten konzentriert, dort auch große Fortschritte erzielt, jedoch in den Jahren danach versäumt, diese (historisch vielleicht sogar nachvollziehbare) Selbstbeschränkung wieder aufzuheben. Quasi als Gegenbewegung zur Überwindung dieses Defizits (und vor allem der dieses Defizit charakterisierenden Defizitorientierung) definierte Seligman die „Positive Psychologie“. Diese geht davon aus, dass Menschen nicht nur nicht leiden wollen, sondern zugleich danach streben, ein bedeutungsvolles und erfülltes Leben zu führen, das Beste in ihnen zu kultivieren, und ihre Erfahrungen weiterzuentwickeln. Nur eine Psychologie, die sich theoretisch wie praktisch (auch) mit positiven Erfahrungen, positiven individuellen Eigenschaften und positiven Institutionen als zentralen Gegenständen beschäftige, habe die Möglichkeit, eben nicht nur psychische Defizite zu heilen, sondern auch Stärken zu fördern, die Menschen befähigen können, das Beste im Leben zu erreichen.
Um den Impetus dieses sicher anspruchsvollen Programms zu verstehen, ist es vielleicht instruktiv, den (psychischen) Wirkungen nachzuspüren, die die Themenlisten „Neurotizismus, Angst, Depressivität, Feindseligkeit, Ärger, Aggressivität“ und „Gelassenheit, Geborgenheit, Sinn, Vertrauen, Güte, Solidarität“ bei Ihnen als Leser/in hinterlassen. Für mich ist dabei zunächst nicht zentral, dass erstere eher negativ und letztere eher positiv konnotiert sind, sondern dass das Fehlen der einen (wenigstens phänomenologisch) nicht die Anwesenheit der anderen impliziert (und vice versa). Nicht depressiv sein etwa heißt nicht unbedingt, Sinn im Leben zu empfinden – um nur ein Beispiel zu geben. Jedenfalls ist es sicher viel versprechend, dem Positiven auch psychologisch (wieder) auf die Spur zu kommen. Eben dieses strebt der vorliegende Band an, indem er in die Positive Psychologie einführt, eine ganze Reihe von Stärken, Tugenden und Eigenschaften vorstellt, die in der Psychologie bisher eher wenig beachtet worden sind, und Prozesse und Strategien zentraler Lebensthemen diskutiert.
Aufbau und Inhalt des Buches
Die Herausgeberin beginnt und schließt den Band mit je einem grundsätzlichen Kapitel (Das Positive mehren. Herausforderungen für die Positive Psychologie sowie Zentrale Lebensthemen als Schlüssel zu einem positiven Leben). Im ersteren führt sie in das Feld und seine wissenschaftlichen und praktischen Aspekte ein und definiert Positive Psychologie „als Orientierung auf das Mehren des Guten in Forschung, Anwendung und Praxis,
- insbesondere im Hinblick auf menschliche Stärken und Ressourcen
- vor dem Hintergrund einer integrativen Ethik der Nächstenliebe und des Verzichts auf jede Form von Gewalt
- und mit dem Ziel, bessere subjektive und objektive Lebensbedingungen für Menschen zu schaffen“ (S. 13).
Im Schlusskapitel ist m.E. die Kernthese, dass eine solche Psychologie an innerpsychischen Prozessen mitwirken könne, die durch positive Erfahrungen zu weiterem Positiven führen und in ihren sozialen Bezügen auch auf das Außen, vor allem andere Menschen wirken können.
Die anderen 10 Kapitel des Bandes widmen sich je einem Konzept. Wenn ich ihre Darstellung im Folgenden vergleichsweise kurz halte, so halte ich dies zum einen für verantwortbar, weil sie – in Auhagens Worten – „nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine Alltagsbedeutung haben“ (S. 3), und zum anderen möchte ich potenziellen Lesern tatsächlich nicht zu viel „vorweg“ nehmen.
- Astrid Schütz, Janine Hertel & Andrea Heindl stellen das Konzept Positives Denken vor, das allerdings keinen psychologischen Fachausdruck darstellt, sodass Effekte, Diagnose und Training verwandter Konzepte den Schwerpunkt des Kapitels bilden (Optimismus, Kontrollüberzeugungen, Selbstwirksamkeitswartung, und positiv konnotierte Bewältigung).
- Das Kapitel zu Gelassenheit stammt von Dorothea Rahm, die nach einem Abschnitt zu geistesgeschichtlichen Hintergründen und zur Definition von Gelassenheit einschlägige Erkenntnisse der Stressforschung, der Entwicklungspsychologie und der Psychotherapie referiert sowie abschließend einige Anregungen für einen gelassene(re)n Alltag gibt.
- Erleben, Formen und die Bedeutung von sowie mögliche Wege zur Geborgenheit als „fundamentalem Lebenssystem“ stellt Hans Mogel vor, wobei er besonderes Augenmerk auf die Konzepte Ungeborgenheit und Sicherheit legt, und auch konsequent international kulturvergleichende Perspektiven integriert.
- Geschichte, Schwerpunkte und Forschungsergebnisse der Religionspsychologie bilden einen Schwerpunkt des Kapitels zu Religiosität und Spiritualität von Michael Utsch, der diese Konzepte darüber hinaus noch in ihrer Relevanz für Gesundheit und Krankheit darstellt, und abschließend unter dem Stichwort „Heil und Heilung“ Grenzen ihrer Interpretation diskutiert.
- Reinhard Tausch, für mich ein im positivsten Sinne „Grand Seigneur“ vor allem der Klinischen Psychologie in Deutschland, greift in seinem Kapitel Sinn in unserem Leben Sinnerfahrungen im Alltag auf, stellt Auswirkungen von Sinnerfahrungen und Sinnlosigkeit dar, und zeigt sowohl Gefahren bei der Suche nach Sinn als auch Wege zur Förderung von Sinnerfahrungen auf.
- Michael Kastner stellt Ethische Kommunikation u.a. mit 20 Grundsätzen entsprechenden Verhaltens vor, wobei mir die leise Kritik, dass das Stichwort „Argumentationsintegrität“, das mich im Studium in einem Seminar von Norbert Groeben so beeindruckt hat, fehlt, ob meiner Zusage, eine Kritik dieser Rezension anhand der Grundsätze gerne anzunehmen, gestattet sei.
- Das Literaturverzeichnis des Kapitels Vertrauen von Martin K. W. Schweer & Barbara Thies zeigt, dass – wie die Autoren selbst anmerken – Vertrauen zu den bereits intensiver erforschten Konzepten gehört. So wird seine Vielschichtigkeit aus der Sicht verschiedener psychologischer Perspektiven sowie Relevanz und Förderungsmöglichkeiten für verschiedene Settings erläutert.
- Dass das Thema Verzeihen inzwischen sogar der Ärzte Zeitung Online einen Beitrag wert war (Ursula Gräfen am 24.10.2003), zeigt die Aktualität des Kapitels von Christian Schwennen. Wie auch hier die Literatur nahe legt, existieren bereits umfangreiche Arbeiten zur Prozesshaftigkeit des Verzeihens und seiner Entstehung sowie der Beziehung zu Gesundheit und Wohlbefinden.
- Ann Elisabeth Auhagen argumentiert in ihrem Kapitel zum Konzept Mitmenschliche Güte, dass das „Paradigma zum Ertrag von Beziehungen“ – letztlich also der „homo oeconomicus“ – keine Grundlage der Erforschung von Güte bilden könne, sondern es eines „Paradigmas des Guten“ bedürfe, um sie als Prinzip sowohl definitorisch als auch in Theorie und Praxis zu fassen.
- Ein auch gesellschaftspolitisch unverändert relevantes Konzept greifen Hans-Werner Bierhoff & Theo Schülken mit ihrem Kapitel zur Solidarität auf, in dem sie sowohl Rational-Choice-Modelle als auch altruistisch motivierte Formen solidarischen Handelns behandeln und zuletzt ihre These begründen, dass Solidarität kein Auslaufmodell und es möglich sei, sie zu fördern.
Qualität und Nutzen des Buches
Meine Einschätzung von Qualität und Nutzen des Buches kann vielleicht in erster Annäherung damit beschrieben werden, dass ich meine Initiative, es zu rezensieren, ganz und gar nicht bereut habe. Positiv(!) formuliert: das Buch ist qualitativ vorzüglich gemacht und m.E. sowohl für akademisches Publikum als auch für die breitete Öffentlichkeit sehr gut nutzbar. Wer sich aktuell und fundiert über Konzepte der Psychologie für ein „besseres“ Leben informieren möchte, wird hier fündig werden, weswegen mein Fazit auch eindeutig ist (s.u.). Zuvor möchte ich allerdings noch auf vier aus meiner Sicht eher kritische Punkte eingehen, wobei sich die ersten beiden ausschließlich auf das Buch selbst, die beiden letzten darüber hinaus auch grundsätzlich auf die Positive Psychologie insgesamt beziehen.
- Mein erster Punkt bezieht sich auf das Kapitel von Michael Utsch, und zwar speziell auf den Kasten „Heilende Wirkung der Fürbitte“ (S. 78). Utsch berichtet dort über eine Studie von Randolph C. Byrd (Southern Medical Journal, Vol. 81, S. 826–829, 1988), in der vermeintlich nachgewiesen wurde, dass (knapp formuliert) Beten für Kranke diese heilte, und zwar sogar ohne dass die Kranken davon (also vom „Für-sie-Beten“) wussten (konkret ging es um Herzinfarktpatienten). Meine Kritik richtet sich nun nicht darauf, dass Utsch die Studie darstellt (ihr Abstract wurde am 20. Januar 1989 immerhin im renommierten JAMA abgedruckt), und auch nicht, dass er dies in prominenter Form tut, sondern dass er dies praktisch unkommentiert und vor allem lückenhaft tut. So wird von sechs klinischen Parametern berichtet, bei denen es Unterschiede in der vom Autor der Studie erwarteten Richtung gab, jedoch verschwiegen, dass dies bei 20(!) anderen nicht der Fall war. Ich habe mir die Studie besorgt; sie ist auf den ersten Blick gut gemacht, zeigt jedoch bei genauerem Hinsehen natürlich nicht, dass solcherlei „Fernbeten“ tatsächlich therapeutische Effekte hat (oder gar Gott die Hände im Spiel). Es ist hier nicht der Ort, dies zu begründen (vgl. dazu z.B. www.infidels.org/library/modern/gary_posner/godccu.html); auch geht es mir an dieser Stelle nicht um die Frage „A- vs. Theismus“. Allerdings möchte ich deutlich darauf hinweisen, dass ich zumindest in einem Buch, das wie gesagt auch für eine breitere Öffentlichkeit interessant sein kann, solch lässige (tendenziöse?) Darstellung einer solchen Studie für fahrlässig halte. Zu dieser Einschätzung findet sich am Ende der Rezension eine Replik von Michael Utsch.
- Zum zweiten habe ich ein Stichwort doch vermisst. Denn auch wenn die Herausgeberin ausdrücklich nur einige der Konzepte nennt, die sie aus Platzgründen nicht berücksichtigt hat (S. 3), war sie an einem Punkt – sie möge mir den etwas wortspielerischen Hinweis verzeihen – vielleicht doch unachtsam: das Konzept „Achtsamkeit“ wird (qua Sachverzeichnis) im gesamten Band nicht erwähnt. Dies finde ich nicht in erster Linie deswegen schade, weil zu diesem Konzept bereits psychologische Studien vorliegen (vgl. zuletzt etwa Kirk Warren Brown & Richard M. Ryan im JPSP, Vol. 84, S. 822–848, 2003), sondern weil Achtsamkeit aus meiner Sicht ein Kernkonzept Positiver Psychologie in Auhagens Sinne sein könnte.
- Drittens – und damit komme ich zu den eher grundsätzlichen Punkten – finde ich den Begriff „Positive Psychologie“ deswegen erklärungsbedürftig, weil er leicht als mit Positionen des Positivismus assoziiert (miss-)verstanden werden könnte. So beschreibt etwa in den Wirtschaftswissenschaften die Positive Ökonomie das was ist, die Normative Ökonomie dagegen das was sein sollte. Nun tritt die Positive Psychologie „trotz“ rigoros empirischer Ausrichtung klar mit positiv-utopischen regulativen Zielideen an, äußert sich also dezidiert auch zu dem, was sein sollte. Ohne zuviel Leidenschaft: Für manchen wäre „Psychologie des Positiven“ vielleicht eindeutiger.
- Schließlich etwas sicher sehr Grundsätzliches. Wiewohl ich mir unsicher bin, ob das, was seit Seligmans APA-Präsidentschaft unter dem Begriff Positive Psychologie geführt wird, davor wirklich so vollständig in Vergessenheit geraten war (vgl. etwa die Comments zu Martin E. P. Seligman & Mihaly Csikszentmihalyi, American Psychologist, Vol. 55, S. 5–14, 2000, im Vol. 56 derselben Zeitschrift, S. 81–85, 2001), finde ich den Impetus, eine positiv und negativ bewertete Phänomene balancierende Psychologie sicherzustellen, ebenso legitim wie das entsprechende Ziel des „Salutogenese“-Ansatzes von Aaron Antonovsky in der Public Health (trotz aller berechtigten Kritik; vgl. zuletzt die Debatte zwischen Rolf Weitkunat und Jost Bauch & Peter Franzkowiak in Prävention, Vol. 4, S. 99–108, 2004). Gleichwohl ist mir der Tenor auch im vorliegenden Band manchmal fast „zu“ positiv. Dies liegt wohl an meiner eigenen Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob diese Welt mit (fast) nur Positivem (bzw. die entsprechende psychologische Utopie) nicht schon deshalb ebenso unheimlich wäre wie etwa eine Welt mit (fast) keiner Krankheit, weil wir als Menschen vielleicht doch am ehesten an der Auseinandersetzung mit Polaritäten wachsen.
Fazit
Ein vorzüglich gemachtes, angenehm zu lesendes – vor allem aber wichtiges Buch! Wer sich jenseits allzu marktschreierischer „Lebenshilfe“-Literatur einen – auch wissenschaftlich – fundierten Überblick und Ausgangspunkt zu psychologischen Konzepten verschaffen möchte, die für ein „besseres“ Leben wohl wichtig sind, und sich diesem Buch widmet, dem prognostiziere ich ein erfüllendes Leseerlebnis.
Literatur
Astin, J. A., Harkness, E., Ernst, E. (2000). The efficacy of „distant healing“: a systematic review of randomized trials. Annals of Internal Medicine, 132, 903–910.
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Rezension von
PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke
Stv. Leiter der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie der Medizinischen Hochschule Hannover
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