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Mariam Irene Tazi-Preve: Vom Versagen der Kleinfamilie

Rezensiert von Dr. Steffen Großkopf, 19.02.2018

Cover Mariam Irene Tazi-Preve: Vom Versagen der Kleinfamilie ISBN 978-3-8474-2010-1

Mariam Irene Tazi-Preve: Vom Versagen der Kleinfamilie. Ideologie und Alternativen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 190 Seiten. ISBN 978-3-8474-2010-1. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 25,30 sFr.

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Thema

„Thema dieses Buches ist … die Kritik, die Analyse und der Aufruf zur notwendigen Abkehr vom ‚Glaubenssystem Kleinfamilie‘.“ (S. 16)

Die These ist, „dass die Vorstellung von Privatheit in Form der Kleinfamilienstruktur selbst das Problem darstellt.“ (S. 16) Dort werden Menschen für die „patriarchale Zivilisation“ (S. 16) zugerichtet. Behütetes Aufwachsen garantiert vielmehr die Familie einer matrilinearen Sozialordnung.

Autorin

Die österreichische Autorin, Jahrgang 1961, ist Professorin für Politikwissenschaft und Geschlechterforschung an der University of New Orleans. Sie beschreibt sich auf ihrer Homepage als „Visionäre Professorin und Politikwissenschafterin“, die zu einer neuen Sicht anregt, „indem sie die Welt ‚dekolonialisiert‘“ und sie ist „Mitbegründerin einer revolutionären Zivilisationstheorie innerhalb der Sozialwissenschaften“ (www.mariamtazi-preve.com 12.01.2018)

Entstehungshintergrund

Die Autorin befasst sich seit 30 Jahren mit den Themen Familie, Familienpolitik sowie Vätern und dem Matriarchat.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in zwölf Abschnitte sowie eine Danksagung untergliedert.

Nach der Einführung „Vom Leiden an der Kleinfamilie“, in der die Ziele des Buches (s.o. Thema) ausgeführt werden, folgt eine Klärung der Grundbegriffe Liebe, Familie, Patriarchat, Matriarchat/Matrilinearität. Dem Patriarchat als eine „Denkgewalt“ bzw. eine Normalitätsbehauptung – deren Opfer auch Männer sind, z.B. wenn sie nicht dem klassischen Vaterbild entsprechen, ebenso gibt es patriarchale Frauen, das sind solche, die den patriarchalen Mustern erfolgreich folgen, z.B. ‚Karrierefrauen‘ – wird das Matriarchat entgegengestellt. Es findet sich bei wenigen als Naturvölker denunzierten Gesellschaften, da es nicht den Zivilisationsvorstellungen patriarchaler Denkgewalt entspricht. Im Matriarchat folgen Verwandtschaftsbeziehungen der mütterlichen Linie. Eine Heirat ist nicht mit der Neugründung eines Haushaltes mit einem Mann verbunden. Beide Geschlechter verbleiben bei ihrer Herkunftsfamilie mütterlicherseits. [1] Das Matriarchat ist gekennzeichnet durch Subsistenzwirtschaft, keinen Privatbesitz und große sexuelle Freiheiten sowie eine starke Konsensorientierung (S. 35).

Grundlage der Betrachtung der Kleinfamilie ist die ‚kritische Patriarchatstheorie‘, an deren Entwicklung die Autorin mitgewirkt hat. Diese ist eine ‚systemische Metatheorie‘ und besagt im Kern, dass das Ziel und die Praxis patriarchaler Macht die Auslöschung der Mutter als natürlicher Beginn allen Lebens ist. Damit verbunden ist ein Fortschrittsdenken, welches die Natur eliminiert, um sie künstlich zu rekreieren. Die Reproduktionstechnologie ist ein klassischer Ausdruck dessen. Auch die Kleinfamilie ist Teil dieser Strategie. Die gnadenlose Naturzerstörung ist die Folge patriarchalen Denkens.

In Kapitel 1 „Die Mutterfalle“ wird die Debatte um das Mutter-Sein in westlichen Gesellschaften beschrieben und warum der Feminismus Teil und nicht Lösung des Problems ist.

In Kapitel 2 „Politik und Familie“ wird der Bogen etwas weiter gespannt und konstatiert, dass die politische Rhetorik der Familie um die Normierung der Kleinfamilie kreist und sich der Staat mitnichten aus dem Privaten heraushält. Im Gegenteil, medizinische und pädagogische Kontrolle sind ab dem Zeitpunkt der Geburt eines Kindes Standard. Über den Staat wird die Kleinfamilie hergestellt und positiv sanktioniert, zugleich erscheint sie als natürliche Institution. So wird die Gewalt ihrer Herstellung verhehlt und die Gewalt in ihr unsichtbar. Die auf patriarchaler Aggression und Herrschaft beruhende Kleinfamilienideologie lebt. Dem wird an Beispielen eine nicht-patriarchale Politik entgegengestellt.

Kapitel 3 schließt an die Familienpolitik an und entlarvt „Die Vereinbarkeitslüge“ von Familie und Beruf, die auf falschen Prämissen beruht und nur der Aufrechterhaltung der Kleinfamilie dient, obschon der Antagonismus zwischen der Logik des Erwerbssystems und der Kleinfamilie evident ist. Das angebotene Lösungsmodell ist das des männlichen Lohnarbeiters. Eine Lösung, die letztlich keine praktikable ist. Die Position des Mannes bleibt marginal in der Debatte, sodass Männer nicht bemerken, welchen Preis sie für ihr persönliches Leben dabei zahlen. Es wird anschließend auf die Voraussetzung dieser Sozialpolitik eingegangen und die Schlagworte Vereinbarkeit, Wahlfreiheit, Wohl der Kinder und Geburtenrate einzeln ‚seziert‘. Im Ergebnis geht es darum, das gesamte System in Frage zu stellen, statt daran herumzudoktern.

In Kapitel 4 „Die Wirtschaft mit der Familie“ erfolgt primär eine Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus (Friedman), dessen Folgen für die Menschen und Überlegungen zu alternativen Wirtschaftsformen, die von einer Korrelation von Naturausbeutung und Unterdrückung der Frau ausgehen, wobei die Wissenschaft immer als involvierte mitgedacht wird. Anschließend werden alternative Ökonomieansätze benannt. Dabei wird auf Basis des Ökofeminismus auf den Zusammenhang von Überproduktion in einem Teil der Welt und Ausbeutung in anderen eingegangen. Basal für diesen Zustand ist die (Fortschritts)Haltung und deren Grundgedanke Freiheit als Naturüberwindung zu verstehen. Dieses patriarchale Konzept ist aufzugeben zugunsten einer Subsistenzwirtschaft, die sich auf das Notwendige beschränkt (S. 113f). Kern ist eine Ökonomie des Schenkens.

Die neoliberalen Bedingungen verunmöglichen das Kleinfamilienleben, steigern aber den Wunsch danach. In der Familie selbst wird ‚emotionaler Frieden‘ gesucht, aber die für diese Ökonomie basale emotionale Distanzierung wird gelernt, die dann wiederum die Sehnsucht produziert: „Die emotionale Entwurzelung wird durch eine Reihe von Praktiken der körperlichen Distanzierung von der Mutter und allen mütterlich fürsorgenden Menschen von frühester Kindheit eingeübt. Dazu gehört die Separierung in einen Schlafbereich, die Abfütterung nach rigiden Zeiten, das Distanzbedürfnis der Mutter selbst…“ (S. 109).

In Kapitel 5 „Neue“ oder „alte“ Väter? geht es um die Frage, ob es denn neue Väter gibt, wie die Politik in diesem Kontext argumentiert und kritisiert, dass die Väterrechtsbewegung Väter heute zu Opfern stilisiert. Faktisch bleibt die Fürsorglichkeit der Väter im Hinblick auf Kinder stark begrenzt.

„Die Sache mit der Sexualität“ ist Thema im Kapitel 6. Hier werden der Zwang zur Heterosexualität, die Kleinfamilie als ungeeignete und wenig befriedigende Form des Zusammenlebens der Partner, sowie die Problematik der Ehe auf Lebenszeit betrachtet. In der Kleinfamilie werden ein „Zuhause haben“ und das Befriedigen von Sexualität folgenreich vermischt. Die Form der Kleinfamilie widerspricht den realen Bedürfnissen. Prostitution bzw. sexuelle Ausbeutung und ihre patriarchale Legitimation sind die Folge. Die dysfunktionalen Kleinfamilien sorgen wiederum für Nachschub an potentiellen Opfern.

In Kapitel 7 „Familie als matrilineare Verhältnisse“ wird die Lösung der zuvor behandelten Probleme vorgestellt. Es werden verschiedene Modelle vorgestellt, z.B. die Sami und die Miniangkabau auf Sumatra. Das matrilineare Verständnis wird skizziert, ebenso wie in diesem Kontext Vaterschaft verstanden wird. Es geht darum, sich dieser Konzeptionen zu erinnern und von diesen zu lernen.

In Kapitel 8 „Warum versagt die Kleinfamilie wirklich?“ wird resümiert, was im Buch herausgearbeitet wurde, aber im Sinne von 30 Jahren Forschung zum Privaten durch die Autorin. Die Kleinfamilie ist primär Leiden für die ‚Betroffenen‘ mit der Folge von Scheidung und vaterlosen Kindern. „Täglich erfahren wir aus den Medien vom Familien-Elend, wenn es zu Verwahrlosung, zu physischer und sexueller Gewalt oder tödlichen Attacken bei einer Trennung kommt.“ (S. 169) Die Kleinfamilie ist strukturell dysfunktional, da sie nicht leisten kann, was sie soll/verspricht. Daher ist der Blick radikal zu ändern, vor allem darauf, wem das System nützt, warum es sich hält und welche Denkmuster ihm zugrunde liegen (S. 171).

Es ist ein patriarchales Denksystem, welches Männer und Frauen beherrscht und ökonomisch katastrophale Folgen hat. In diesem Rahmen müssen Familien funktionieren. Die Kinderbetreuung wird ausgelagert in der Hoffnung, die Geburtenzahl zu sichern. Dennoch wird von den Menschen an Ehe und heterosexuellem Liebesmythos festgehalten, obwohl Scheidungsraten und Trennungen klar auf die Brüchigkeit verweisen, ebenso wie der Therapiebedarf und die notorische Überforderung der Mütter. Hinzu kommt die Kleinfamilie als Gewaltschauplatz: „Frauen und Kinder sind nirgendwo gefährdeter als in Familien“ (S. 182). Politik, Kirchen und selbst Therapeuten halten aber an der Kleinfamilie fest. Regierende und Wirtschaftstreibende haben ein Interesse, die kostenlose Arbeit der Mutter zu erhalten und ebenso den Zufluchtsort Familie, weil er das System am Laufen hält (S. 183). Das Glaubenssystem Kleinfamilie kann sich halten, weil es massive ideologische Unterstützung von verschiedenen Seiten erfährt und sich zugleich über das ödipale Dreieck, welches Mann und Frau – als selbstlose Mutter oder männlichen Werten anhängende – wieder hervorbringt. Zugleich sind die Kinder der Kleinfamilie chronisch gefährdet für „jede Art von Sucht“ (S. 186), wozu nicht nur Drogen zählen, sondern auch Status. „Die Kleinfamilie versagt, weil es nur unter den Umständen der isolierten Dreieckskonstellation (…) zu den dramatischen Brüchen im stabilen familialen Umfeld oder zu seinem abrupten Verlust kommen kann. Das Risiko vom Vater verlassen zu werden und der Zwang zur Neuorientierung, von denen Kinder nach einer Scheidung betroffen sind, treten ausschließlich im Kontext der Kleinfamilie auf. Wenn nur so wenige Bezugspersonen für ein Kind zuständig sind, führt dies (…) zum Verlust eines und zeitweilig sogar beider Elternteile. Für ein sicheres Aufwachsen von Kindern ist das fatal“ (S. 188). Autonomie ist Kern des Erwachsenseins, Unabhängigkeit zählt, wer in den mütterlichen Haushalt zurückkehrt, gilt als Versager. So wird der Partner zum einzigen emotionalen Rückhalt und dies ist der legitime Weg in unserer Gesellschaft, der aber immer weniger gelingt, „da eine auf Erotik begründete Beziehung nicht zugleich auch mütterliche Fürsorge und Rückhalt bieten kann. Sie kann auch deshalb nicht gelingen, da sie mit Verpflichtungen füreinander, finanzieller Art oder für die gemeinsame Sorge für Kinder verquickt ist. Da zudem das Aufziehen von Kindern nicht Sache eines Clans ist, sondern die individuelle von Paaren bzw. zumeist allein von Müttern, treten naturgemäß Spannungen und Überforderung auf.“ (S. 189) Diese Individualisierung muss neurotisierend wirken, sodass es „grob fahrlässig [ist] eine Mutter mit Kind(ern) allein zu lassen“ (S. 189)

Der Niedergang der Familie liegt nach Tazi-Preve nicht im Werteverfall sondern in ihrer Struktur und der willkürlichen Setzung des Modells begründet. Statt der matrilinearen Familie zu folgen, gelte es „vom Glauben [an die Kleinfamilie] abzufallen.“

Es folgt ein Abschnitt mit alternativen Vorschlägen des Zusammenlebens und ein Nachwort, in dem die eigene Namensgeschichte als Leidensgeschichte durch die Patrilinearität erzählt wird.

Dieses letzte Kapitel kann im Sinne qualitativer Forschung auch als Selbstreflexion gelten, die dem Leser etwas über die Forscherin mitteilt, denn bekanntlich sagt Forschung nicht selten mehr über den Forscher als über das Erforschte aus, was mitnichten einer Dequalifizierung gleichzusetzen ist.

Diskussion

Wer aufgrund des Titels eine ‚typisch‘ feministische Kritik der Kleinfamilie (vgl. z.B. Notz 2015) erwartet, wird überrascht. Vielmehr wurde, wie erwähnt, der Feminismus und die Genderdebatte als ‚patriarchales Denken‘ und Zuarbeit zum als neoliberal bezeichneten Wirtschafts- und Staatsystem entlarvt. Der Rezensent stimmt vielen Ausführungen der Autorin zu, wie z.B. der, dass Emanzipation vielfach in der Kopie des männlichen Arbeitnehmermodells besteht, denen zur Vereinbarkeitslüge, der Neoliberalismuskritik sowie der Fortschrittskritik. Auch der Kerngedanken des ‚Muttermordes‘ und der Unterjochung bzw. Tilgung jeglicher Natur durch ihre Beherrschung und künstliche Rekreierung ist bedenkenswert.

Die grundlegende Frage, die sich jedoch stellt, ist, ob die Ursache die neolokale Gattenfamilie und mit ihr das patriarchale Denken ist. Wie so oft stellt sich die Frage, ob Menschen ihre Geschichte machen oder diese sie. Spätestens seit Marx´ ‚Achtzehnten Brumaire des Louis Napoleon‘ ist dies eine Kernfrage im Hinblick auf die Möglichkeit einer Veränderung der Welt und um diese geht es Tazi-Preve. Die im Buch vielfach zitierte Heide Göttner-Abendroth – von ihr stammt auch die grundlegende Forschung zum Thema Matriarchat sowie die These, dass zuerst das Matriarchat war – ist jedoch in der Wissenschaft umstritten. Ihre Forschungen werden angezweifelt, da es z.B. aus archäologischer Perspektive keine Belege für diese Position gibt (vgl. Röder/Hummel/Kunz 1996). Göttner-Abendroth (1989, S. 56 ff.) verweist selbst u.a. auf eine ältere Arbeit von Sigrist, die zeigt, dass herrschaftsfreie Gesellschaften möglich seien und zwar auch in patrilinearen (!), wenn auch nicht patriarchalen Gentilgesellschaften.

Die polare Identifikation patriarchal organisierter Gesellschaften als aggressiv und gewalttätig und dem matriarchale Gesellschaften als friedlich und selbstgenügsam gegenüberzustellen überzeugt nicht, zumal auch die Befunde der archäologischen Forschung in diesen Gesellschaften Gewalt nachweisen (vgl. Röder 1998, S. 264 ff.) Es gibt zudem Hinweise darauf, dass für die Entstehung von Herrschaft ‚äußerer‘ Druck, z.B. Umweltbedingungen ursächlich sind, aber eine Umkehrbarkeit der Verhältnisse unwahrscheinlich ist, wie Sigrist konstatiert (vgl. Göttner-Abendroth 1989, S. 60; hierzu auch Diamond 1998). Göttner-Abendroht verortet in diesem Kontext dann auch den Umschlag vom Matriarchat zum Patriarchat (vgl. Göttner-Abendroht 1989, S. 62). Es gibt aber ebenso Hinweise darauf, dass solche äußeren Umstände matriarchale Gesellschaften erst entstehen lassen, z.B. aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen und der damit verbundenen Abwesenheit der Männer (vgl. Andrej 1998, S. 201). Das relativiert die Überlegungen noch einmal und könnte zu noch anderen Schlüssen der Herstellung der gewünschten Lebensform führen. Insofern sind viele Grundlagen der Argumentation Tazi-Preves fragwürdig und die abgeleitete Dualität der Argumentation sowie der ‚Lösungsweg Matriarchat‘ aus dem ‚kleinfamilialen Übel‘ überzeugt nicht. Vielmehr erweist sich das Matriarchat als ebenso ideologieverdächtig, wie die kritisierte Kleinfamilie.

Mit Blick auf den historischen Verlauf ist die Kleinfamilie nur ein – und so kann behauptet werden – noch zu eliminierendes Restelement einer langen Reihe von Reduktionen. Sie ist Ergebnis eines Auslöschungsprozesses der Clans, Sippen und des ganzen Hauses, der noch nicht beendet ist und an dessen Ende die Mutter-Kind-Dyade stehen könnte (vgl. Koschorke 2000; Joos 2006). Gerade mit Blick auf die Reproduktionstechniken könnte ebenso und m.E. überzeugender argumentiert werden, dass es um die Auslöschung des Vaters gehe, den diese Technologie primär in seiner sowieso schon marginalen Position nahezu eliminiert. Dass dies offensichtlich primär eine durch Männer als in der Forschung dominantes Geschlecht oder durch patriarchales Denken verursachte Situation ist, ändert daran nichts. Eher stellt sich die Frage, ob patriarchal der angemessene Begriff ist. Insbesondere, weil es inzwischen ebenso vorstellbar ist, dass kein Geschlecht mehr relevant ist, weil die Retorte, die von einem Roboter bedient wird, übrig bleibt oder auch nur noch ein Labor – ohne Menschliches zur Reproduktion von – was eigentlich? – notwendig ist. Das wäre dann Evolution ohne uns (vgl. auch Tuck 2016), weil uns die Zukunft nicht mehr braucht (vgl. Joy 2000).

Leider erscheint das wahrscheinlicher als ‚Lösungen der Mäßigung‘, wie z.B. die Kleinfamilie (vgl. Großkopf 2014) oder das ganze Haus – wie es z.B. Riehl (1861) in Kritik an der sich ausbreitenden Kleinfamilie sah – oder das von der Autorin favorisierte Matriarchat.

So überzeugend das Modell bekennend engagierter Wissenschaft sein kann, hat es doch einerseits immer einen belehrenden Gestus: „wir müssen auch aufhören zu glauben“ (S. 17). „Wir müssen also ‚vom Glauben abfallen‘“ (S. 190; vgl. zu einer alternativen Analyse des Themas Nadig 2013). Andererseits verlieren so engagiert geschriebene Texte auch an analytischer Schärfe, sodass es zu keiner systematischen Sicht auf die verschiedenen Formen des Zusammenlebens kommt. Die weitaus stärker patriarchal organisierten Formen der Familie, wie sie östlich der Hajnal-Linie verbreitet sind, finden im Buch keine Erwähnung. Interessant wäre es, eine Systematik der Familienformen zu erstellen, die dann die Dualität, die im Buch entwickelt wird, durchschneidet und einen differenzierteren Blick auf Ökonomie, Aufwachsen, wie auch Sexualität und Gewalt ermöglicht.

Des Weiteren kann gefragt werden, ob denn das Leiden an der Kleinfamilie – die Autorin wird nicht müde sie als gefährlichsten Ort für Frauen und Kinder zu beschreiben – dermaßen groß ist (vgl. differenziert Lamnek u.a. 2012). Einerseits zeigen Studien (z.B. Ecarius 2002; Dornes 2012), dass sich im Kontext der Kleinfamilie als dominante Lebensform auch als zivilisierend zu beschreibende Prozesse finden, z.B. die rechtliche Ächtung physischer Gewalt bis hin zur Diskussion über Kinderrechte. Zugleich bleibt die Datenlage zum Sexualverhalten der Menschen, wie auch Gewalt und Missbrauch in Familien – wie auch anderen Institutionen – ungenügend und erweist sich als extrem schwer erforschbar (vgl. Helferich/Kavemann/Kindler 2016). Dadurch wird das Feld ein massiv von eigenen Erfahrungen und vom Vorstellungsvermögen geprägtes und letztlich immer als ideologisch kritisierbares. Die Dunkelziffer bzw. die Spekulation gewinnt hier eine, im Gegensatz zum sonstigen Umgang mit Nicht-Wissen, besondere Macht mit entsprechenden Folgen, wie z.T. flächendeckenden Ausweitungen staatlicher Kontrollen (z.B. Frühe Hilfen). Das ist eine zu bedenkende Kehrseite der In-Fragestellung des Privaten in modernen Gesellschaften. Zugleich gibt es offensichtlich starke Tendenzen, die das Private (durch die Menschen selbst) im Kontext der neuen Medien verschwinden lassen. Vielleicht werden perspektivisch Echo-Dots die Daten- und Beweislage zur Situation in Familien fundieren.

Die Indizien, auf die sich Tazi-Preve z.T. auch beruft, sind zudem vor dem Hintergrund massenmedialer Logiken des Nachrichtenwertes zu betrachten und damit zu relativieren. Diese fokussieren die Aufmerksamkeit und führen im Endeffekt auch vor Augen, wie die vermeintlich sicheren Statistiken doch nur Metaphänomene der Wahrnehmungsmodi des Sozialen sind. Befunde aus dem therapeutischen Bereich, die die Autorin gegen die Kleinfamilie als Ort der Neurosen (S. 16) ins Feld führt, bedienen ebenso eine Argumentation für die Kleinfamilie, mithin sogar die konventionelle (vgl. Hildenbrand/Funcke 2009). Auch von denen, die sich von der Ideologie der Kleinfamilie lösen, werden alternativ nicht unbedingt die matriarchalen Positionen favorisiert (vgl. Notz 2015). Dabei stellt sich auch die Frage, inwiefern es schlüssig ist, wenn patriarchales Denken sowohl die Ideologie der Kleinfamilie in Frage stellt, als auch an ihr festhält.

Auch die im Buch kritisierte Vermischung von Sexualität, Nachwuchsbetreuung und dem ‚zu Hause haben‘ in der Kleinfamilie, wirft die Frage auf, inwiefern Liebe zu differenzieren ist. Im Falle von Eltern und Kindern liegt das bereits auf der Hand. Vielleicht sollte aber auch noch einmal zwischen Verliebtheit sowie Leidenschaft und Liebe schärfer differenziert werden. Romantische Liebe gab es vermutlich immer, nur der Umgang mit dieser verändert sich historisch – auch in patriarchalen Kulturen.

Abschließend und vielleicht auch daran anschließend, soll ein Gedanke entfaltet werden, dem sich der Rezensent nicht verschließen konnte. Die Überlegungen Tazi-Preves basieren auf einer Anerkennung biologischer Tatsachen (S. 119) – Anführungszeichen oder nicht möge der Leser entscheiden, ebenso wie darüber, ob es sich um Biologie oder Biologismus handelt. Die Autorin verzichtet im Rahmen der ‚Kritischen Patriarchatstheorie‘ auf die radikale Konstruktion von Geschlecht à la Butler. Geschlecht wird stattdessen als einen Unterschied machend und naturgegeben anerkannt, worauf auch die Argumentation mit Völkern, die matrilinear organisiert sind, beruht. Dies erlaubt mit einer soziobiologisch fundierten Perspektive die historische Dimension der Entwicklungen einzufangen und zugleich Erklärungen zu finden, warum in Westeuropa die monogame Paarbeziehung – inklusive Seitensprünge – verbreitet ist. Man muss evolutionären Sichtweisen nicht folgen, in diesem Fall scheinen sie aber eine Diskussion wert, d.h. eine umfassende wissenschaftliche Abhandlung sollte dann auch soziobiologische Befunde in die Argumentation einbeziehen (vgl. ansatzweise Göttner-Abendroth 2016, S. 54 ff.; sehr interessant: Christel 1993).

Fazit

Das vorliegende Buch ist lesenswert und eröffnet ungewöhnliche Perspektiven auf die Kleinfamilie bzw. andere Formen des Zusammenlebens. Es bleibt jedoch letztlich zu schematisch, mithin dogmatisch in den Deutungen und endet in einer Verherrlichung des Matriarchats als heile Welt und ultimative Lösung für die Probleme der patriarchalen Welt. Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre eine umfassendere Darstellung – auch kritischer Befunde – zum Thema Matriarchat und den patriarchalen Familienformen wünschenswert gewesen. Das Buch ist am Ende ein Plädoyer für ein wissenschaftlich fragwürdiges Ideal, zu dessen Erreichung auch wenig Überzeugendes vorgebracht wird. Vielleicht ist das Motiv der Überlegungen dasselbe, welches für andere die Kleinfamilie zum Ideal macht oder auch den ‚Fortschritt‘ erstrebenswert: Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Leiden.

Literatur

  • Andrej, I. (1998): Matrilineare Gesellschaften. Eine Untersuchung aus ethnologischer und historischer Sicht. Diploma thesis, Universität Wien. Abrufbar: https://elaine.ihs.ac.at/~isa/diplom/diplom.pdf [21.01.2018].
  • Christel, M. (1993): „Das weibliche Tier“. Soziobiologische Verhaltenskonzepte weiblicher Verhaltensweisen. Berlin: FU. Abrufbar: https://www.researchgate.net/publication/235634454_Das_weibliche_Tier_-_Soziobiologische_Konzepte_weiblicher_Verhaltensweisen [21.01.2018].
  • Diamond, S. (1998): Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt/Main: Fischer.
  • Dornes, M. (2012): Die Modernisierung der Seele. Frankfurt/Main: Fischer.
  • Ecarius, J. (2002) Familienerziehung im historischen Wandel. Eine qualitative Studie. Opladen.
  • Göttner-Abendroth, H. (1989): Das Matriarchat I Geschichte seiner Erforschung. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Göttner-Abendroth, H. (2016):  Am Anfang die Mütter – matriarchale Gesellschaft und Politik als Alternative. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Großkopf, S. (2014): Ausbeutung für alle! Der marginalisierte Vater und die Maximierung der industriellen Reservearmee. Kulturtheoretische Betrachtungen. In: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau 68, Heft 1, S. 107-121.
  • Helfferich, C./Kavemann, B./Kindler, H. (Hrsg.) (2016): Forschungsmanual Gewalt. Grundlagen der empirischen Erhebung von Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierter Gewalt. Wiesbaden: Springer VS.
  • Hildenbrand, B./Funcke, D. (2009): Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.
  • Joos, M. (2006): De-Familialisierung und Sozialpädagogisierung. In: Andresen, S./ Diehm, I.(Hrsg.): Kinder, Kindheiten, Konstruktionen. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und sozialpädagogische Verortungen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 109-134.
  • Joy, B. (2000): Die Zukunft braucht uns nicht. Hamburger Abendblatt vom 22.07.2000. Abrufbar: www.abendblatt.de/archiv/2000/article204356501/Die-Zukunft-braucht-uns-nicht.html [20.01.2018]
  • Koschorke, A. (2000): Die heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt/Main: Fischer.
  • Lamnek, S. u.a. (Hrsg.) (2012): Tatort Familie. Häusliche Gewalt im gesellschaftlichen Kontext. Wiesbaden: Springer VS.
  • Nadig, M. (2013): Stabilisierung von Kultur – Modulierung von Wandel und DominanzverhäItnissen durch regulierte Ökonomie und Sexualität: Das Beispiel der Mosuo und anderer Gesellschaften. In: Hepp, A./Lehmann-Wermser, A. (Hrsg.): Transformationen des Kulturellen: Prozesse des gegenwärtigen Kulturwandels. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 33-56.
  • Notz, G. (2015): Kritik des Familismus. Stuttgart: Schmetterling. Rezension Abrufbar: www.socialnet.de/rezensionen/20831.php
  • Riehl, J. H. (1861): Die Familie. Stuttgart: Cotta.
  • Röder, B.(1998): Jungsteinzeit – Frauenzeit? Frauen in frühen bäuerlichen Gesellschaften Mitteleuropas. In: Auffermann, B/ Weniger, G.-C. (Hrsg): Frauen – Zeiten – Spuren. Mettmann: Neanderthal Museum, S. 264 ff.
  • Röder, B./ Hummel, J./ Kunz, B. (1996 und 2001): Göttinnendämmerung. Das Matriarchat aus archäologischer Sicht. München: Droemer Knauer.
  • Tuck, J. (2016): Evolution ohne uns: Wird künstliche Intelligenz uns töten? Kulmbach: Plassen Verlag.

[1] Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf beide Geschlechter bzw. alle Menschen.

Rezension von
Dr. Steffen Großkopf
Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Bildung und Kultur Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik
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ISSN 2190-9245