Claudia Benholz, Magnus Frank et al. (Hrsg.): Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler
Rezensiert von Prof. Dr. Marion Baldus, 05.07.2016

Claudia Benholz, Magnus Frank, Constanze Niederhaus (Hrsg.): Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler – eine Gruppe mit besonderen Potentialen. Beiträge aus Forschung und Schulpraxis. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2016. 370 Seiten. ISBN 978-3-8309-3277-2. D: 37,90 EUR, A: 39,00 EUR.
Thema
50 Prozent der neu Zugewanderten aus Kriegs- und Konfliktgebieten, so die aktuellen Zahlen der Berichterstattung des UN-Flüchtlingskommissars, sind Kinder und Jugendliche. Dieser wichtigen Zielgruppe ist der vorliegende Sammelband gewidmet. Eröffnet wird ein breites Panorama auf Chancen und Potentiale, aber auch Herausforderungen, die sich mit der Aufgabe ergeben, die neu ankommenden Kinder und Jugendliche in das deutsche Bildungssystem zu integrieren. Erfahrungsberichte, Forschungsergebnisse, Qualifizierungsmaßnahmen und methodisch-didaktische Entwicklungen führen in die Vielschichtigkeit der Thematik ein. Greifbare Ansatzpunkte für das Gelingen der Integrationsaufgabe werden aufgezeigt und Konturen eines dynamischen Tätigkeitsbereichs umrissen, dem eine Schlüsselfunktion in der Gestaltung einer zukunftsorientierten Einwanderungsgesellschaft zukommt.
Autorinnen und Autoren
An der Entstehung des Sammelbands haben 24 Autorinnen und Autoren mitgewirkt. Entsprechend umfassend und heterogen ist die Expertise, die in den einzelnen Beiträgen zum Ausdruck kommt. Das macht den Band informativ, lebendig und abwechslungsreich.
Die meisten Autor_innen gehören Hochschulen und Schulen des Bundeslands Nordrhein-Westfalen an. Besonders stark repräsentiert ist die Universität Duisburg-Essen, mit dem Fachbereich Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, die auf eine jahrzehntelange Tradition in der Bildung und Förderung von Kindern mit Migrationserfahrungen zurückblickt. Auch der Fachbereich Sport- und Bewegungswissenschaften ist mit zwei Autor_innen vertreten. Diese lenken in ihrem Beitrag über die Rolle des Sports für Zugewanderte den Blick auf eine außerschulische Arena, deren Integrationspotential nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Länderspezifische wie länderübergreifende Forschungs- und Praxisbezüge steuern Autorinnen der Universität Wien, Institut für Germanistik, bei und erweitern damit die Perspektive um internationale Aspekte.
Entstehungshintergrund
„Lange bevor heute nahezu alle Medien im Sekundentakt die Million zukünftiger Asylsuchender als wenig überschau- und absehbare Aufgabe präsentieren“ (S. 12), fand unter der Regie der Universität Duisburg-Essen die Tagung „SeiteneinsteigerInnen: eine Schülergruppe mit besonderen Potentialen. Zu rechtlichen Rahmenbedingungen, schulorganisatorischen Herausforderungen und Konzepten zur Sprachbildung“ statt. Auf diese Tagung gehen die Beiträge des Sammelbands zurück.
Während in den medialen Diskursen das Neue und Herausfordernde der Integrationsaufgabe der „Million“ betont wird, grenzt sich die vorgelegte Veröffentlichung in Duktus und Diktion von dieser Betrachtungsweise ab. Schon der Titel markiert die Differenzlinie: Betont werden die besonderen Potentiale, die mit der Zuwanderung in das Schulsystem verbunden sind. Die daraus entstehende Bildungsaufgabe wird als „Daueraufgabe“ (ebd.) kontextualisiert, die in den 1960er-Jahren begann, momentan eine Ausweitung erfährt und zukünftig Normalität konstituiert. Gelesen werden kann der Tagungsband als Plädoyer für eine unaufgeregte, aber zugleich gut informierte und professionell aufgestellte Bildungsarbeit, die „Migration in die Schule“ (S. 12) als Selbstverständlichkeit betrachtet.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in drei Kapitel.
Zu 1 „Praxisberichte“
Den Auftakt stellen „Praxisberichte“ dar. Unter diesem Titel sind Erfahrungsberichte aus der Schule, universitären Praktika und Sportprojekten subsumiert.
Die erste Schüler_innengruppe, die näher beleuchtet wird, sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge an einem Berufskolleg. Beate Frenzel fragt nach den Besonderheiten der Lehr-Lern-Situation dieser Jugendlichen. Dass der Unterricht Freiräume für individuellen Rückzug oder die Verarbeitung von Fluchterlebnissen ermöglichen muss, zeigt sie eindrücklich auf und betont die Bedeutung eines emotionalen Lernklimas, das Lern- und Sprachhindernisse überwinden hilft und der Heterogenität der Gruppe Rechnung trägt.
Über ihre Erfahrungen als Integrationsfachkraft an der Dietrich-Bonhoeffer-Hauptschule in Dorsten berichtet Anika Wüstenberg. Aus ihrem Beitrag werden nicht nur das hohe Engagement und die kreative Herangehensweise als Lehrerin einer Vorbereitungsklasse sichtbar, sondern auch konkrete Arbeitshilfen, Materialien und Lernangebote vorgestellt.
Der nächste Beitrag ist aus der Perspektive einer Praxissemesterstudierenden verfasst. Die UNESCO-Schule in Essen beschult Jugendliche aus über 40 Nationen in einem siebenjährigen Gymnasialzweig. Wie die Schule dieser Aufgabe gerecht wird und welche wichtigen Lernerfahrungen dabei alle Beteiligten machen, schildert Katharina Bentler detailliert und nachvollziehbar.
„Willkommensklasse statt Auffangklasse“ titelt der Beitrag von Christiane Mika und Ingrid Weis. Um Kinder und deren Eltern mit Flucht- und Migrationserfahrungen in der Grundschule willkommen zu heißen, hat die Libellen-Schule in Dortmund ein multiprofessionelles Team (einschließlich Sonderpädagoginnen, Sozialpädagoginnen, und Schulbegleitern) zusammengestellt. Vernetzung, Kooperation, kultursensible Elternarbeit und ein innovatives Sprachbildungskonzept formen ein Gesamtprogramm, das Maßstäbe setzt.
Wie eine Realschule neu zugewanderte Kinder und Jugendliche willkommen heißen und integrieren kann, beschreibt Jutta Henrichs von der Theodor Goldschmidt Realschule in Essen. Noch als „Auffangklassen“ bezeichnet, stellen diese Lerngruppen flexible Vorstufen zur Integration in Regelklassen dar. Organisationsformen, Elternbeteiligung, Durchlässigkeit und die Gestaltung individueller Bildungswege stellt die Autorin plastisch vor.
Die Förderung zugewanderter Schülerinnen und Schüler am Gymnasium ist Gegenstand der nächsten beiden Beiträge. Torsten Götte beschreibt dies für das Quirinus-Gymnasium in Neuss, Ljubov Jakovleva-Schneider für das Gymnasium Essen Nord-Ost. Wie wichtig Studienpatenschaftsprogramme für den Erfolg des gymnasialen Schulbesuchs sind, wird am Beispiel von „Senkrechtstarter“ nachgezeichnet. Ulf Gebken und Sophie van de Sand widmen sich in dem letzten Beitrag des Kapitels Praxisberichte, überschrieben mit „Fußball hilft Flüchtlingen“, dem Integrationspotential des Sports und weisen auf die enge Verbindung zwischen Bewegungs- und Sprachförderung sowie Zugehörigkeitserleben und Resilienzfaktoren hin.
Zu 2 „Lehrerinnen- und Lehrerbildung“
Das zweite Kapitel versammelt sechs Beiträge über „Lehrerinnen- und Lehrerbildung“.
Forschungsergebnisse über Zugehörigkeitskonstruktionen erläutert Natascha Khakpour von der Universität Wien. Ausschnitte aus einer Interviewstudie mit einem zugewanderten Jugendlichen ermöglichen Einblicke in die Subjektperspektive eines „Seiteneinsteigers“.
„In unserer Schule sind alle im Grunde ins kalte Wasser gesprungen und alle sind nach ´ner Weile belohnt worden durch große Erfolge“ ist der Titel des Texts von Beate Frenzel, Constanze Niederhaus, Corinna Peschel und Ann-Kristin Rüther. Datenbasis bilden 16 Interviews mit Lehrer_innen unterschiedlicher Schulformen. Wie schon der Titel andeutet, wird das Unterrichten neu zugewanderter Schüler_innen als anspruchsvolle, aber auch besonders sinnstiftende und gewinnbringende Arbeit bewertet.
Wie notwendig die Vorbereitung von Lehramtsstudierenden auf eine spätere Tätigkeit in heterogenen Klassen ist, zeigt Mona Massumi in dem Beitrag über Berufsfeldpraktika (BFP) der Universität zu Köln auf. 26 Studierende werden jährlich in diese BFP aufgenommen und auf die Durchführung von Sprachförderkursen in Notunterkünften vorbereitet. Die Autorin arbeitet die vielen Chancen, die in einer solchen Praxiserfahrung beinhaltet sind, klar heraus und setzt damit wichtige Impulse für vergleichbare Theorie-Praxisprojekte.
Die über 40-jährige Tradition, Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund an der Universität Duisburg-Essen anzubieten, greift Gülsah Mavruk im nächsten Beitrag auf und spannt den Bogen von den Anfängen bis zur aktuell gelebten Praxis, die 2013 um das neue Element Ferienkurse ergänzt wurde. RuhrFutur gGmbH und die Universität Duisburg-Essen haben im Jahr 2014 eine neue Qualifizierungsreihe für Lehrkräfte für das Unterrichten von neu zugewanderten Schüler_innen gegründet.
Sally Gerhardt beschreibt Module, Struktur und Ausbau dieses Qualifizierungspakets. Um das Modellprojekt „ProDAZ – Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern“, ebenfalls an der Universität Duisburg-Essen, geht es im Text von Constanze Niederhaus und Eva Schmidt. Erfahrungen mit dieser Qualifizierungsreihe werden auf Basis einer Teilnehmerbefragung exemplarisch vorgestellt. Die Notwendigkeit der rechtzeitigen Vorbereitung, zum Beispiel durch ein entsprechendes Angebot innerhalb des Lehramtsstudiums, wird herausgearbeitet, aber auch die Begeisterung qualifizierter Lehrer_innen über die Arbeit mit zugewanderten Schüler_innen.
Zu 3 „Methodisch-Didaktisches“
Mit „Methodisch-Didaktisches“ ist das dritte und letzte Kapitel des Buches überschrieben. Darunter vereint sind vier Beiträge von insgesamt fünf Autor_innen.
Möglichkeiten des Erwerbs des Deutschen Sprachdiploms stellt Elke Montanari vor. Dass es „Professionell zur Sache“ geht, legt Sara Hägi in ihrem Text über ausgewählte, in der Praxis bewährte didaktische Konzepte für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache dar. Mit konkreten Beispielen aus der Praxis, wie einer „Fehlersortiertabelle“ und „ressourcenorientiertes Korrigieren“ oder „Wimmelkarten“ zeigt sie Ecksteine eines konstruktiven und wertschätzenden Umgangs mit Mehrsprachigkeit auf.
Der Frage, wie „Autonomie im Unterricht mit Seiteneinsteiger_innen“ erreicht und ausgebaut werden kann, gehen die Wiener Autorinnen, Natascha Khakpour und Karen Schramm nach. Eine wichtige Rolle können dabei frei zugängliche digitale Selbstlernmaterialien spielen. Wie dies funktionieren kann, legen die Autorinnen am Beispiel der Software Digital Literacy Instructor, die auch als deutsche Version zur Verfügung steht, und dem Portal „Ich will Deutsch lernen“ dar.
Mindestens genauso entscheidend ist jedoch die psychologische Perspektive, die Einwander_innen nicht als Problem betrachtet und einer Defizitorientierung entgegentritt.
Ebenfalls mit selbstbestimmten und selbstgesteuerten Lernprozessen befasst sich der abschließende Beitrag des Bandes. Im Mittelpunkt steht die Portfolioarbeit für Schüler_innen mit Alphabetisierungsbedarf. Alexis Feldmeier macht deutlich, dass dieser Ansatz besonders dann gelingt, wenn er nicht singulär steht, sondern eingebettet ist in eine Schulkultur, die selbstverantwortliches Lernen durchgängig fördert und unterstützt. Eine Öffnung und Individualisierung des Unterrichts, so der Autor, ist unumgänglich.
Diskussion
Migration nach Deutschland bedeutet Migration in das deutsche Bildungssystem. Das machen die Zahlen des Berichts des UN-Flüchtlingskommissars zweifelsohne deutlich. Kinder und Jugendliche, die nach Deutschland zugewandert sind, haben ein Recht auf Bildung und Erziehung. Dies nicht als Belastung, sondern als Bereicherung zu apostrophieren, ist die Programmatik des vorliegenden Buches. Mit dieser Ausrichtung definiert der Tagungsband einen richtungsweisenden positiven Grundtenor für dringend notwendige Diskussionen über Rahmenbedingungen, Strukturen und Maßnahmen, die geeignet sind, Lehrerinnen und Lehrer im konkreten pädagogischen Alltag zu unterstützen.
Dass die Integrationsaufgabe nicht nur gelingen kann, sondern sich als sinnstiftend und wertvoll erweist, führen die Autorenbeiträge eindrucksvoll vor Augen. Hier überzeugen insbesondere die Praxisberichte aus unterschiedlichen Schultypen, die konkret vorleben, wie „Migration in die Schule“ (S. 12) konstruktiv gestaltet werden kann. Verschwiegen werden dabei nicht die Grenzsituationen, die eine Arbeit insbesondere mit traumatisierten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auch hervorrufen kann. Fluchterfahrungen sowie prekäre und emotional hochgradig belastende, aktuelle Lebenssituationen dieser Schüler_innengruppe schlagen sich in Schule und Unterricht nieder. Dafür sensibilisiert zu sein und aktiv ein Klima zu schaffen, das Entwicklung, Lernen und Bewältigung ermöglicht, wird gleichzeitig als notwendige wie selbstverständliche Aufgabe betrachtet.
Deutlich gemacht wird aber auch, dass Schulen, um dies leisten zu können, neben qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern tragfähige Kooperationen mit außerschulischen Partnern und Berufsgruppen benötigen. Diese Kombination aus Aufzeigen von Herausforderungen und Darstellen von Lösungsansätzen durchzieht den gesamten Tagungsband. Eine Kombination, die sowohl erfahrene wie auch zukünftige Lehrkräfte, Schulleitungen, Schulsozialarbeiter_innen und andere Professionelle zu überzeugen vermag. Im Ergebnis entsteht ein Orientierungsrahmen für eine Schulpraxis, die vorlebt, wie Teilhabe, Wertschätzung und Anerkennung in einer Einwanderungsgesellschaft gelingen.
Fazit
Das Buch besticht in mehrfacher Hinsicht. Besonders bemerkenswert ist die konsequente Verbindung zwischen Praxis, Forschung, Theorie und reflektierter Erfahrung. Im Gesamt entsteht ein differenziertes Bild von Chancen, Herausforderungen und Gelingensbedingungen für die Integration neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler. Der Informationsgewinn ist hoch und die Anwendungsorientierung durchgängig gegeben.
Auch einzeln lassen sich die Beiträge hervorragend als Impuls- und Ideengeber für eine gelebte und überzeugend praktizierte Willkommenskultur in Schulen lesen. Diese zu gestalten und aktiv weiter zu entwickeln, ist eine großartige Chance für das Bildungssystem, die auch auf andere bildungspolitische Fragestellungen positiv ausstrahlen kann. Diese betreffen den generellen Umgang mit Heterogenität und Diversität, zieldifferenter Unterrichtsgestaltung, Arbeiten in multiprofessionellen Teams und institutionenübergreifender Kooperation, wie sie auch im Kontext der Inklusion diskutiert, gefordert und in inklusiven Schulen umgesetzt werden. Dieses Verhältnis gilt auch vice versa: Fragen der Beschulung von neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern können enorm von den Erfahrungswerten und Theoriekonzepten der Inklusiven Bildung profitieren. Migration steht dabei für eine von mehreren Heterogenitätsdimensionen, die im Unterricht Berücksichtigung finden. An Wissen, Kompetenz, bewährten Ansätzen und engagierten Lehrer_innen mangelt es folglich nicht. Dass diese Qualitäten ihren Gegenpart und Widerhall in verlässlichen Strukturen und Ressourcen finden müssen, ist eine logische Konsequenz, die noch stärker bis zu den verantwortlichen Akteur_innen in der Politik durchdringen muss. Auch dazu kann das vorliegende Buch einen aktiven Beitrag leisten. Eine dringende Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es vielfach rezipiert wird. Da die Lektüre ein Gewinn ist, sollte dem nichts entgegenstehen!
Rezension von
Prof. Dr. Marion Baldus
Hochschule Mannheim
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