Ferdi De Ville, Gabriel Siles-Brügge: TTIP
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 08.07.2016

Ferdi De Ville, Gabriel Siles-Brügge: TTIP. Wie das Handelsabkommen den Welthandel verändert und die Politik entmachtet.
transcript
(Bielefeld) 2016.
183 Seiten.
ISBN 978-3-8376-3412-9.
D: 19,99 EUR,
A: 30,90 EUR,
CH: 36,80 sFr.
übersetzt aus dem Englischen von Michael Schmidt.
Thema und Hintergrund
TTIP – die Transatlantic Trade and Investment Partnership, zu Deutsch: das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen, das zwischen der EU-Kommission und der US-Regierung seit 2013 verhandelt wird, ist in Mitteleuropa und Großbritannien, vor allem wegen der Intransparenz der Verhandlungen und der befürchteten Souveränitätsverluste, auf breiten Protest gestoßen. Die Autoren prüfen in dem vorliegenden Buch die Versprechungen der Befürworter und die Befürchtungen der Gegner. Ihre Argumente beziehen sie sowohl aus der Wirtschafts- als auch aus der Politikwissenschaft.
Autoren
Als wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkt geben beide Autoren Internationale politische Ökonomie an. De Ville ist Dozent für European Union Studies an der Universität Gent. Siles-Brügge ist Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Manchester.
Aufbau und Inhalt
Die Ausführungen werden in vier Kapitel gegliedert und mit „Schlussbetrachtungen“ abgeschlossen. Ein Verzeichnis der zahlreichen Abkürzungen ist als Lesehilfe vorangestellt.
Methodisch stützt sich die Arbeit neben der Dokumentenanalyse auf Gespräche mit politischen Akteuren von beiden Seiten, pro und contra TTIP.
Im ersten Kapitel prüfen die Vf. unter der Überschrift „Wachstum und Beschäftigung“ die angepriesenen ökonomischen Wachstumseffekte. Dabei nehmen sie die ökonometrischen Modelle aufs Korn, die den Wohlstandsversprechen zugrunde gelegt werden, obwohl sie innerhalb der Wirtschaftswissenschaften nicht unumstritten sind, weil sie auf unzulässigen Vereinfachungen basieren. Dazu kämen bei TTIP neben einer problematischen Zahlenbasis ungeachtet unterschiedlicher Szenarien zu optimistische Annahmen hinsichtlich der Verhandlungsergebnisse. Gesellschaftliche Kosten blieben unberücksichtigt. Das Ganze dient politisch dem „Management fiktionaler Erwartungen“ (31, 122).
Im zweiten Kapitel wird der angebliche geopolitische Vorteil, mit TTIP globale Standards setzen zu können, der Prüfung unterzogen. Dagegen wird zunächst die fast unüberwindliche Differenz der politischen Kulturen und „Weltsichten“ von USA und Europa ins Feld geführt (50). Nicht zuletzt deshalb ist nach Ansicht der Vf. eine Harmonisierung von Standards kaum zu erwarten. Für wahrscheinlicher halten sie die gegenseitige Anerkennung, was den Primat des Marktes festigen, eine Senkung von Standards begünstigen und evtl. sogar die globale Marktmacht schwächen würde.
Im dritten Kapitel wird die beschönigende Rede vom „Bürokratieabbau“ auf ihren wahren Kern, nämlich die Deregulierung, hin untersucht. Die Vf. erinnern an das REFIT-Programm der EU, mit dem eine marktkonforme Rechtssetzung zur Entlastung von Unternehmen angestrebt wird, und sehen in TTIP (nur) die entschiedene Vervollständigung dieses Programms. Vor allem könne das Abkommen den Gesetzgeber abschrecken, bspw. stärkere Regeln zum Verbraucherschutz zu beschließen („regulatory chill“). Insgesamt nehmen die Vf. eine eher sublime, indirekte Wirkung auf die Politik an.
Das vierte Kapitel ist von der Zuversicht getragen, „dass eine solche Agenda klare Grenzen hat“ (124). Die hartnäckige Arbeit zivilgesellschaftlicher Gruppen habe die Verhandlungspartner, speziell die EU-Kommission, gezwungen, „ihre Vorschläge für eine horizontale Regulierungszusammenarbeit (im Sinn eines „lebendigen Abkommens“, G.A.) abzuschwächen“, die Verhandlungen über Schiedsgerichte auszusetzen und mehr Transparenz zu praktizieren (ebd.), wobei die Vf. selbst ihre Skepsis nicht verhehlen.
In ihren „Schlussbetrachtungen“ äußern sie Zweifel an dem ökonomischen und vor allem dem gesellschaftlichen Nutzen eines solchen Abkommens. Dabei formulieren sie Thesen über die Ziele und Strategien der neuen Handelspolitik, die heute weniger von Verteilungsfragen als von wirtschaftspolitischen „Werten“ bestimmt sei. Daran anschließend skizzieren sie Alternativen zu dem neoliberalen Programm und Szenarien vom Ausgang des Verfahrens.
Diskussion
Bei dem politisch hoch brisanten Thema wechseln die Vf. zwischen distanzierter Analyse und politischem Statement. Wenn sie am Schluss schreiben, sie glaubten, „dass wir die von Befürwortern wie Gegnern aufgestellten Behauptungen über die ‚wahre‘ Natur von TTIP analysieren konnten“ (121), so deutet das auf die zuerst genannte Aufgabenstellung hin. Andererseits beziehen sie in einem Abschnitt der Schlussbetrachtungen Stellung und können auch vorher an vielen Stellen normative Statements nicht vermeiden. Entsprechend wechselt die Sprache zwischen sozialwissenschaftlich verklausulierten und klaren, die Machtverhältnisse benennenden Aussagen.
Fazit
Für alle, die sich seit längerem mit den Freihandelsabkommen und der EU-Politik auseinandersetzen, auf jeden Fall eine empfehlenswerte Lektüre, weil die tieferen Hintergründe beleuchtet werden, und TTIP in den globalen Interessenkonflikt eingeordnet wird. Insoweit ist das Buch auch von genereller politikwissenschaftlicher Relevanz.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 08.07.2016 zu:
Ferdi De Ville, Gabriel Siles-Brügge: TTIP. Wie das Handelsabkommen den Welthandel verändert und die Politik entmachtet. transcript
(Bielefeld) 2016.
ISBN 978-3-8376-3412-9.
übersetzt aus dem Englischen von Michael Schmidt.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21042.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.
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