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Manuela Glaab (Hrsg.): Politik mit Bürgern - Politik für Bürger

Rezensiert von Dr. Rolf Frankenberger, 23.01.2017

Cover Manuela Glaab (Hrsg.): Politik mit Bürgern - Politik für Bürger ISBN 978-3-658-12983-5

Manuela Glaab (Hrsg.): Politik mit Bürgern - Politik für Bürger. Praxis und Perspektiven einer neuen Beteiligungskultur. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 392 Seiten. ISBN 978-3-658-12983-5. D: 44,99 EUR, A: 46,25 EUR, CH: 46,50 sFr.

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Thema, Herausgeberin und Entstehungshintergrund

Schon im Jahr 1978 wurde vor dem Hintergrund des Bedeutungsgewinns von Bürgerinitiativen über die Krise der repräsentativen Demokratie in Deutschland reflektiert (vgl. Guggenberger und Kempf 1978). Diese Diskussion ist heute, fast vierzig Jahre später, aktueller denn je. Denn die repräsentative parlamentarische Demokratie ist (nicht nur) in Deutschland mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert (vgl. z.B. Dalton 2004) und erlebt einen vielschichtigen Vertrauensverlust (vgl. Pickel 2013). Daher diskutieren und erproben Bürger, Politik, Verwaltungen und Wissenschaft verschiedene Wege der der Erneuerung der Demokratie. Auch und gerade verschiedenen Formen deliberativer und direkter Beteiligung wird das Potential zur Stärkung der Legitimation von Politik zugeschrieben: „In der Summe, so lässt sich dies zuspitzen, soll die partizipatorische Praxis zu einer höheren Demokratiezufriedenheit und Akzeptanz von Politik beitragen“ (S.7).

Dass sich Bürgerinnen und Bürger in Politik einmischen wollen, können und sollen, ist dabei eine normative Prämisse, die auch der Fachtagung „Politik mit Bürgern – Politik für Bürger“ am 25.Juni 2015 in Mainz zugrunde lag, zu der die Staatskanzlei Rheinland-Pfalz und Prof. Dr. Manuela Glaab, Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politisches System der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Koblenz-Landau, einluden und bei der Wissenschaft und Praxis gemeinsam über die Perspektiven von Bürgerbeteiligung und eine neue Beteiligungskultur diskutierten. Aus dieser Fachtagung ging der vorliegende, von Manuela Glaab herausgegebene, Sammelband hervor und dokumentiert so einen wesentlichen Teil der aktuellen Debatte.

Aufbau und Inhalt

Der vorliegende Band umfasst insgesamt 25 Beiträge, die in fünf Kapitel gegliedert sind

Kapitel I „Einführung“ umfasst zwei Aufsätze. Einen Überblick über die Debatte um mehr Bürgerbeteiligung in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft gibt Manuela Glaab (S.3-27). Dabei zeigt sie, dass es dabei einerseits um die Frage der Stärkung der direkten Demokratie und andererseits um die Bedeutung von dialogischen Verfahren und mithin um den Unterschied zwischen mitentscheiden und mitreden gehe, wobei die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch partizipative Elemente weitestgehend als Chance, immer wieder aber auch als Herausforderung begriffen werde. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer beschreibt die Entwicklung der Beteiligungskultur in Rheinland-Pfalz (S.27-38) und stellt zehn Eckpunkte des Fahrplans „Bürgerbeteiligung“ der rheinland-pfälzischen Landesregierung vor. Die Verbesserung von Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Partizipation und die Ausweitung von Bürgerbeteiligung werden dabei als zwei zentrale Punkte auf dem Weg zu einer neuen Beteiligungskultur genannt.

In den fünf Beiträgen von Kapitel II „Theoretische Perspektiven und empirische Befunde“ referieren Expertinnen aus der Wissenschaft ausgewählte Aspekte von Beteiligung in der Demokratie 5 Artikel

Über die Demokratisierung der Repräsentation schreibt Hans J. Lietzmann (S.41-58). Er interpretiert die Krise der repräsentativen Demokratie als politisch-kulturellen Konflikt und erkennt dialogische Verfahren als eine Form der Demokratisierung der Repräsentation von unten: „Dialogische und deliberative Verfahren […] sind der Kern einer neuen, pluralistischen und flexiblen, einer gewandelten Repräsentanz in der erneuerten Demokratie.“

Roland Roth setzt sich mit dem politischen Paradoxon des „Mehr Beteiligung bedeutet weniger Demokratie“ auseinander (S.59-74) und seziert eines der gewichtigsten Gegenargumente zur Ausweitung dialogischer und direktdemokratischer Verfahren. Denn das Argument, diese Verfahren perpetuierten und verstärkten Ungleichheiten von Engagement und Beteiligung, ignoriere positive Erfahrungen aus einigen beteiligungsverfahren, in denen gerade beteiligungsferne Gruppen gezielt und auch erfolgreich eingebunden werden könnten.

Von der Rolle der Medien in Beteiligungsprozessen und deren Bedeutung für Öffentlichkeit, Akzeptanz und Transparenz solcher Verfahren berichtet Günter Bentele. Er formuliert dabeisieben Thesen zum Zusammenhang des Agierens von Medien und der Herstellung von gesellschaftlicher Akzeptanz über Transparenz, Vertrauen und Partizipation. Unter anderem fordert er, Medien müssten „kritische Begleiter der Gesellschaft“ (S.86) sein und grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung diskutieren, so dass Raum und Entlastung für die Diskussion konkreter Projekte entstehe.

Norbert Kersting stellt Befunde aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vor, in der unter anderem die Sicht von Ratsmitgliedern auf On- und Offlinebeteiligung als lokale demokratische Innovation untersucht wurde (S.91-110). Während Bürgerinnen und Bürger neue Instrumente der Beteiligung grundsätzlich begrüßten, wurde Amts- und Mandatsträgern häufig eine ablehnende Haltung unterstellt. Kersting zeigt anhand der Befragung von ratsmitgliedern in 27 Kommunen, dass diese „deutlich aufgeschlossener gegenüber neuen Beteiligungsformen als vielfach angenommen“ (S.107) sind.

Der Beitrag von Julia Range und Thorsten Faas zu Politischer Kultur, Bürgerbeteiligung und wissenschaftlichen Evaluationen (S.111-131) geht der Frage nach, anhand welcher Kriterien eine gute wissenschaftliche Evaluation identifiziert werden könne. Dabei finden akteurszentrierte Evaluiation, partizipativer Fußabdruck und Wege der Rekrutierung von Teilnehmern Eingang. Diese Vorgehensweise wird anhand des Beteiligungsverfahrens zum Transparenzgesetz in Rheinland-Pfalz illustriert.

In Kapitel III „Zur Praxis der Bürgerbeteiligung in Bund, Ländern und Kommunen“ werden in acht Beiträgen exemplarisch Beispiele von Bürgerbeteiligung im politischen Mehrebenensystem der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt

Harald Egidi beschreibt die Bürgerbeteiligung im Rahmen der Ausweisung des Nationalparks Hunsrück-Hochwald (S.135-146), die in drei Phasen von Interessensbekundung über regionalen Dialog zu förmlichem Verfahren mit jeweils breiter Beteiligung stattfand. Er plädiert für eine möglichst frühzeitige und ernsthafte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei Großprojekten.

Das „jugendforum rlp“ als Beispiel der Kombination von online- und offline-Beteiligung von Jugendlichen stellen Birger Hartnuß und Sigrid Meinhold-Henschel vor (S-147-156). Sie sehen diese als erfolgversprechendes Modell für Beteiligung, auch wenn dadurch nicht alle Probleme gelöst werden könnten, denn gerade beteiligungsferne Jugendliche könnten auch so nicht in großer Zahl aktiviert werden

Mit dem Verfahren „EinKLICK – EinBLICK“ zum Transparenzgesetz Rheinland-Pfalz wird von Johanna Becker-Strunk und Katrin Bimesdörfer ein Beteiligungsverfahren vorgestellt (S.157-178), bei dem sowohl Verbändeanhörungen als auch Öffentlichkeitsbeteiligung im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses vermittels Online- und Offlineelementen durchgeführt wurden. Sie kommen zu einer differenzierten und positiven Bewertung sowohl der Prozesse als auch der inhaltlichen Ergebnisse.

Der Frage von Legitimationswirkungen der Bürgerbeteiligung bei umfassenden und längerfristigen Reformen gehen Mathias König und Wolfgang König anhand der Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz von 2007 bis 2015 nach (S.179-198). Dabei können sie einen zentralen Befund der Beteiligungsforschung empirisch untermauern: Bürgerbeteiligung entfaltet nur dann positive Wirkung hinsichtlich der Legitimation, wenn sie von Politik und Verwaltung ernsthaft und professionell betrieben wird.

Martina Neunecker vergleicht die Auswirkungen von Bürgerbeteiligung auf Entscheidungen von gewählten Gremien (Stadt- und Gemeinderäte) anhand von Bürgerhaushalten in Deutschland (S.199-218). Sie kann zeigen, dass die inhaltliche Wirkung von Bürgervorschlägen „insgesamt gering und häufig diffus“ (S.209) sei und führt diesen Befund auf ein komplexes Geflecht von Ursachen zurück, bei dem neben der Selbstwahrnehmung der Politiker auch die Zahl der Teilnehmer und die Haushaltssituation der Kommunen einen Einfluss hätten.

Frank Brettschneider beschäftigt sich mit den Erfolgsbedingungen für Kommunikation und Bürgerbeteiligung bei Großprojekten (S.219-238), die per se ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotential in sich trügen. Ausgehend von der VDI-Richtlinie 7001 formuliert er allgemeine Anforderungen an gute Kommunikation wie etwa eine wertschätzende Grundhaltung, umfassende Faktenerklärung oder Einbeziehung unterschiedlicher Interessen und entwickelt ein Phasenmodell der Kommunikation.

Judith Engel illustriert anhand des Großprojekts Wien Hauptbahnhof, wie gerade große Infrastrukturprojekte durch Bürgerbeteiligung in der Planungs- und Bauphase begleitet werden können (S.239-256).

Der Beitrag von Manfred Tammen zur Bürgerbeteiligung beim Netzausbau in Niedersachsen (S.257-271) schließt das Kapitel ab. Er plädiert für eine offene Beteiligungskultur als Schlüssel für den Erfolg und die überraschend niedrige Zahl an Einwendungen im Planfeststellungsverfahren.

Der kritischen Reflektion von Theorie und Praxis der Partizipation dienen die vier Aufsätze in Kapitel IV „Politische Partizipation und Direkte Demokratie“.

Aus politiktheoretischer Perspektive kommentiert Eike-Christian Hornig die Debatte über direkte Demokratie in Deutschland (S.273-288) kommt zu dem Schluss, dass hier zu viel direktdemokratische Elemente im Sinne von Jean-Jacques Rousseau, aber zu wenige Aspekte der Repräsentation von Interessen in Massendemokratien im Sinne von Ernst Fraenkel berücksichtigt werden.

Ralf Broß fragt in seinem Beitrag, ob die Bürgerbeteiligung zum Neubau der JVA Rottweil als Lehrbuchbeispiel direkter Demokratie dienen könne (S.289-302). Er betont die Notwendigkeit offener Dialogprozesse unter Verwendung von Beteiligungsinstrumenten, die „im Sinne eines Konfliktmanagements Eskalationen und unsachliche Diskussionen vermeiden sollten“

Mit zwei Bürgerbegehren gegen den Bau von Windkraftanlagen in Soonwald setzen sich Michael Boos und Andreas Steffen auseinander (S.303-316). Sie erläutern zunächst einmal Rechtsgrundlagen von Bürgerbegehren und legen dar, warum die Begehren bei der Zulässigkeitsprüfung abgelehnt wurden, obwohl es eine große Resonanz gab und plädieren für den Abbau formeller Hürden in der Gemeindeordnung.

Tim Weber und Claudine Niehrt analysieren aus der Sicht des Vereins „Mehr Demokratie e.V.“ das Zusammenspiel von direkter Demokratie, Bürgerbeteiligung und Parlamentarismus (S.317-334). Sie unterbreiten einen theoretisch fundierten Vorschlag zur Verbindung repräsentativer, deliberativer und direkter Demokratie und plädieren für eine Ausweitung direktdemokratischer Verfahren.

In sechs kürzeren und einem längeren Beitrag werden in Kapitel V „Transparenz und Bürgerbeteiligung in der politischen Debatte“ Positionen zur Neuausrichtung von Bürgerbeteiligung in Politik und Zivilgesellschaft vorgestellt. Martin Haller bilanziert die Reform der Bürgerbeteiligung in Rheinland-Pfalz (S.337-343) Für eine transparente und beteiligungsorientierte Politik in der lebendigen Demokratie plädieren Daniel Köbler und Pia Schellhammer (S.344-347) und Marcus Klein unterstreicht die ergänzende und stärkende Funktion von Partizipation in der repräsentativen Demokratie (S.348-352). Bernhard Matheis fragt aus kommunaler Sicht kritisch nach, ob mehr kodifizierte Partizipation der richtige Weg zum besseren, mündigeren Bürger sei (S.353-357). Als demokratisches Zukunftsprojekt sieht Serge Embacher Bürgerbeteiligung (S.358-366).

In einem abschließenden Beitrag fasst Roland Roth Praxis und Perspektiven einer neuen Beteiligungskultur zusammen (S.367-388). Dabei spricht er sich für eine Kultur der vielfältigen Demokratie aus, die nicht nur eine Kombination verschiedener Demokratieformen beziehe, sondern „gleichzeitig auf eine anwachsende gesellschaftliche Vielfalt von Milieus, Lebensstilen, Altersgruppen und sozialen Lagen“ sowie „auf die Herausforderungen einer Mehrebenenpolitik“ jenseits des Nationalstaats (S.374).

Diskussion und Fazit

Der von Manuela Glaab herausgegebene Band zeichnet sich durch eine sorgfältige Zusammenstellung von Beiträgen zu einer Fachkonferenz und ergänzenden Aufsätzen aus. So ist er als Tagungsband kaum noch zu erkennen und liefert im Gegensatz zu anderen Tagungsbänden, die in der inhaltlichen Zusammenstellung zum Teil eher eklektisch wirken, ein kohärentes Bild. Gerade die Befunde aus der Praxis sind vor dem Hintergrund der theoretische-konzeptionellen Beiträge sehr gut einzuschätzen und zu verorten. Der Band ergänzt und erweitert damit die leider immer noch zu unsystematische empirische Erfassung und Analyse von Beteiligungsverfahren, auch wenn sich substantiell neue theoretische Beiträge zur Debatte naturgemäß nicht in extenso finden. Nichts desto trotz: Ein lohnender Band- für Theoretiker wie Praktiker gleichermaßen. Denn neben durchaus auch kritisch reflektierenden theoretisch-konzeptionell ausgerichteten wissenschaftlichen Beiträgen finden sich viele sehr sorgfältig dargestellte, analysierte und bewertete Fallbeispiele, in denen nützliche Informationen stecken.

Literatur

  • Guggenberger, Bernd/ Kempf, Udo (Hrsg.): Bürgerinitiativen und repräsentatives System. Westdeutscher Verlag (Wiesbaden). 1978.
  • Dalton, Russell: Democratic Challenges, Democratic Choices. The Erosion of Political Support in Advanced Industrial Democracies. University of Calfornia Press (Irvine). 2004.
  • Pickel, Susanne: Politische Kultur, Systemvertrauen und Demokratiezufriedenheit. Wann fühlen Bürger sich gut regiert? In: Karl-Rudolf Korte / Timo Grunden (Hrsg.): Handbuch Regierungsforschung. Springer VS (Wiesbaden). 2013. S.161-174.

Rezension von
Dr. Rolf Frankenberger
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Zitiervorschlag
Rolf Frankenberger. Rezension vom 23.01.2017 zu: Manuela Glaab (Hrsg.): Politik mit Bürgern - Politik für Bürger. Praxis und Perspektiven einer neuen Beteiligungskultur. Springer VS (Wiesbaden) 2016. ISBN 978-3-658-12983-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21055.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.


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