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Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiographische Spurensuche

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.10.2016

Cover Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiographische Spurensuche ISBN 978-3-95829-212-3

Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiographische Spurensuche. Steidl (Göttingen) 2016. 336 Seiten. ISBN 978-3-95829-212-3. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.

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Überlebensstrategien und Überlebensglück

„Wie bin ich geworden, was ich bin?“ Wer diese autobiographische Frage stellt, hat einen Anlass. Es kann, wenn er nicht aus werbetaktischen oder populärstrategischen Gründen veranlasst ist, eine Bestandsaufnahme des bisherigen Lebens sein, also gewissermaßen ein Testament oder eine Hinterlassenschaft; oder es sind andere Menschen, die danach fragen und drängen, mehr über das Leben eines Geschätzten, Anerkannten und Profilierten zu erfahren. Autobiographisches Schreiben und Erzählen vollzieht sich in einer persönlichen Gratwanderung von Erlebtem, Erfahrenem und Erinnertem. Da erinnertes Schreiben immer auch der Gefahr unterliegt, Realitäten und Wirklichkeiten mit Erhofftem und Gewolltem zu verwechseln, braucht es ein objektives, subjektiv wahres Erinnern. Im allgemeinen wird diese Fähigkeit Philosophen zugesprochen (vgl. dazu: „Wer philosophiert – lebt!“, 28. 1. 2014, www.socialnet.de/materialien/174.php).

Der hannöversche Philosoph und Soziologe Oskar Negt, 1934 geboren, hat viel zu erzählen. Als politischer Mensch (Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11988.php) mischt er sich immer wieder ein in die Zeitläufte und Aktualitäten des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland und in der Welt. Ihn zeichnet aus, was die Glaubwürdigkeit und Vorbildhaftigkeit eines akademischen Lehrers ausmacht: Eine sympathische und empathische Utopie und Verantwortungsethik, die er lebt und für die er eintritt, nämlich für „die Herstellung der gesellschaftlichen Autonomie der Menschen in einem vernünftig organisierten Ganzen“. Über das Leben eines solchen Menschen möchte man mehr erfahren. Und so bedurfte es sehr wohl einer Überredungskunst, damit sich dieser bescheidene, engagierte und produktive Wissenschaftler (Oskar Negt, Philosophie des aufrechten Gangs. Streitschrift für eine neue Schule, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16273.php) daran machte, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Wer die Denk- und Schreibweise von Oskar Negt kennt, weiß, dass dieses Unterfangen nicht im stillen Kämmerlein und auch nicht mit Hilfe von gesammelten persönlichen und veröffentlichten Materialien, und schon gar nicht mit „Assistenz“ geschehen konnte. Die Autobiographie wurde möglich, weil es dem Kulturwissenschaftler und Leiter des Internationalen Forschungszentrums für Kulturwissenschaften, Helmut Lethen, gelang, ihn nach Wien zu locken, wo er ohne weitere Verpflichtungen Zeit und Gelegenheit hatte, seine Autobiographie zu schreiben: „Im Grunde sind es Stichworte, Erlebnisse und assoziative Gedanken, die hier zu einem geschriebenen Text zusammengefügt sind“.

Aufbau und Inhalt

Sucht man nach einem roten Faden, der die Spurensuche des Autors durchzieht, so bietet sich gleich zu Anfang die Charakterisierung an, die er seinem Leben und den Zeitläuften seiner Existenz zuschreibt: „Orientierungsnotstand“. Damit will er freilich kein „Jammertal“ beschreiben, sondern darauf aufmerksam machen, dass Notstände von Menschen und ihre Schicksale nicht von einer „invisible hand“ gesteuert seien, sondern menschengemacht sind. Der „Flüchtling“ Oskar Negt, der im Januar 1945 mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern aus Ostpreußen in Richtung Westen floh und unbeschreibliche, existenzbedrohende Situationen erlebte, bezieht in seine Orientierungssuche die heutige, globale Flüchtlingssituation ein: „Zehn Jahre auf der Flucht hinterlassen Narben, die immer wieder aufreißen; sie sind besonders dann spürbar, wenn – wie heute – Massen von Menschen aus Existenzangst aufbrechen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen bereit sind, um dem Krieg, der politischen Unterdrückung, der religiösen Verfolgung oder der materiellen Not zu entfliehen“. Die Fragen „Wo stehe ich? Wo komme ich her? Welches sind meine Wurzeln? Was sind meine Ziele? Wo will ich hin? Wie sieht die Welt von morgen aus?“ beantwortet der Philosoph Oskar Negt damit: „Orientierung und Aufklärung gehören zusammen“. Er verweist – durchaus mit dem Blick auf die aktuellen Unsicherheiten und populistischen Kakophonien – auf die Notwendigkeit, dass Menschen ihre Lebensstrategien danach ausrichten sollten, dass sie als „zoon politikon“ (Aristoteles) Lebewesen sind, mit Vernunft ausgestattet, fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und dass sie danach streben, ein gutes, gelingendes Leben für sich und alle Menschen auf der Erde zu erreichen.

Lebenserinnerungen sind immer geprägt von Symbolen. Es sind die Orte, Landschaften, Wege und Menschen, die Stütze sind und Halt geben, und – da kommt Oskar Negt als praktischer Philosoph zur Geltung – es sind Kraftquellen, aus denen Kulturmenschen schöpfen können; etwa Rousseaus „Volonté général“, natürlich die Vertreter der „Frankfurter Schule“, zu der Negt gehört und die sein ganzes privates und berufliches Leben bestimmt. Mehr als 50 Jahre später eine Wiederbegegnung mit den Orten seiner Kindheit, mit Kapheim und Königsberg, und die Kontakte mit den Menschen, die heute dort leben, lieben, arbeiten und denken; ja mit Kant und über Kant hinaus, national-russisch und liberal. „Heimatnostalgie“ ist nicht Negts Ding. Es ist gut, dass er in seinen Königsberger Erinnerungen die Gräueltaten der Nazis nicht verschweigt, auch nicht die von den Nationalsozialisten selbst in ihrer Untergangssituation lauthals verkündeten Legenden und Propagandaparolen von der Rettung durch die Wunderwaffen. Welche Ähnlichkeiten tun sich auf, wenn er von den Erlebnissen erzählt, die er und seine Schwester beim Transport auf einem „Seelenverkäufer“ über die Ostsee erlebten: „Die Ostsee als Flüchtlingsgrab“ damals – „Das Mittelmeer als Flüchtlingsgrab“ heute. Die Ankunft in Dänemark, mit nichts als ein paar Habseligkeiten in einem ramponierten Koffer, den die Kinder die ganze Zeit mit sich schleppten; Unterbringung in einem Lager. Es hieß, die Flüchtlinge aus Ostpreußen sollten in Dänemark als deutsche Siedler das Land germanisieren. Dann die Kapitulation am 8. Mai 1945: Die Deutschen waren nun im eingezäunten Lager „unerwünschte Gäste“.- „Als Flüchtlinge waren wir völlig hilflos, hatten nicht den geringsten Kontakt zu dänischen Behörden oder sonst einer Instanz, die unsere Versorgung sichern könnte“. Dann die Umsiedlung in ein anderes Lager im Land.

Der Satz: „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern“ fällt öfter in Negts Erzählungen. Den Erinnerungslücken hilft er dadurch nach, dass er mehrere Gesprächsaufzeichnungen mit seinen Schwestern Ruth, Margot und Ursel wiedergibt. Den dreijährigen Aufenthalt in Dänemark schildert Negt ambivalent. Während einerseits zahlreiche Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass die dänischen Behörden und die Bevölkerung nicht besonders human mit den deutschen Flüchtlingen umgingen (von einer hohen Kindersterblichkeit wird berichtet), scheint der Aufenthalt von Oskar und seinen Schwestern in den dänischen Internierungslagern nach seinen Erinnerungen nicht schlecht gewesen zu sein. Ein Kollege von der Universität Roskilde, mit dem Oskar Negt bei seinen späteren, wissenschaftlichen Kooperationen zusammenarbeitet, übermittelt ihm seine Forschungsergebnisse so: „Du und deine Schwestern – ihr habt wahrscheinlich Glück gehabt“. Es wäre für den akademischen Lehrer ungewöhnlich, wenn er seine Kindheitssituation nicht auch auf den Prüfstand seines intellektuellen Denkens und pädagogischen Arbeitens stellen würde. Der dialektisch geschulte Wissenschaftler kann daraus den Schluss ziehen: „Glückserfahrungen verteilen sich über das ganze Leben“.

Im Sommer 1947 endlich kam die Familie wieder zusammen. Den Eltern wurde der Neubauernhof in Altenfinkenkrug bei Berlin im Zuge der Bodenreform der sowjetischen Besatzungszone zugeteilt. Wenn man in der Biographie danach sucht, wie Oskar, der fast drei Jahre keine Schule besuchen konnte und in Finkenkrug mehr zufällig denn verdient in der siebten Klasse einer „Einheitsschule“ landete, entdeckt man eine Eigenschaft, die Oskar Negts Einstellungen zum Schulsystem sein Leben lang prägen: Lernen und Bildung erwerben darf nicht pflichtgemäß, hierarchisch und nach staatlich verordneten Lehrplänen erfolgen, sondern muss sich selbsttätig und selbstbestimmt entwickeln. Als er, wissbegierig (und vielleicht auch etwas altklug) den Finkenkruger Bahnhofsbuchhändler fragte: „Was muss man lesen, um ein gebildeter Mensch zu werden?“, da empfahl der ihm „Meyers Konversationslexikon“. Das Geschäft kam zustande: Oskar lieferte dem Buchhändler einen Zentner Kartoffeln aus Vaters Bauernhof, verteilt über acht Wochen. Nach Abschluss der achtklassigen Volksschule stand die Zukunftsfrage an: Lehre oder weiterer Schulbesuch. Die erstere Option scheiterte, weil er keine Lehrstelle finden konnte; so meldete sein Vater ihn an der Gottfried-Keller-Schule in Berlin-Jungfernheide an; ein Glücksfall, denn er fand dort einen Lehrer, der ihn förderte und zu einem Selbstbewusstsein heranbilden ließ, das bestimmt war von der Überzeugung, dass Selbstlernen der Schlüssel für die eigene Bildung und Entwicklung ist.

Oskar Negt war 17 Jahre alt, als er mit seinen Eltern und Geschwistern wieder auf der Flucht war. Sein Vater, ein überzeugter Sozialdemokrat, protestierte gegen die Zwangsvereinigung der SPD und KPD zur SED. Um der Verhaftung zu entgehen, machte sich die Familie bei Nacht und Nebel erneut auf den Weg nach Westberlin; und wieder war es erst einmal die Flüchtlingsunterkunft, in der die Familie leben musste. Ein halbes Jahr später schließlich wurden sie nach Hannover ausgeflogen, um nach Oldenburg weiterzufahren, wo Verwandte lebten und sie in der Nähe von Großenkneten eine neue Bleibe fanden. In der Oldenburger Hindenburg-Schule (heute: Herbartgymnasium) traf er wiederum auf einen jungen Lehrer, der den Schülern philosophisches und dialektisches Denken beibringen konnte; und der vermutlich einen der Grundsteine dafür legte, dass Negt in seinen Auseinandersetzungen zwischen Sozialismus und Kapitalismus eindeutig Position im Sinne der kritischen Theorie bezog. Über die Goethe-Lektüre und den Kant-Imperativ erwarb der mit seinen offiziellen und verordneten schulischen Leistungen nicht gerade herausragende Schüler Negt, gewissermaßen im Ausgleich für sein soziales und gemeinschaftliches Engagement, das Abitur. Wenn man für das bis dahin vollzogene und das weitere Leben von Oskar Negt nach einem Motto suchen wollte, das ihn antrieb und bewegte, dann könnte es das Schlüsselwort „Selbstbefreiung“ sein, die, nach Kant Voraussetzung für philosophisches Denken ist, „das sich vom Dogmatismus der Dingwelt löst und dadurch die dumm machende Gewalt der Verhältnisse bricht“. Es ist die Überzeugung, dass Gerechtigkeit als der grundlegende Wert für ein humanes Zusammenleben gelten muss, soll der unantastbaren und nicht relativierbaren Würde des Menschen Genüge getan werden. Sein Plädoyer für ein Asylón, einen naturrechtlich legitimierten Zufluchtsort für Flüchtlinge, und seine Analysen über den gesellschaftlichen Zustand in Deutschland, in Europa und in der Welt wirken deshalb auch glaubwürdig und echt, weil es ihm gelingt, seinen eigenen Lebensweg und den seiner Familie immer wieder einzubinden mit der Frage: „Wer bin ich?“, gleichzeitig aber auch Abstand zu halten und nicht in die Falle von Rechtfertigung, Rechthaberei und, Stereotypenbildung zu tappen. Das schließlich hat ihn auch davor bewahrt, Meinungen, Programmen und Parolen zu folgen, die mit der Gleichung „Kapitalismus gut – Kommunismus schlecht“ die Stimmung in der deutschen (und den westlichen) Gesellschaft(en) in der Zeit im wesentlichen bestimmten. Es war die Zeit, in der Negt das Studium an der Universität in Göttingen begann. Das Ordnungsgefüge der Hochschule, das bestimmt war vom hierarchischen Vortrag und Hören, wie auch seine (kurze) Teilnahme an den Zeremonien einer schlagenden Verbindung, durchbrach er bald. Er lernte Peter von Oertzen kennen und wurde Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Politisches Ziel des Zusammenschlusses war, eine „sozialistische Gesellschaftsordnung“ aufzubauen. Zwangsläufig und logisch führte diese Vision Negt nach Frankfurt, zur Kritischen Theorie und zum Marx-Studium (vgl. zur heutigen Situation des sozialistischen und marxistischen Denkens die durchaus bemerkenswerten Initiativen wie z. B. die Aufforderung „Marx neu zu lesen“ (Rahel Jaeggi / Daniel Loick, Hrsg., Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15989.php).

Fazit

Oskar Negts autobiographische Spurensuche ist kein Lebensbericht, der die bisherigen Stationen seines Daseins kontinuierlich und nach Zeitperioden bzw. geordneten Abläufen abarbeitet. Das ist gut so; denn die Verbindung von Erlebnissen und Erinnerungen mit philosophischen und anthropologischen, historischen und aktuellen Denkprozessen macht aus, dass die Lektüre des Buches kurzweilig und erhellend ist. Bei dem ebenfalls 1934 geborenen Rezensenten haben Negts Erzählungen und Reflexionen immer wieder Aha-Erlebnisse ausgelöst, gleiche und kontroverse Einschätzungen bewirkt und Solidarität geweckt. Negt vergleicht seine (beginnende?) Autobiographie mit einer Collage, die als Bild die Mühen der Ich-Findung und Orientierungssicherung darstellen soll.

Negts Erzählung endet mit dem Wechsel des Studienortes von Göttingen nach Frankfurt/M. Das scheint ein abrupter Abbruch zu sein; denn es dürfte diese Zeit gewesen zu sein, die Negts akademisches Schaffen im wesentlichen bestimmt hat. Auch wenn weder der Verlag noch der Autor eine Weiterführung der autobiographischen Spurensuche nach dem „Überlebensglück“ ankündigen, schreit geradezu die Neugier danach, wie der Sozialphilosoph, Sozialdemokrat („Sozialist“?) und Gewerkschafter Oskar Negt diese und die weiteren Zeitläufte reflektiert, bis hin zu seinem Engagement, 1972 zusammen mit einer Initiativgruppe von gewerkschaftsorientierten Eltern, Hochschullehrern und Pädagogen die Glockseeschule in Hannover zu gründen, um das pädagogische Prinzip der Selbstregulierung und des exemplarischen, projektorientierten Lernens zu fördern.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1632 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.10.2016 zu: Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiographische Spurensuche. Steidl (Göttingen) 2016. ISBN 978-3-95829-212-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21062.php, Datum des Zugriffs 06.12.2023.


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