Richard Münchmeier: Geschichte des SOS-Kinderdorf e.V. in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Carola Kuhlmann, 23.02.2017
Richard Münchmeier: Geschichte des SOS-Kinderdorf e.V. in Deutschland. Nur was sich ändert, bleibt bestehen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 279 Seiten. ISBN 978-3-8474-0785-0. D: 26,00 EUR, A: 20,50 EUR.
Thema
Das Buch beansprucht, eine erste systematische Darstellung der Geschichte des SOS-Kinderdorf e.V. in Deutschland vorzulegen. Der Autor wertete hierfür das Archiv des Vereins aus. Der Untertitel „Nur was sich ändert, bleibt bestehen“ geht auf einen Spruch des österreichischen Gründers Hermann Gmeiner zurück, worin der Autor ein zutreffendes Motto für die historische Entwicklung des Vereins sieht.
Autor
Richard Münchmeier war Professor für Erziehungswissenschaft an den Universitäten Kassel, Leipzig und Berlin, lange Jahre auch Leiter der Abteilung Jugend und Jugendhilfeforschung am Deutschen Jugendinstitut e.V. in München. Er hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Sozialen Arbeit vorgelegt.
Entstehungshintergrund
Im Vorwort verweist der Vorstandsvorsitzende des SOS-Kinderdorf -Vereins, Johannes Münder, auf die 60-jährige Geschichte des Vereins, was Anlass für die in Auftrag gegebene Studie war. Diese solle allerdings keine „selbstbeweihräuchernde Jubiläumsschrift“ darstellen, sondern auch kritische Aspekte thematisieren (7).
Aufbau
Das Buch stellt die Entwicklung des Vereins in fünf Kapiteln vor, die jeweils eine Periode der Entwicklung ausführen, wobei eingangs jeweils die allgemeine sozialpolitische Entwicklung skizziert wird. Daran anschließend geht der Autor auf die dadurch zu erklärenden Veränderungen im Verein und in den Kinderdörfern ein. Im ersten Kapitel geht es um Gründung und Aufbau (1955-1965), danach um Etablierung und Konsolidierung (1965-1975), um Aufgabenerweiterung, Professionalisierung, Organisationsreform (1975-1990) und schließlich um Entwicklungen seit der deutschen Einigung (1990-2010). Ergänzt wird die Darstellung durch einen Exkurs zum Auslandsengagement und der Kooperation des deutschen Vereins mit dem „SOS-Kinderdorf International“. Abschließend wird ein Resümee gezogen.
Im Anhang sind Dokumente und zwischendurch Bilder aus den Kinderdörfern abgedruckt, die den verschiedenen Zeitabschnitten zugeordnet sind.
Inhalt
1. Vorgehensweise und Methoden. Vorwiegend wurden Akten des Vorstands und der Verwaltung ausgewertet, auch neun Experteninterviews von Sachverständigen aus den Geschäftsstellen oder Einrichtungen sowie entsprechende Sekundärliteratur zu den SOS-Kinderdörfern. Münchmeier möchte dabei nicht nur die organisationssoziologische Vereinsgeschichte beleuchten, sondern auch die Entwicklung der Praxis reflektieren und zwar weder als Erfolgs-, noch als Verfallsgeschichte.
2. „Nur was sich ändert, bleibt bestehen“ – Einführung. Hier wird das oben genannte Motto näher erläutert. Münchmeier bescheinigt dem Verein Wandlungsfähigkeit, da es gelungen sei, aus der Gründungsidee von Hermann Gmeiner einen anerkannten Träger der Jugendhilfe zu machen. Ein Blick auf die zahlenmäßige Entwicklung national und international zeige eine „erstaunliche Erfolgsstory“ (18). Münchmeier ordnet Gmeiner ein in die Reihe von Männern „genialer Güte“, die als „altruistische Abenteurer“ (nach Hartmut Diessenbacher) in die Geschichte Sozialer Arbeit eingegangen sind. Er habe es verstanden, „komplexe Sachverhalte genial zu reduzieren und die notwendigen Lösungen in ein unmittelbar einleuchtendes, einfaches Modell zu gießen.“ (19) Aufgrund seiner internationalen Tätigkeit und des universalistischen Ansatzes seines Hilfswerkes als Friedenswerk, stellt Münchmeier ihn im weiteren Verlauf des Buches sogar in eine Reihe mit anderen Männern, die sich der Rettung von Kindern gewidmet haben (Fröbel, Pestalozzi, Korczak, 178), sowie mit anderen Verbandsgründern (Wichern, Juchatz u.a. 240).
3. Die Geburt der Idee „SOS-Kinderdorf“. Die Gründungsidee stellt Münchmeier hier in den Zusammenhang mit der Nachkriegsgeschichte und der biographischer Erfahrung Gmeiners. Dessen Verlust der Mutter mit fünf Jahren begründete das Engagement des Österreichers für elternlose Kinder. Seine ältere Schwester hatte die Aufgaben der Mutter in seiner Familie übernommen und ihn und seine sechs weiteren Geschwister erzogen. Sein katholischer Hintergrund erklärt daneben sein Familienideal, das die Kinderdorfidee von Anfang an prägte (33). Die zweite wesentliche Idee der Kinderdorfbewegung war die einer Spendenorganisation, die erstmals Tausende von KleinspenderInnen rekrutiert habe. Diese waren vor allem durch die Idee zu mobilisieren, statt einer staatlich- bürokratischen Fürsorge eine über das Maß des Beruflichen hinausgehende Mutterliebe in den Vordergrund zu stellen. Gmeiner hatte 1948 sein Medizinstudium abgebrochen und den Verein Societas Sociales (daher SOS) gegründet, der 1951 das erste Kinderdorf in Imst eröffnete. Die Konzeption sah vor, dass mehrere Kinderdorfmütter in ihren Häusern bis zu neun Kinder betreuten und der männlichen Autorität eines Dorfleiters untergeordnet waren. Im ersten „Kinderdorfboten“ von 1958 wurden die konzeptionellen Ziele dargestellt: „Die Kinderdorfmutter ist keine beamtete Erzieherin. Sie will ihren Kindern eine wirkliche Mutter sein. Das SOS-Kinderdorf betreut die ihm anvertrauten Kinder so lange, bis sie selber im Stande sind, ihr eigenes Leben zu meistern. Die Kinderdorffamilie, aus der das Kind stammt, ist ihm ein bleibendes Daheim. (…) Das SOS-Kinderdorf sorgt dafür, dass die Kinder im christlichen Geiste erzogen werden. Das SOS-Kinderdorf will beispielgebend für eine moderne Jugendfürsorge sein, damit staatliche, kirchliche und private Institution Institutionen ähnliche Wege der Betreuung elternloser, verlassener und milieugeschädigter Kinder beschreiten.“ (37) Daneben sollte völkerverbindendes Denken, die Erziehung zur Menschenwürde und zum Frieden gefördert werden.
4. 1955-1965. Die Gründungs- und Aufbaujahre in Deutschland. In Deutschland wurde der Verein am 8.2.1955 in München gegründet, Hermann Gmeiner war bis zu seinem Tod 1986 im Vorstand vertreten. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u. a. ein Redakteur, ein Kaufmann, ein Landrat und ein Polizeikommissare. 1958 wurde in Dießen bei Landsberg in Bayern das erste Kinderdorf in Deutschland gegründet. Finanziert wurde es durch „massenweit gestreute Werbekampagnen“ (65). 1959 gab es 150.000 Spender, die dauerhaft die Kinderdorfidee unterstützt. Bis in die 1990er Jahre hatte der Verein häufig mehr Spenden, als er ausgeben konnte (146, 215). 1966 wurde das zehnte Kinderdorf im Sauerland eröffnet, es folgten in den nächsten zwei Jahren drei Jugendhäuser (68). Der Verein grenzte sich in der Anfangszeit bewusst gegenüber dem Jugendhilfesystem und der „Kasernenerziehung“ ab und nahm auch geringere Pflegesätze. Erst 1971 beantragte er die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe. Die in den Spendenaufrufen geäußerte Kritik an der Heimerziehung blieb indes nicht unwidersprochen. 1964 kritisierte der AFET – damals der wichtigste Fachverband der Jugendhilfe –, die SOS-Kinderdorf-Bewegung habe zu wenig fachliche Erfahrung, äußere unreflektierte Kritik an der Heimerziehung und propagiere eine „unreflektierte Familienideologie“. Ihre Forderung nach einem Kontaktabbruch mit der Herkunftsfamilie ließen „erheblichen Zweifel“ aufkommen, ob die SOS-Kinderdorf Erziehung „den heutigen sozialpädagogischen Erkenntnissen und der Praxis gerecht zu werden vermag“ (zit. n. 74).
Tatsächlich war die in den Spendenaufrufen so einleuchtend zu vermittelnde Idee in der Praxis nur in den ersten Nachkriegsjahren problemlos umsetzbar, da die Rekrutierung der „Mütter“ ein „Kardinalproblem“ des Vereins blieb (75). Zwar habe es viele Bewerbungen gegeben, aber nur wenige der Frauen kamen in die engere Wahl, Gmeiner behielt sich vor, sie persönlich auszuwählen und er hatte dabei besondere Vorstellungen, bevorzugt wurden Bäuerinnen gesucht. In einem Protokoll von 1956 hieß es zur Frage der Eignung als „Kinderdorfmutter“, neben der „Naturbegabung“ als Mutter sei ein „einwandfreier Charakter“ notwendig und sie sollte „nicht zu intelligent“ sein: „Sozialpädagogische Ausbildung ist nicht unbedingt wünschenswert, weil diese Frauen schon oft sehr in vorgefassten Meinungen und Ansichten befangen sind (Eingleisigkeit)“ (zit. n. 76). Auch in Bezug auf die Aufnahme von Kindern gab es von Anfang an Probleme, da die meisten Sozialwaisen waren, die mit Verhaltensproblemen kamen, denen die Kinderdorfmütter – bereits überfordert durch die Menge der Kinder – oft nicht gerecht werden konnten. Der Verein reagierte mit der Einstellung von Psychologen. Die Klagen drüber, dass man von Jahr zu Jahr „mehr verhaltensgestörte und erziehungsschwierige Kinder aufnehmen“ müsse, hielten jedoch an (147).
5. 1965-1975. Die Jahre der Etablierung und Konsolidierung. In dieser Dekade des gesellschaftlichen Wandels im Familienbild, der Bildungsexplosion und der fortschreitenden Professionalisierung der Sozialen Arbeit, beschloss der Verein keine weiteren Kinderdörfer zu gründen. Dies wurde vor allem damit begründet, dass die Rekrutierung der Mütter schwierig blieb. Einzelne Häuser in den Kinderdörfern standen deswegen sogar leer. Angeregt durch die Kritik des AFET wurde vom Verein der Tübinger Erziehungswissenschaftler Andreas Flitner beauftragt, eine Studie zu leiten, die schließlich von Manfred Vollert durchgeführt und 1970 veröffentlicht wurde. Sie empfahl unter anderem eine Verkleinerung auf 5-7 Kinder in den Familien. Die Studie verwies auch auf die Gefahr einer „falsch verstanden Familiengemäßheit“ hin, denn einige Kinderdorfmütter hätten während der Befragung von „ihren“ Kindern gesprochen (107). Der Verein solle sich eher als eine institutionelle Familienpflegestelle bezeichnen, weniger als Alternative zum Heim darstellen. Sie empfahl daneben eine Verbesserung der pädagogischen Ausbildung und eine Supervision der Mütter sowie eine Verstärkung der therapeutischen Hilfen innerhalb der Dörfer. In der Studie sieht Münchmeier den Beginn einer empirischen „Selbstbeobachtung“, da sie der Ausgangspunkt der Gründung eines eigenen Forschungsinstituts wurde (SPI). Er bescheinigt dem Verein „viel Mut“, dass er diesen Schritt gegangen ist. Insgesamt gingen die Aufnahmen – trotz der nun folgenden Einstellung von „Kinderdorftanten“ und „Hilfserzieherinnen“ von 93 Kindern in 1968 auf nur noch 50 Kinder im Jahr 1978 zurück (119). Beschlossen wurden in der Zeit die Gründung eines jugendpsychiatrischen Aufnahmeheimes sowie die Gründung von Jugendhäusern für die über 14-jährigen Jungen, in denen Sozialarbeiter und Erzieher eingestellt wurden. Diese jungen Pädagogen hatten häufig liberalere Vorstellungen in Bezug auf Erziehung und gerieten nun häufig in Konflikt mit den Dorfleitern und den Müttern (vgl. dazu auch 157).
6. 1975-1990. Aufgabenerweiterung, Professionalisierung, Organisationsreformen. Durch den zweiten Familienbericht der Bundesregierung 1974/75 war der Verein ein zweites Mal in eine defensive Position geraten, da dieser unter anderem die Bedeutung des Vaters in der Familie hervorgehoben hatte und das Dorfmütterkonzept damit erneut in die Kritik geriet. Der Verein reagierte mit einer konzeptionellen Wende zur Prävention. Er bot nun auch ambulante Hilfen wie Mütterzentren, Erziehungsberatung, Berufsbildungs- und Familienzentren an. Aufgrund der Kritik wurde 1977/78 auch eine Befragung von 114 bis zum Jahre 1961 aufgenommenen ehemaligen Kinderdorfkindern durchgeführt. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die „pädagogischen Bemühungen der SOS-Kinderdörfer“ erfolgreich waren, was sie durch die schulischen Erfolge und die allgemeine Lebenszufriedenheit der ehemaligen Kinder bestätigt fanden (167).
Exkurs. In dem Exkurs geht es um das Auslandsengagement des SOS-Kinderdorf e.V. und die Kooperation mit SOS-Kinderdorf international. Heute gibt es in 132 Ländern insgesamt 555 SOS-Kinderdörfer. Hermann Gmeiner selbst begann die Ausweitung seiner Idee nach einer Reise nach Korea und rief die Spendenkampagne „Ein Reiskorn für Korea“ ins Leben (für vier DM konnte ein Reiskorn erworben werden, das symbolisch einen Baustein für den Bau des Kinderdorfes darstellte). Schnell verbreitete sich die Kinderdorfidee zunächst ab 1963 in Asien, danach in Mittel- und Südamerika sowie nach Afrika und schließlich nach 1991 auch nach Osteuropa und Zentralasien (180).
7. 1990-2010. Entwicklungen seit der deutschen Einigung. Die politischen Veränderungen (Sozialstaatskrise, demographischer Wandel, Wiedervereinigung) regten im Verein – so Münchmeier – erneut eine Wachstumsphase und Aufgabenerweiterung an. Zwölf Einrichtungen wurden gegründet – fast alle in den neuen Bundesländern, obwohl auch hier der „Mütternachwuchs“ beklagt wurde (201). Ein erstes großstädtisches Kinderhaus entstand in Berlin-Moabit. Auch die Geschäftsstelle machte einen Prozess der Organisationsentwicklung durch, daneben wurde erste „Wertetagungen“ durchgeführt. Im Leitbild wurde der Verweis auf die „christliche Sittenlehre“ durch einen Verweis auf das „humanistischen Menschenbild, das seine Wurzeln in christlichen Werten hat“ ersetzt (221). 1996 beschloss der Vorstand, dass ab 2000 die formale Qualifikation einer staatlich anerkannten Erzieherin Voraussetzung für die Einstellung von Kinderdorfmüttern sein sollte. Auch sollten nun verheiratete, verwitwete oder geschiedene Frauen, Alleinerziehende wie auch Ehepaare eingestellt werden können. Im selben Vorstandsbeschluss wurde auch eine veränderte Berufsbezeichnung eingeführt: statt Kinderdorfmutter sollte es nun heißen: „Pflegemutter im SOS-Kinderdorf“. Auch sollte die Arbeit mit der Herkunftsfamilie aufgenommen werden. Schließlich wurde auch das SPI wieder aktiv: 2009 wurde eine Dokumentenrecherche in Auftrag gegeben, aus der hervorging, dass es in den fünfziger und sechziger Jahren zu „Unrechtshandlungen“ an Kindern gekommen ist und dass es Forderungen ehemaliger Betreuter gegeben hat. Acht der zwölf Kinderdörfer, die vor 1970 gegründet worden waren, war – so die Studie – „die Tatsache von Unrechtshandlungen bekannt“ (230). Allerdings sei es nicht zu den in anderen Heimen beschriebenen „extremen Formen von menschenverachtendem Unrecht“ gekommen (ebd.).
8. Resümee und Ausblick. Münchmeier resümiert, dass es für alle sozialen Organisationen eine Herausforderung sei, einerseits die Identität nicht zu verlieren, andererseits sich aber auch den wandelnden Bedingungen anzupassen. Das Kinderdorf sei immer noch der „Identitätskern“ des Vereins (239). Wie Kurt Levin in seinen organisationssoziologischen Studien beschrieben habe, könnten auch bei den SOS-Kinderdörfern die Phasen der Differenzierung und funktionalen Spezialisierung, der Ausbreitung und Konsolidierung erkannt werden, ebenso die notwendig stattfindende wiederholte Rückbindung an die Wertebasis und die Integration der spezialisierten Institutionen. Er empfiehlt dem Verein für die Zukunft ein nachhaltiges Wachstum, Qualitätsentwicklung und die Entwicklung klarer sozialpolitischer Perspektiven (244).
Diskussion
Die Idee eines Kinderdorfes ist keine Erfindung von Hermann Gmeiner, sondern Ähnliches ist auch von anderen Personen und an anderen Orten gedacht und umgesetzt worden – man denke nur an das Rauhe Haus und die Familiengruppen bei Heinrich Wichern. Spezifisch an Gmeiners Idee ist die Konzentration auf die nicht pädagogisch ausgebildeten Kinderdorfmütter. Dies bleibt zu diskutieren, denn einerseits hat diese Idee offenbar viele Spenden bewirkt, andrerseits waren über Jahrzehnte nicht genug „geeignete“ Ersatzmütter zu finden. Wie begründete Gmeiner selbst die Konzentration auf Mütter? Er tat dies zunächst einmal scheinbar pragmatisch. Er argumentierte, dass bei einem Ehepaar eigene Kinder hinzu kommen könnten und dass eine Ehefrau ihrem Mann gegenüber Pflichten zu erfüllen habe, beides würde von den aufgenommenen Kindern ablenken. Auch würde die Einstellung von Ehepaaren wirtschaftlich zu einer Mehrbelastung führen. Rationeller schien hier, dass ein Dorfleiter das väterliche Element abdeckte (40). Weiter begründete er – in einer Zeit, in der eine pädagogische Qualifikation bereits in der Heimerziehung üblich wurde – den Verzicht auf eine pädagogische Ausbildung damit, dass intelligente und gebildete Frauen möglicherweise „eingleisig“ werden (oder eigene Standpunkte vertreten, wodurch sie mit den Dorfleitern in Konflikt geraten könnten?). Er befürchtet weiter, dass Kinderdorfmütter durch Fachleute verwirrt und verunsichert werden könnten (112 – weil er sie nicht für fähig hält, ein eigenständiges Urteil zu bilden?) Deutlich zeichnet sich in diesen Begründungen und Befürchtungen ein patriarchales Frauenbild ab, das Frauen eine wesenhafte Mütterlichkeit zuschreibt, die durch Professionalisierung und wissenschaftliches Denken gefährdet ist. Dieses Frauenbild ist bei Gmeiner geprägt durch ländlich-katholische Familientraditionen, möglicherweise auch geprägt durch die Projektionen und Wunschvorstellungen aus der kindlichen Perspektive (die ja durchaus berechtigt ist: wer möchte sich schon berufsmäßig erziehen lassen?). Allerdings wird hiermit wieder die Tatsache außer Acht gelassen, dass die große Mehrheit der Kinder noch Familien hatte und damit eine Ersatzerziehung nie „natürlich“ sein konnte.
In vielen Ausschuss- und Vorstandssitzungen wurde von Männern beklagt, dass nicht genug Frauen die aufopferungsvolle Tätigkeit einer Kinderdorfmutter ausüben wollten. Sie dachten lange nicht darüber nach, ob möglicherweise mit den Arbeitsbedingungen etwas nicht stimmte – etwas, das auch durch die Einstellung von Psychologen nicht besser wurde. Nirgends wird übrigens erwähnt, ob Hauswirtschafterinnen eingestellt wurden – bei neun Kindern ja durchaus überlegenswert. Die Realität stimmte offenbar nicht mit dem auf den Werbeblättern gezeigten Familienidyll überein. Im Verein konstatierte man: „Viele Bewerberinnen, die ihr Praktikum in einem Kinderdorf verrichtet hätten, würden ihre Bewerbung angesichts der belastenden Situation vor Ort zurückziehen. Angeblich hatte es auch ein Abraten von dieser Tätigkeit durch die erfahrenen Kinderdorfmütter selbst gegeben.“ (114)
Bis zum Ende der 1990er Jahre konnte der Verein sich von diesem idealisierten Konzept nicht verabschieden, obwohl der AFET bereits 1964 eine weitsichtige Kritik formuliert hatte. Dies wird in der vorliegenden Publikation m.E. nicht ausreichend problematisiert. Stellt man aber die Entwicklung des SOS-Kinderdorf Vereins nicht nur in den sozialpolitischen Kontext – wie Münchmeier es getan hat –, sondern vergleicht sie mit der Entwicklung der Heimerziehung von den 1950er bis in die 2010er Jahre, so wird eine eigentümliche Verspätung bei der Reform dieses sich als Alternative zur Heimerziehung darstellenden Vereins deutlich. Widersprüchlich bleibt, dass der Verein, der mit dem ganzheitlichen Konzept des Kinderdorfes warb, dann doch anfing, alle Spezialisierungen und Differenzierungen nachzuholen, die andere Heimträger in ihrer langen Geschichte bereits früher vollzogen hatten: Sondereinrichtungen für ältere Jungen, Aufnahmeheime, Diagnosestationen, Aufbau eines Expertenapparates etc. Dagegen bleibt eine Konstante: gegen die Überforderung und für die Ausbildung der weiblichen Erziehungskräfte wird wenig getan. Zwar wurde 1965 eine Mütterschule gegründet, diese bot aber noch immer keine reguläre Erzieherinnenausbildung an.
Ein Grund für die Rückständigkeit in Bezug auf die Idealisierung der natürlichen Mütterlichkeit könnte in der Basis der Kleinspenden liegen. Offensichtlich wurde im Milieu derer, die für die Kinderdorfidee spendeten, gerade die vorgebliche „Natürlichkeit“ dieses Familienersatzes gewürdigt. Dass diese in der Realität zur Überforderung führte, wurde erst sehr spät realisiert. Leider kommt in dem Buch die Perspektive der ehemaligen Kinderdorfmütter nirgends zur Sprache, obwohl behauptet wird, ihre Tätigkeit sei historisch und aktuell der Kern der Identität des Vereins. Es wäre sicherlich interessant, sie einmal systematisch zu befragen, u.a. dazu, was sie rückblickend von der Gründungsidee halten.
Denn das Problem, wie es gelingen kann, längerfristig MitarbeiterInnen für eine stationäre Ersatzerziehung zu gewinnen, die mit Verhaltensauffälligkeiten umgehen können und Bindungserfahrungen ermöglichen, ist bis heute nicht zufriedenstellend gelöst, auch wenn inzwischen niemand mehr an der Notwendigkeit einer sozialpädagogischen Qualifikation zweifelt.
Fazit
Das Buch arbeitet gründlich und systematisch die Geschichte des SOS-Kinderdorfvereins auf, sofern sie aus den Akten und den sozialpolitischen Rahmenbedingungen rekonstruierbar ist. (Die in der Einleitung angekündigten Experteninterviews werden leider nicht explizit dargestellt.) Es stellt damit einen Beitrag zum Verständnis der Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe von der Nachkriegszeit bis heute dar, insbesondere durch die Vorstellung des spezifischen Konzepts der Kinderdorfmütter. In Bezug auf den eigenen Anspruch, auch Kritisches zu thematisieren, kommt die Problematisierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Verein zu kurz. Eine Einbindung in allgemeine Entwicklungen im Bereich der Heimerziehung hätte die Grundprobleme dieser Form der Ersatzerziehung etwas deutlicher erkennen lassen.
Rezension von
Prof. Dr. Carola Kuhlmann
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Carola Kuhlmann.
Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 22640
Zitiervorschlag
Carola Kuhlmann. Rezension vom 23.02.2017 zu:
Richard Münchmeier: Geschichte des SOS-Kinderdorf e.V. in Deutschland. Nur was sich ändert, bleibt bestehen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2016.
ISBN 978-3-8474-0785-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21066.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.