Donja Amirpur: Migrationsbedingt behindert?
Rezensiert von Prof. Dr. Johannes Schädler, 17.10.2016

Donja Amirpur: Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive. transcript (Bielefeld) 2016. 310 Seiten. ISBN 978-3-8376-3407-5. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.
Thema
Erfahren zu müssen, dass das eigene Kind eine Behinderung hat und sich nicht altersgemäß entwickelt, ist für betroffene Eltern eine einschneidende Erfahrung. Bereits seit vielen Jahren werden von wissenschaftlicher Seite Erklärungsmodelle entwickelt, wie diese elterliche Ausnahmesituation verstanden werden kann und welche Unterstützungsangebote hilfreich sein können. Neben älteren psychoanalytisch orientierten Theorien, die in der elterlichen Enttäuschung über den Verlust eines als ideal fantasierten Kindes einen Trauerprozess angelegt sehen, beziehen sich andere Theorien auf die Ergebnisse der Stressforschung bzw. der Theorie der kritischen Lebensereignisse oder familiensystemischer Ansätze. Demnach sind Familien mit behinderten Kindern mit vielfältigen Anforderungen konfrontiert, deren Bewältigung in hohem Maße von Ressourcen abhängt, die vorhanden sind bzw. verfügbar gemacht werden können.
Im Zuge des Aufbaus von Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe wurden in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Beratungs- und Unterstützungsangebote für betroffene Familien geschaffen. Zudem wurde das System der sozialrechtlichen Nachteilsausgleiche sowie der Rechtsansprüche z.B. auf pflegebezogener Sach- und Geldleistungen nach dem SGB XI erweitert. Dies hat paradoxerweise aber auch dazu geführt dass die ohnehin gegebene Unübersichtlichkeit des Systems sozialer Hilfen für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien noch vergrößert wurde. Ein nicht unwesentlicher Anspruch der Reform des Teilhaberechts besteht sein vielen Jahren darin, die Koordinationsprobleme des Rehabilitationssystems so zu organisieren, dass sie nicht zu Lasten der Leistungsberechtigten ausgetragen werden. Bereits frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass es Familien mit behinderten Angehörigen keineswegs leichtgemacht wird, Zugang zu den für sie notwendigen materiellen Hilfen und Dienstleistungen zu bekommen. Insbesondere ambulante Dienste neigen demnach offensichtlich dazu, über eine implizite Mittelschichtsorientierung ihre Klientel vorzuselektieren. Viele sozialrechtliche Leistungen setzen voraus, dass die Leistungsberechtigten einen Antrag an die zuständige Behörde stellen. Dies wiederum birgt Diskriminierungsrisiken, da entsprechende Informationen über Rechte und Verfahren sowie eine wirksame Artikulationsfähigkeit erforderlich ist, die aus Gründen sozialer Ungleichheit oder individuell bedingt nicht bei allen Eltern von Kindern mit Behinderungen gleichermaßen gegeben ist.
Donja Amirpur hat im transscript-Verlag eine Untersuchung zu der Frage veröffentlicht, ob betroffene Familien mit Migrationserfahrung und mit islamischer Religionszugehörigkeit in besonderer Weise von Diskriminierungen im Hilfesystem betroffen sind und wie sich diese ausdrücken können. Zweifellos ist dies ein äußerst aktuelles Thema und der Leser ist gespannt auf die nähere theoretische Begründung, das methodische Vorgehen und die Ergebnisse.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die in Deutschland geborene Autorin hat einen iranischen Vater und eine deutsche Mutter. 2015 hat im Fach Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn promoviert, wo sie auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Die Buchpublikation beruht auf ihrer Dissertationsschrift, die 2016 mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien ausgezeichnet wurde.
Aufbau
Das Buch ist im Wesentlichen in einen theoretischen, einen methodologischen und einen empirischen Teil gegliedert.
Im theoretischen Teil ordnet die Autorin ihre Fragestellung zunächst in aktuelle behindertenpolitische und fachliche Diskurse ein und nimmt begriffliche Klärungen vor. Dann entfaltet sie am Beispiel von islamischen Familien ihre Kernthese, wonach deren geringe Inanspruchnahme von Angeboten der Behindertenhilfe nicht auf kulturelle oder religiöse Eigenheiten zurückzuführen sei, sondern auf Diskriminierungsmechanismen des Hilfesystems.
Die methodische Vorgehensweise ihrer Untersuchung stützt sie auf die Annahmen der Grounded Theory, die sie mit einem intersektionalen Mehrebenen- Ansatz verknüpft. Dies erscheint ihr für die Analyse der interdependenten Lebenslage von Familien im Kontext von Behinderung und Migration geeignet.
Im dritten Teil der Arbeit stellt sie die Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchung vor, in der sie in einem „muslimischen Sample“ (S. 14) elf türkische und iranische Familienerfahrungen analysiert. Die Arbeit schließt mit einer zusammenfassenden Darstellung der Argumentationsschritte und Ergebnisse.
Inhalt
Donja Amirpur geht in ihrer Argumentation von der Annahme aus, dass Kinder mit Behinderungen, die aus Migrationsfamilien kommen, in den Förderangeboten der Behindertenhilfe unterrepräsentiert sind und ihre Familien die verfügbaren Beratungs- und Unterstützungsangebote weniger nutzen als ‚herkunftsdeutsche‘ Familien. Vor allem bei islamischen Familien werden die Gründe hierfür – so die Autorin – bisher von vielen Praktiker/inne/n, aber auch in wissenschaftlichen Untersuchungen in deren angeblich anderer Kultur, in kultureller Fremdheit bzw. in vormodernen Behinderungsvorstellungen gesehen. Solche kulturalistischen Deutungen weist Donja Amirpur mit Verweis auf hegemoniale Tendenzen und subtile Rassimen der Mehrheitsgesellschaft zurück. In der Mehrheitsgesellschaft würden Differenzlinien wie Geschlecht, Herkunft, Körper oder Behinderung konstruiert, entlang derer Diskriminierungsmechanismen wirken. Wenn Personen von mehreren Differenzmerkmalen betroffen sind – etwa im Kontext von Behinderung und Migration –, können sich die Mechanismen der Benachteiligung wechselseitig verstärken. Sie argumentiert, dass zur Erklärung der unzureichenden Inanspruchnahme von Hilfen eher fehlende interkulturelle Kompetenz der Behindertenhilfe und mehr oder weniger bewusst praktizierte Diskriminierungshandlungen angenommen werden können.
Skizziert wird eine Tendenz zur „Ontologisierung der muslimischen Familie“ (S. 42) als Projektion einer kulturellen Gegenwelt. Lesenswert ist der kurze Exkurs zu Aussagen des Koran und zu theologischen Interpretationen dieser Schrift für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen, die zu Barmherzigkeit und Hilfe auffordern (vgl. S. 42ff). Dabei werden, wie bei religiösen Texten üblich, alle Deutungsmöglichkeiten offengelassen.
Irritierend ist der Umgang der Autorin mit der Fragestellung ihrer Untersuchung. Die Forschungsfrage danach, „welchen Stellenwert die islamisch geprägte Sozialisation bei muslimischen Familien im Umgang mit der Behinderung des Kindes einnimmt“ (S. 14) scheint absolut schlüssig zu den Ausführungen im Theorieteil der Arbeit zu passen. Sie wird aber von der Autorin im praktischen Forschungsprozess aufgegeben und durch zahlreiche andere, recht vage Zielformulierungen ersetzt. Nach ambitioniertem Einstieg geht es ihr dann im Weiteren nur noch darum „Einblicke in die Lebenssituation von Familien mit einer Migrationsgeschichte und einem behinderten Kind, ihre Orientierung und den Umgang mit Behinderung zu erhalten“ (S. 90).
Der empirische Teil der vorgestellten Untersuchung dokumentiert und analysiert elf Fallgeschichten ‚muslimischer‘ Familien mit behinderten Kindern, die entweder einen türkischen oder iranischen Hintergrund haben. Die Darstellungen beruhen auf Ergebnissen von qualitativen Interviews, die die Autorin teils auf Deutsch, teils auf türkisch oder auf persisch mit Dolmetscher mit den Müttern, Vätern und einer Großmutter geführt hat. Aus den einzelnen Fallgeschichten heraus werden Thesen gebildet, die verschiedene Dimensionen von Bewältigungsstrategien und Diskriminierungserfahrungen aufzeigen. Offensichtlich auch für die Autorin überraschend ist die geringe Bedeutung der islamischen Religion für den Familienalltag, für Bewältigungsstrategien und Diskriminierungsanlässe. Donja Amirpur erkennt zwar in einem Fallbeispiel den Islam mit seiner prädestinativen Glaubensvorstellung auch als Ressource, die zur Bewältigung der Belastungen von Familien im Zusammenhang mit der Behinderung des Kindes dienen kann. Ansonsten äußern sich die Interviewten diesbezüglich eher abweisend oder säkular orientiert. Die etwas unvermittelt eingeführte Frage nach möglichen Vorzügen eines islamischen Wohlfahrtsverbandes wird in mehreren Fällen dahingehend beantwortet, dass es auf verlässliche Hilfe und nicht auf religiöse Orientierung ankäme.
Einen breiten Raum nehmen in den Fallgeschichten vielfältige Erfahrungen von Ungleichbehandlung ein, sei es bei als übergriffig erlebten Entscheidungen der Schulverwaltung über die Beschulung der Kinder in Förderschulen, bei der fehlenden Bewilligung von Hilfsmitteln (wie einem,Talker‘ als Kommunikationshilfe) durch eine Krankenkasse oder bei die Nichtgewährung von „Pflegegeld“ durch die Pflegekasse. In einigen Fallgeschichten wird die Bedeutung des transnationalen Raums betont, in dem sich interviewten Familien befinden und dessen Ressourcen vom System der Behindertenhilfe weder gesehen noch genutzt würden. Donja Amirpur identifiziert in ihren Analysen auch Mechanismen, mit denen Diskriminierungshandlungen umgesetzt werden. Dazu gehören aus ihrer Sicht nicht zuletzt auch „linguale Machtstrukturen“ (S. 260ff.), mit denen sich die Akteure aus Schulen, Behinderteneinrichtungen und Diensten sowie aus der Sozialverwaltung die deutschen Sprachprobleme der betroffenen Migrantenfamilien zu Nutze machen, um Mitentscheidungsrechte zu blockieren und ihnen zustehende Leistungsansprüche zu verwehren. Als ursächlich dafür werden tendenziell rassistisch motivierte Einstellungen vermutet, nach denen bestimmte soziale Leistungen im Sinne eines „Etabliertenvorrechts“ nur angestammten Deutschen (S. 70) zustünden verbunden mit fehlender Bereitschaft, interkulturelle Kompetenz im Umgang mit sozialen Problemen von Migrantinnen und Migranten zu entwickeln. Bezeichnend für die berichteten Erfahrungen der Befragten scheint eine von der Autorin im Zusammenhang mit Bildungszugängen verwendete Zwischenüberschrift „Deutschland behindert …“ (S. 155)
In einem abschließenden Kapitel wertet Donja Amirpur die Ergebnisse der Fallgeschichten insgesamt aus. Dabei identifiziert sie drei Themen, die die zentralen Orientierungen der befragten Eltern darstellen (vgl. S. 257ff.):
- Suche nach sozialer Absicherung
- Suche nach Möglichkeiten der Handlungsbefähigung
- Suche nach Entlastung
Die Schlussfolgerungen, die die Autorin dann mit Blick auf die gesamte Argumentation der Arbeit vornimmt, beinhalten einen kritische Bewertung der Hilfeangebote für Familien mit behinderten Angehörigen, die von einer Erfüllung der Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention noch weit entfernt sind. Donja Amirpur konstatiert aber auch, dass sich die Probleme und Kernorientierungen bei den untersuchten muslimischen Familien „kaum von denen der nichtmigrierten Familien unterscheiden“ (S. 277). Die von den muslimischen Familien geschilderten Probleme der gleichberechtigten Kooperation mit Fachleuten, des erschwerten Zugangs zu Informationen, zu inklusiven Bildungsangeboten oder auch des Verstehens von professioneller oder sozialrechtlicher Fachsprache würden in ähnlicher Form auch von ‚herkunftsdeutschen‘ Familien berichtet. Allerdings könnten sich die Kategorien Migration und Behinderung wechselseitig negativ bestärken und zu Ausgrenzungserfahrungen führen. Notwendig wären daher aus ihrer Sicht eine interkulturelle Öffnung im System der Behindertenhilfe, die sich stärker als bisher an den Kompetenzen und transnationalen Ressourcen der Migrantenfamilien orientiert sowie ein Abbau diskriminierender Rechtsvorschriften insbesondere für Flüchtlinge.
Diskussion
Die im ersten Teil des Buches von Donja Amirpur entwickelte These, dass die Zugangsprobleme von Migrantenfamilien zum System der Behindertenhilfe in Deutschland nicht irgendwie kultureller Art sind, sondern ihre Ursachen in Diskriminierungsstrukturen haben, ist in hohem Maße bedenkenswert. Sicherlich liegen die Stärken des Buches in seinem theoretischen Teil, in dem u.a. wichtige Diskurse aus der Migrationsforschung und des Diversity-Ansatz für die Behindertenhilfe erschlossen werden. Positiv ist auch, dass die Autorin mit ihrer intersektionalen Herangehensweise eine Forschungsperspektive eröffnet, mit der verschiedene Differenzkategorien verknüpft und für empirische Untersuchungen nutzbar gemacht werden können. Damit könnte auch die Argumentation zur Dreifachdiskriminierung behinderter Frauen (Kapitalistische Gesellschaft, Geschlecht, Behinderung) von Carola Ewinkel und Gisela Hermes aus den 1980er Jahren sinnvoll weitergeführt werden. Wobei allerdings die Zuschreibungsproblematik bei der Definition von ‚Multiproblemfamilien‘ reflektiert werden muss. Für die konkrete Themenstellung des Buches ist es bedauerlich, dass der Begriff der Familie im Text doch eher diffus bleibt. Eine sozialwissenschaftliche Reflexion des Funktionsverständnisses von Familie unter Bedingungen gesellschaftlicher Modernisierung sowie im islamischen Religionskontext hätte es erleichtert zu klären, worauf sich die thematisierten Diskriminierungstatbestände genau beziehen. Einige sozialrechtliche Unklarheiten, die den Text durchziehen, hätten dadurch ebenfalls vermieden werden können, da bekanntlich nicht Familien, sondern konkrete Personen jeweils leistungsberechtigt sind.
Leider wird die ursprüngliche Forschungsfrage zur Bedeutung der islamischen Religion auf die Bewältigungsstrategien und auf Diskriminierungsanlässe von muslimisch sozialisierten Familien aufgegeben. Verliert nicht damit das gemeinsame Merkmal der ausgewählten Familien ihre islamische Religionszugehörigkeit – seinen empirischen Sinn (‚muslimisches Sample“)und gerät in Gefahr einer übergriffigen identitären Zuschreibung?
Insgesamt erfolgt die Bewertung von subjektiven Erfahrungen der Interviewteilnehmer/innen durch Donja Amirpur sehr reflektiert. An einigen Stellen entsteht aber gleichwohl der Eindruck, dass subjektive Eindrücke etwas vorschnell als Belege für objektive Wahrheiten genommen werden. Wenn der Medizinische Dienst der Krankenkasse einem Kind mit Down Syndrom keinen ‚Talker‘ bewilligt (S. 194), ist das noch kein wirklicher Beleg für Diskriminierung, sondern evtl. auch Ergebnis einer fachlichen Einschätzung. Zwar ist nicht auszuschließen, dass nicht herkunftsdeutsche Personen bei der Anerkennung von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI benachteiligt werden. Aber wiederum kann die subjektive Schilderung der Ablehnung einer Pflegestufe nicht mit einer strukturellen Diskriminierung gleichgesetzt werden. Audiatur et altera pars! Um zu solchen Bewertungen zu kommen, müssten auch andere beteiligte Perspektiven erhoben werden. Das gleiche methodologische Problem taucht hinsichtlich der empirischen Belege für „linguale Machtstrukturen“ (S. 204) auf; auch hier können die Schilderungen in den Fallgeschichten in mehrere Richtungen gedeutet werden, z.B. sowohl die Wichtigkeit der Mehrsprachigkeit im System als auch die des Spracherwerbs bei lange in Deutschland lebenden Migrant/inn/en unterstreichen. Das heißt nicht, dass es keine migrationsspezifischen Barrieren und rassistisch motivierte Diskriminierung gegenüber Familien mit Migrationsgeschichte und behinderten Kindern gäbe, es stellt sich vielmehr die Frage nach der geeigneten Methode zu ihrer Erforschung.
Fazit
Donja Amirpur hat durch ihr Buch einen fachlichen Beitrag zu Situation und Diskriminierungsrisiken von Familien mit behinderten Angehörigen geleistet, die selbst Migrationserfahrung haben. Am Beispiel von islamischen Familien lautet ihre Kernthese, dass deren geringe Inanspruchnahme von Angeboten der Behindertenhilfe nicht auf kulturelle oder religiöse Eigenheiten von Migrantengruppen zurückzuführen ist, sondern auf Diskriminierungsmechanismen des Hilfesystems, die Ausdruck rassistischer Einstellungen in der Gesellschaft sind. Mit Ergebnissen einer ambitioniert angelegten empirischen Untersuchung möchte sie diese These zu unterstützen. Die Autorin kann aufschlussreiche Fallgeschichten vorstellen, deren Analyse sie aber von ihrer Kernthese etwas wegführt und nicht als Belegführung gelten kann. Das Buch versöhnt dann mit einem gehaltvollen und selbstkritischen Schlussabschnitt, in dem die Ergebnisse auf den theoretischen Eingangsteil bezogen werden.
Rezension von
Prof. Dr. Johannes Schädler
Zentrum für Planung und Evaluation
Sozialer Dienste (ZPE), Uni Siegen
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