Gee Vero: Autismus - (M)eine Andere Wahrnehmung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 09.12.2016

Gee Vero: Autismus - (M)eine Andere Wahrnehmung. FeedARead (Southam) 2014. 210 Seiten. ISBN 978-1-78407-973-4. 18,30 EUR.
Thema
„Autismus – (m)eine andere Wahrnehmung“ ist für diejenigen geschrieben worden, die mit Menschen aus dem autistischen Spektrum leben und arbeiten, die die Begegnung suchen und sich der Herausforderung des Mitmensch-Seins mit autistischen Menschen stellen wollen. Das Buch handelt in erster Linie vom Autismus der Autorin und den ihres 10jahrigen Sohnes und schon an den ausgewählten Beispielen zeigt sich das breite Spektrum des Autismus. Darüber hinaus bekommt man aber auch zahlreiche Erklärungen sowie Infos zu praxiserprobten Lösungsansätzen und Kompensationsstrategien, die auch für andere autistischen Menschen und deren Familien, Angehörigen, Lehrern und Betreuern hilfreich sein können (Klappentext).
Autorin
Gee Vero wurde 1971 in Grimma (ehemalige DDR) geboren. Nach ihrem Studium in Anglistik und Amerikanistik ging sie nach London. Sie hat drei Kinder, von denen das Jüngste, ihr Sohn, auch Autist ist. Ihr eigener Autismus wurde erst im Alter von 39 Jahren diagnostiziert. Seit 2009 arbeitet sie freiberuflich als Referentin für Autismus und hält deutschlandweit Vorträge und Workshops, um mehr Verständnis und Akzeptanz für autistische Menschen zu erreichen.
Gee Vero ist zudem noch Künstlerin und die Initiatorin des Kunstprojektes „The Art of Inclusion“, welches seit 2010 über das Medium Kunst auf die Notwendigkeit von Autismus-Akzeptanz aufmerksam macht. Dabei handelt es sich um eine Werkschau mit 40 Arbeiten, die gemeinsam mit bekannten Persönlichkeiten entstanden ist. Gee Vero lädt diese ein, mit ihr gemeinsam ihre Kunstwerke zu vollenden. Hierfür versendet sie jeweils ein halbes Portrait mit der Bitte, ihre Zeichnung zu ergänzen. Mehr als hundert Prominente haben bisher an diesem ungewöhnlichen Kunstprojekt mitgewirkt, darunter z.B. die Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Musiker Udo Lindenberg, die Schauspieler Sir Ben Kingsley und Manfred Krug, die Schriftsteller Cornelia Funke und Roger Willemsen oder die Entertainer und Komiker Dieter Hallervorden und Jürgen von der Lippe.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst 207 Seiten und gliedert sich in zwölf Kapitel, die sich in zahlreiche Unterkapitel untergliedern. Auf Zwischenüberschriften, Formatierungen oder Hervorhebungen wurde dabei weitestgehend verzichtet, allein Absätze unterbrechen den Fließtext.
- Einleitung
- Blick ins Gehirn
- Mein Alltag ist ein Jenga Turm
- Kompensationsstrategien – allgemein
- Stimming
- Kognitive Fähigkeiten
- Kommunikation
- Körperwahrnehmung
- 9inneswahrnehmung
- Theorie of Mind und Empathie
- Strategien und Hilfen
- Nachwort
Das erste Kapitel Einleitung stellt eine Einführung ins Buch dar und beleuchtet das Thema Autismus aus der Wahrnehmung der Autorin und der ihres Sohnes. Ein Schwerpunkt des Buches bilden die Themen Reize, Sinneswahrnehmung und Verhalten. Die Autorin Gee Vero betont ausdrücklich, dass es ihr in diesem Buch nicht um die Wiedergabe wissenschaftlicher Erkenntnisse geht, sondern darum, ihre eigenen subjektiven Erfahrungen, die sie selber und mit ihrem Sohn gemacht hat, darzustellen. Sie nutzt dafür zahlreiche Beispiele aus ihrem tatsächlichen Erleben, die durch die Darstellungsweise und Alltagsnähe nachvollziehbar und verständlich sind. Die Anregung, ein Buch zu schreiben, bekam sie von den Besuchern ihrer Fortbildungen, die immer wieder nach Texten zu den Vorträgen gefragt haben. Die Kapitel beginnen damit, dass kurz erläutert wird, um was es geht, daran schließen sich dann die persönlichen Erfahrungen der Autorin und die ihres Sohnes an.
Das zweite Kapitel Blick ins Gehirn handelt vom unterbewusstes und bewusstes Denken und Handeln. Die Amygdala spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Sie nimmt Reize auf und es folgt eine Reaktion. Die Amygdala reagiert sowohl auf gefährliche als auch ungefährliche Reize. An vielen Stellen geht es der Autorin vor allem darum darzustellen, wie es gelingen kann, die Reaktionen der Amygdala für sich sinnvoll zu beeinflussen, statt allzu oft den Reaktionsmechanismen Angriff, Flucht oder Erstarrung ausgesetzt zu sein.
Im dritten Kapitel Mein Alltag ist ein Jenga Turm beschreibt Gee Vero eindrücklich, wie fragil ihr Alltag ist, eben wie ein Jenga Turm. Jenga ist ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem zuerst Bauklötze aufeinander gestapelt werden und dann im zweiten Schritt nach und nach wieder herausgezogen werden, sodass die Stabilität immer mehr angegriffen wird. In ihrem Jenga Turm Alltag steht jeder Klotz für einen Stressor, durch den Stress und das entsprechende Verhalten ausgelöst wird. Auch hier kommt der Amygdala eine zentrale Rolle zu, indem sie auswertet, ob Reize gefährlich sind oder nicht. Die Autorin weiß aus eigener Anschauung, dass die Amygdala dabei oft ungefährliche Dinge als gefährlich beurteilt. Ein dann ausgelöstes Reaktionsmuster der Autorin ist die Spracherstarrung (Mutismus). Das Umfeld ist nicht selten verwundert bis dahin, diese Reaktion gar nicht zu verstehen. Deshalb weiß Gee Vero wie wichtig es ist, Information an die Umwelt zu geben, vor allem das es einen Unterschied zwischen nicht zu wollen bzw. nicht zu können gibt, denn auch wenn die Autorin sich anders verhalten wollte, sie kann es in dem Moment nicht.
Im vierten Kapitel Kompensationsstrategien – allgemein schreibt sie über Strategien, die ihr bei der Kompensation geholfen haben. In der Kindergartenzeit entdeckt sie durch Zufall, dass stramm gewickelt Verbände an den Fesseln die Körperwahrnehmung in den Füßen und auch die Körperhaltung verbessert hat oder ein Gummiring bzw. eine stramme basecap dazu beiträgt, den Kopf zu spüren. Eine weitere Strategie war nicht aufzufallen, weder positiv noch negativ. „Ich wolle einfach nur passen und unsichtbar bleiben.“ (S. 67). Diese Strategie war dann besonders erfolgreich, wenn sie weder gelobt noch getadelt wurde.
Das fünfte Kapitel handelt vom sog. Stimming, ein Phänomen, welches in der Medizin als Stereotypien bezeichnet wird, oft mit einer negativen Konnotierung. Vero stellt eine andere Sicht dazu vor. Der Begriff Stimming wurde von dem Begriff „self-stimulating“, sich selber reizen abgeleitet. Stimming Strategien dienen der Ablenkung und der Entlastung. Solche Strategien kennt jeder. Manche klicken mit dem Kugelschreiber oder drehen an den Haaren, andere wippen mit dem Fuß oder kritzeln auf Papier. Es gibt sozial anerkannte und nicht anerkannte Stimmings, sichtbare und unsichtbare. Außenstehenden, die diese Art der Strategie nicht erkennen, mögen die Handlungen sinnlos erscheinen. Vero wendet in stressigen Situationen ein kognitives Stimming an, welches von außen gar nicht sichtbar ist wie Schaltjahre zählen oder Zahlenreihen aufsagen, um den Stresspegel zu reduzieren. Durch die Beschäftigung und Konzentration auf einen bekannten Reiz entsteht die Möglichkeit zur Regulation und der Stresslevel wird auf einem Niveau gehalten, auf dem es möglich ist, in der Situation z.B. bei eigenen Vorträgen zu verbleiben. Mit diesem Verhalten reduziert sie die Reizaufnahme und verhindert eine sensorische Überlastung, eine Überflutungsreaktion, die auch als „Overload“ bekannt ist. Sie gibt an dieser Stelle einen sehr wichtigen Hinweis: Stimming sollte auch wenn es noch so inadäquat aussieht nicht unterbrochen werden, denn diese Strategie ist für Autisten „überlebenswichtig“ (S. 73)!
Um die kognitiven Fähigkeiten geht es im sechsten Kapitel. Mittels Kognition gelingt es, eine Menge von Möglichkeiten und Strategien zu finden, um Fähigkeiten dahingehend zu verbessern, dass man den Anforderungen der Umgebung besser entsprechen kann. Mit kognitiven Fähigkeiten ist es möglich, effektiv zu kompensieren, sodass Defizite keine oder nur noch ein sehr geringe Bedeutung haben. Durch Kompensationsstrategien kann ein autistischer Mensch in der Gesellschaft besser bestehen. Zu den Kognitionen gehören die Wahrnehmung, das Erinnern, die Kreativität, das Lernen und auch die Emotionen. In der Schulzeit wurde Gee Vero oft frustriert, weil ihre Art Lösungen zu finden als unrichtig oder abgeschrieben eingeordnet wurde. In diesen Situationen hätte sie sich eine Neugierde und Offenheit für andere Wege gewünscht, ein Wunsch, der sich nicht nur auf das Schulwesen anwenden lässt, sondern an vielen Stellen hilfreich wäre.
Das siebte Kapitel befasst sich mit dem Thema Kommunikation in Hinblick auf die verbale und nonverbale Ausdrucksfähigkeit sowie dem Verstehen von Sprache. Die Autorin verfügt über verbale Sprache und erlebt dennoch nicht selten Missverständnisse. Ihr Sohn ist nonverbal und sie schreibt sehr eindrücklich darüber, wie viele verschiedene Zugänge man ausprobieren muss, um kommunikative Zugänge zu ihm zu suchen. Dabei wird auch deutlich, wie unterschiedlich diese Wege sein müssen und das man bei vermeintlichen Rückschlägen nicht aufgeben sollte, da Menschen soziale Wesen sind und den Wunsch haben, zu kommunizieren, auch wenn es aus einer Außenperspektive anders erscheint.
Vom Thema Körperwahrnehmung handelt das achte Kapitel. Wiederum wird allgemein ins Thema eingeführt, um dann zu der Beschreibung eigener Erfahrungen zu kommen. Zum Beispiel hat Gee Vero die Erfahrung gemacht, dass sie besser auf einem Stuhl mit Lehne als auf einem Hocker sitzt, weil die Lehne ihr ein notwendiges Feedback über ihren Körper gibt, ohne dass sie das Gleichgewicht verliert. Sie berichtet dabei auch von ihrem anderen Körperbewusstsein, denn sie erkennt nicht automatisch, welche Körperteile zu ihr gehören und welche nicht. Als Kind war ihr das nicht bewusst und sie sich zahlreiche blaue Flecken zugezogen. Heute – mit diesem Wissen – hat sie Strategien entwickelt, mit deren Hilfe sie sich besser spüren kann. Und gleichzeitig sind manche Strategien wie z.B. eine Sanddecke auf Dauer keine Lösung, denn eine Sanddecke, die ihr und ihrem Sohn hilft, besser einzuschlafen, liefert gleichzeitig zu viele Informationen und ist dadurch wiederum anstrengend und wenig kompensierend. Das Beispiel macht sehr anschaulich deutlich, dass sie permanent darauf angewiesen ist, ihre Kompensationsstrategien an die Situation, die Befindlichkeit und Tagesform anzupassen. An diesem Beispiel wird noch etwas deutlich: Ein Mensch, der sprechen kann, ist in der Lage seiner Umwelt diese wichtige Information mitzuteilen (wenn sie ihm bewusst ist), ein Mensch, wie ihr Sohn, der nonverbal ist, braucht ein sensibles offenes Umfeld, das seine Bedürfnisse und Erfordernisse „lesen“ kann, damit er eine individuell passende Unterstützung bekommt, die er in diesem Moment, in dieser Situation braucht.
Die Sinne liefern wichtige Informationen, die unser Handeln steuern. Sie werden im neunten Kapitel Sinneswahrnehmung genauer betrachtet: die taktile Wahrnehmung, die visuelle Wahrnehmung, die auditive Wahrnehmung, die olfaktorische Wahrnehmung, die gustatorische Wahrnehmung. Auch hier findet die Leserschaft zahlreiche Beispiele.
Das zehnte Kapitel handelt von der sog. Theorie of Mind, die nicht angeboren ist, sondern erlernt. Gee Vero wusste lange nicht, dass ihr das Verständnis für andere fehlt. Heute weiß sie, warum Menschen sich von ihr aus Enttäuschung zurückgezogen haben, aber sie weiß auch, dass man die Vergangenheit nicht verändern kann. Sie glaubt, dass sie ohne das Wissen um die Theorie of Mind unbeschwerter durchs Leben gegangen sei. Den Mythos, dass Menschen mit Autismus keine Gefühle empfinden könnten, verurteilt ihn aufs Schärfste. In Wirklichkeit ist es so, dass Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, zu viel Empathie haben und dadurch gezwungen werden, sich zurückzuziehen. Sie selber erlebt neben den eigenen Gefühlen häufig Gefühle anderer Menschen, das ist sehr anstrengend. Sie unterscheidet dabei drei Konzepte: die Selbst-Wahrnehmung, die Andere Wahrnehmung und die Fremdwahrnehmung. Diese treffen aufeinander und beeinflussen sich gegenseitig, was nicht selten in einem Zuviel mündet, das kompensiert werden muss zum Beispiel, indem man sich so verhält, als setzte man eine Maske auf, um sich zu schützen. Das Kapitel endet mit der Wahrnehmung der Zeit und den Folgen einer Anderswahrnehmung.
Im 11.Kapitel Strategien und Hilfen stellt die Autorin verschiedene Strategien und Hilfen vor wie das Stimming, die sog. „so-muss-es-sein-Geschichten“, das Spiegeln, den stützenden Umgang mit Strukturen und Regeln sowie Strategien, mit deren Hilfe es gelingt, die Amygdala zu stoppen bzw. um zu trainieren. Im A-Z Verzeichnis am Ende des Buches sind weitere Strategien zusammengefasst. Dort findet man Strategien von B wie Buddy-System über Q für das Querdenken bis hin zu X für Experten in eigener Sache. Ziel ist, der Leserschaft einen Werkzeugkoffer zu packen, aus dem sie sich das nehmen kann, was sie gebrauchen kann bzw. ausprobieren kann, was bei der Autorin funktioniert.
Der zentrale Satz des Nachworts, der als Überschrift des Buches dienen könnte, lautet: „Nehmen Sie autistische Menschen so an, wie sie sind. Inklusion gibt es zum Nulltarif, denn Verständnis, Toleranz und Akzeptanz kosten kein Geld“ (S.208).
Diskussion
Es hat eine interessante Entwicklung gegeben. Vor ca. zehn Jahren standen nur wenige Bücher mit Informationen aus der Perspektive von Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, zur Verfügung. Heute findet man eine Vielzahl von Veröffentlichungen. Das Wertvolle an diesen autobiografischen Büchern ist, dass sie eine Perspektive aus der Innensicht bieten, die für das Gesamtverständnis der Thematik eine große Rolle spielt und eindringlich deutlich machen, dass jedes Verhalten einen Sinn hat, auch und gerade dann, wenn es aus der Außenperspektive befremdlich wirkt. An dieser Stelle möchte ich auf das Forschungsprojekt der Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung der Freien Universität Berlin hinweisen, in der ein gemischtes Team von autistischen Menschen und Wissenschaftlern gemeinsam forscht und somit einen Beitrag darstellt, wie aus der Außen- und Innensicht eine neue Perspektive entsteht www.autismus-forschungs-kooperation.de/. Bücher wie das hier vorgelegte von Gee Vero tragen dazu bei, dass das, was das Leben unter den Bedingungen von Autismus ausmacht, sich eben nicht als pathologischen Mangel darstellt, sondern als Variante des Menschseins.
Das Buch liefert zahlreiche Hintergrundinformationen über das Leben und Erleben von Gee Vero und ihrem Sohn. Ein interessanter Aspekt in diesem Buch ist, dass die Autorin dabei immer wieder aus verschiedenen Perspektiven schreibt zum Beispiel aus ihrer eigenen Perspektive, als erwachsene Frau mit Autismus, die mitten im Leben steht und als Künstlerin und Referentin von Bildungskursen arbeitet und parallel aus der Perspektive einer Mutter von drei Kindern, von denen der jüngste Sohn Autist ist. Damit eröffnet sich eine weitere Perspektive, die eines 10 jährigen Kindes, das -wie sie selber sagt- viel stärker betroffen ist als sie selber. Diese Vielzahl von Perspektiven unterstreicht deutlich, was damit gemeint ist, wenn man vom Autismus Spektrum spricht: es gibt nicht den Autismus, sondern eine breite Vielfalt an Erscheinungsbildern und Ausprägungen.
Diese vielschichtigen Betrachtungsweisen, die die Autorin in diesem Buch zusammenbringt, machen das Buch zu einem außergewöhnlichen Buch. Die Autorin hat dabei nicht den Anspruch wissenschaftlich belegte Erklärungen zu geben, ihr geht es darum, nachvollziehbare und verständliche Beispiele aus dem eigenen Erleben zu veröffentlichen. Den Wert des Buches machen die gezeigten Möglichkeiten, die vielen Beispiele aus der eigenen Erfahrung, die Anregungen und die Hilfen im Umgang mit autistischen Menschen aus. Dabei gelingt es der Autorin, die Logik, die hinter dem Verhalten steht, nachvollziehbar zu beschreiben, eine Grundlage zum Verstehen. Die weit verbreitete Meinung, dass Menschen mit Autismus krank sind (und Heilung brauchen) bzw. das ihnen etwas fehlt, was die Norm hat, wird mit diesem Buch auf die Probe gestellt, denn beim Lesen trifft einen die Erkenntnis, dass es jedem so ergehen würde, der unter diesem Bedingungen leben würde. Autismus ist eben keine pathologische Normabweichung, sondern eine Normvariante des Menschseins, so wie jeder Mensch eine Variante ist.
Dank der lebensnahen Darstellung von Gee Vero kann man sich sehr gut vorstellen, wie es einem ergehen würde, wenn die Funktion der Reizfilterung nicht vorhanden wäre, sodass alle Reize ungefiltert einströmen oder wie es ist, wenn statt auf Intuition auf bewusstes Nachdenken zurückgegriffen werden muss. Alle diese Beschreibungen zeigen, dass durch diese Variante der Wahrnehmung der Energiespeicher derart angegriffen wird, sodass dann für andere Tätigkeiten Energie fehlt. Menschen reagieren bei einem Zuviel an Anforderungen mit Stress. Gee Vero stellt einige bewährte Kompensationsstrategien zum Abbau von Stress vor. Sie wackelt mit den Zehen oder klickt mit einem Kugelschreiber. Dieses Verhalten ist nicht sinnlos, sondern zur Kompensation von Stress äußerst sinnvoll. Mit diesem Beispielen macht sie einen universellen Grundsatz deutlich: kein Mensch reagiert unsinnig, jedes Verhalten hat einen Sinn. Akzeptanz und Offenheit eröffnen Zugänge zum Gegenüber, bieten die Chance zu erfahren, was das Gegenüber ausdrücken möchte. Verstehen gelingt, in dem man sich auf diesen Sinn einlässt und erforscht, wozu dieses Verhalten gebraucht wird. Wenn das gelingt fällt es schwer, von negativ konnotierten unsinnigen Stereotypien zu sprechen.
Bemerkenswert sind auch die Ausführungen zur Kommunikation. Das was die Autorin in Hinblick auf ihren Sohn beschreibt ist mir aus meinem pädagogischen Arbeitskontext nicht unbekannt. Dort erlebe ich immer wieder, dass Menschen blockieren, wenn sie die Erwartungshaltung des Außen spüren. Hier liegt für alle Beteiligten eine schwierige Situation vor. Einerseits sind Menschen darauf angewiesen, dass das Umfeld Erwartungen formuliert wie z.B. „jeder Mensch ist bildbar“ und damit dokumentieren, dass darauf vertraut wird, dass es etwas gibt, auf das es sich zu warten lohnt und anderseits erzeugt eine Erwartungshaltung bei der lernenden Person eine „Selbstkonfrontation“ (S.85), die ausgehalten werden muss, so wie es auch bei dem Sohn der Autorin der Fall ist. Ich stimme der Autorin zu: Es lohnt sich, dieses Spannungsfeld auszuhalten, dran zu bleiben und nicht aufgeben. Leider kenne ich auch eine andere Reaktion, die ins andere Extrem geht, da man glaubt, dass man „nichts“ mehr zu erwarten hat, weil im Moment und von außen kein Lernfortschritt zu erkennen ist. Dann werden die Angebote wohl meinend zurückgenommen und man bemerkt nicht, dass man mit dieser Reaktion Wege zu Entwicklung und Lernen verschließt.
Die Beschreibungen im Buch machen auch sehr gut deutlich, wie wichtig eine vertrauende offene Grundhaltung ist, aus der Vertrauen und Energie geschöpft wird, eben nicht auszugeben, sondern andere Wege zu versuchen und das nicht nur einmal. Auch ich könnte an dieser Stelle aus meinem beruflichen Kontext Beispiele beisteuern, was möglich ist, wenn man realistisch wohlwollend ohne Erwartungsdruck (und ohne offen gezeigte Enttäuschung) darauf vertraut, dass es Potentiale gibt. Es ist die Aufgabe von Pädagogen, dran zu bleiben, verschiedene Wege zu probieren und nicht enttäuscht zu sein, wenn es mal nicht geklappt hat. Diese Erfahrung sollte Ansporn sein, weiter zu machen, statt aufzugeben. Ohne selbstkritische Reaktion des eigenen Verhaltens wird diese Enttäuschung in der Folge leider oft auf die Person projiziert und zu deren Problem gemacht. Hier wird Verantwortung abgegeben, statt genauer hinzuschauen, was möglich ist.
Das Buch macht in vielerlei Hinsicht Mut und regt an, sich einzulassen auf die andere Wahrnehmung. Es bestärkt darin, nicht aufzugeben, auch wenn das Verhalten von außen betrachtet befremdlich erscheint. Der erste Schritt ist sein Gegenüber, in diesem Fall autistische Menschen, so anzunehmen, wie sie sind. Inklusion gibt es zum Nulltarif und auch Verständnis, Toleranz und Akzeptanz sind kostenlos.
Fazit
Ein bemerkenswertes Buch, in das man sich erst einmal einlesen muss, aber es lohnt sich! Es ist wie eine Reise in eine andere Kultur. Geholfen hat mir, hin und her zu blättern und an verschiedenen Stellen quer zu lesen. Dabei sind mir die zahlreichen Beispiele aufgefallen, in denen die Autorin ihre Wahrnehmung beschreibt z.B. dass sie nicht auf einem Hocker sitzen kann, ohne das Gleichgewicht zu verlieren oder wie sie herausgefunden hat, dass sie sich mehr spüren muss. Diese Beispiele haben mich sehr nachdenklich gemacht und zum Weiterlesen angeregt.
Die Autorin hat einen großen Bogen gespannt und zahlreiche Themen aufgerufen, um zu zeigen, wie komplex das Thema ist. Sie macht damit sehr deutlich, wie wichtig es ist, genau hinzuschauen und sich aus der eigenen Außensicht auf das Innen(er)leben von Menschen mit Autismus einzulassen. An der einen oder anderen Stelle hätte ich mir gewünscht mehr zu erfahren, denn es sind viele Fragen offen geblieben, die es wert sind, vertieft zu werden. Es gelingt Gee Vero komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen und diese aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Zwischen ihr als Mutter und ihrem Sohn gibt es große Unterschiede. Durch die zahlreichen Beispiele aus dem Alltag gibt sie der Leserschaft Gelegenheit, zu erkennen, Autismus ist ein Spektrum, es gibt nicht den Autismus! Das Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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