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Rolf Aurich: Kalanag, die kontrollierten Illusionen des Helmut Schreiber

Rezensiert von Prof. Dr. jur. Susanne Benöhr-Laqueur, 14.10.2016

Cover Rolf Aurich: Kalanag, die kontrollierten Illusionen des Helmut Schreiber ISBN 978-3-95732-152-7

Rolf Aurich: Kalanag, die kontrollierten Illusionen des Helmut Schreiber. Verbrecher Verlag (Berlin) 2016. 179 Seiten. ISBN 978-3-95732-152-7. D: 14,00 EUR, A: 14,40 EUR.

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Thema

Die Elite des NS-Staates umgab sich gerne mit dem Zauberkünstler Kalanag. Mit bürgerlichem Namen hieß Kalanag Helmut Schreiber und war 1903 in Stuttgart geboren worden. Er verstand es gekonnt zu unterhalten, hatte sehr gute Manieren, sprach perfekt englisch und war zudem hochintelligent. Kalanag war spätestens ab Mitte der Zwanziger Jahre ein Mann, der den Zeitgeist intuitiv erfasste. Im Berlin der „Wilden Zwanziger“ machte er schnell Karriere in der aufblühenden Filmindustrie. Zeitgleich wurde er Chefredakteur der MAGIE, der Zeitschrift des „Magischen Zirkels“, einer Vereinigung von Zauberkünstlern. Binnen kürzester Zeit war Kalanag bestens in den Künstler- und Filmkreisen der pulsierenden Hauptstadt vernetzt.

Nach 1933 unterhielt er die Haute-Volée des NS-Staates mit seinen Zauberkunststücken. Darüber hinaus gefiel Goebbels seine Filmarbeit. Binnen kürzester Zeit wurde Kalanag zunächst Direktor der TOBIS und danach der Bavaria Film in München. Kalanag gelang es, den „Magischen Zirkel“, der in der Weimarer Republik lediglich ein „e.V.“ war, 1936 in die „Reichsfachschaft Artistik“ in der Reichskulturkammer zu überführen. Fortan entschied alleine Kalanag – nunmehr Leiter der „Reichsfachschaft Artistik“ – wer im Deutschen Reich zaubern durfte. Jüdischen Zauberern wurde dies sofort verwehrt. Dies hatte zur Folge, dass ca. 900 der ehemals 1359 Zauberer nicht mehr auftreten durften.

Kalanag, stets bestens informiert, becircte bei Kriegsende zunächst die Amerikaner als zaubernder Dolmetscher. Als er den staunenden GI´s zudem einen Teil des Nazi-Goldschatzes präsentierte, sicherte ihm dies einen „Freifahrtschein“ in alle Besatzungszonen. Als den Amerikanern bewusst wurde, wem sie vertrauten, hatte Kalanag sich bereits nach Hamburg „abgesetzt“. Der Haftbefehl gegen ihn konnte nicht mehr vollstreckt werden. In Hamburg gelang Kalanag sofort der Neuanfang. Er wurde entnazifiziert und eröffnete 1947 mit dem Wohlwollen der britischen Besatzungsmacht ein Varieté. Alsbald folgten spektakuläre Zaubershows auf allen vier Kontinenten verbunden mit lukrativen Werbeverträgen. Als Ende der 1950´er Jahre sein Stern am Varietéhimmel sank, entdeckte Kalanag das Fernsehen für sich. Das ZDF hatte ihn bereits als Unterhaltungschef auserkoren, als das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum „Kanzler-Fernsehen“ das Projekt zunichte machte. Kalanag starb am Heiligabend 1963. In den folgenden Jahrzehnten avancierte er zum unangefochtenen Doyen der Zauberkunst.

Der „Magische Zirkel“ hat sich nur zögernd seiner nationalsozialistischen Vergangenheit gestellt. Dabei ist die Frage, ob Kalanag ein Opportunist oder ein Nationalsozialist war keineswegs nur von akademischem Interesse. Kalanag ist eine internationale Zaubergröße. Der „Kalanag Ring“ gilt unter Zauberkünstlern als eine der höchsten weltweiten Auszeichnungen. Ihn tragen z.B. Siegfried & Roy. Es ist daher mehr als nur eine Geschmacksfrage, ob diese Auszeichnung gegebenenfalls nach einem überzeugten Nationalsozialisten benannt ist.

Autor

Rolf Aurich arbeitet als Lektor, Redakteur und Autor am Museum für Film und Fernsehen in Berlin. Er ist Verfasser diverser Biographien und Monographien im Bereich Filmwissenschaft.

Entstehungshintergrund

Kalanags Rolle während der NS-Zeit, nach der Kapitulation sowie in den 1950´er Jahre ist in wissenschaftlicher Sicht weitestgehend unerforscht. Dies umfasst sowohl seine Tätigkeit als Filmschaffender wie auch als Zauberkünstler. In den Memoiren von Helmut Schreiber: „Kalanag. Der Magier erzählt sein Leben“1 finden sich keine befriedigenden Antworten. Geschickt jongliert er mit Fakten und Tatsachen. Diese halten einer seriösen Nachprüfung nicht stand. In dem Buch von Val Andrews: „Seven Keys of Kalanag. The story of the Nazi´s Favourite Magician“2 werden zwar medienwirksame aber letztlich unhaltbare Fakten kolportiert. Hingegen näherte sich Richard Hatch in seinem Artikel „Kalanag und die verschwundenen Banknoten“3 der Problematik auf wissenschaftliche Weise. Positiv hervorzuheben ist auch der Artikel von Bettina Albrod „Der Zauberer des Führers“4 und das SWR2-Feature von Paul Kohl „Simsalabim, da bin ich wieder“5.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist unterteilt in sechs Kapitel. Eine Auswahlbiographie, eine Filmographie sowie ein Dankeswort folgen im Anhang. Der Autor verzichtet auf eine numerische bzw. alphabetische Gliederung des Werkes. Statt dessen finden sich Überschriften, die auf den jeweiligen Kapitelinhalt verweisen.

1. Im ersten Abschnitt „Immer sicher!“ (7-26) wird Kalanags Lebensweg vorgestellt. Die Überschrift „Immer sicher!“ nimmt Bezug auf Kalanags Fähigkeit, sich den verschiedenen Anforderungen und Lebenssituationen mit schlafwandlerischer Sicherheit anzupassen.

2. In der zweiten Passage „Magisches Zelluloid“ ( 27-48) beschreibt der Autor Kalanags Umgang und Wirken als Filmschaffender während der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus. Kalanag hatte als Produktionsleiter frühzeitig die „Macht der Bilder“ erkannt. Dazu gehörte auch deren geschickte Manipulation. Als Beispiel dient der 1936 im Artisten- und Künstlermilieus spielenden Filmes „Truxa“ (39 f).

3. Das Kapitel „Frühe Freundschaft“ (49-64) beinhaltet erneut Kalanags Biographie – nunmehr jedoch wird die Beziehung zu seinem langjährigen Freund und Geschäftspartner Max Heilbronner untersucht. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, musste er sich zunächst seines alten Weggefährten Max Heilbronner – der als Jude vor den antisemitischen Ausschreitungen nach Paris geflohen war – dezent entledigen. Mit ihm hatte Kalanag zuvor jahrelang ein buntes Junggesellenleben in Berlin geführt (64).

4.Im Abschnitt „Späte Klarheit“ ( 65-98) wird wiederum das Verhältnis zu Max Heilbronner beschrieben. Die beiden Männer waren Inhaber der Firma „Heilbronner & Schreiber Filme“ (71). Als Max Heilbronner sich im Sommer 1933 hilfesuchend an Kalanag wandte und um die Auszahlung seiner Firmenanteile bat, stieß er bei diesem auf Ablehnung. Der Streitfall wurde erst nach dem Krieg außergerichtlich geklärt (75 f). Darüber hinaus untersucht der Autor Kalanags „Entnazifizierung“ in Hamburg (80 f). Der Focus liegt dezidiert auf dem Aspekt des Antisemitismus. In diesem Zusammenhang vertritt der Autor die These, dass Kalanag den nationalsozialistischen Antisemitismus aktiv mitgetragen habe (91). Als Beweis dient ihm der antisemitische Propagandafilm „Robert und Bertram“ aus dem Jahre 1939 (95). Kalanag hatte an dem Film als Produktionsleiter mitgewirkt.

5. In der Passage „Illusion als Handwerk“ ( 99-118) greift Rolf Aurich zunächst auf die Episode „Der große Santini“ aus der Krimireihe „Inspektor Columbo“ zurück. Sodann vergleicht er das filmische „Trickgeschehen“ in der „Columbo-Serie“ mit derjenigen des Filmes „Truxa“ (101). Dabei gelangt er zu der Einschätzung, dass die Darstellung der Zauberkunst im Film „Truxa“ ein Abbild der politischen Gegebenheiten sei (101). Während Kalanag im Film „Truxa“ dem Publikum eine Erklärung seiner „Tricks“ vorenthalte, entlarve Columbo in einem finalen Plott die List und präsentiert sie dem staunenden Publikum. Für Rolf Aurich „manifestiert sich darin nebenbei der Unterschied zwischen einer verschlossenen Diktatur mit dem Verbot der Unterhaltungserklärung und einer offenen Demokratie, die einen anderen Anspruch verfolgt, mithin der Unterschied zwischen Autoritätsdenken und Aufklärung“. (101).

6. Im letzten Kapitel „Totale Unterhaltung“ ( 119-156) wird Kalangs Rolle im NS-Machtgefüge untersucht. Dazu zählen zum einen seine Auftritte als Zauberkünstler vor Hitler auf dem Berghof (132) und zum anderen seine Tätigkeit als Produktionschef der Bavaria (125). Es folgt ein kurzes Resumée, indem Kalanag als ein erfolgreicher Mann des „NS-Unterhaltsmetiers“ (153) charakterisiert wird, der nach dem Krieg die vorhandenen Verbindungen geschickt zu nutzen verstand, um erfolgreich zu sein.

Die Intention von Rolf Aurich wird bereits bei der Wahl des Buchtitels deutlich. „Kalanag. Die kontrollierten Illusionen des Helmut Schreiber“ beinhaltet drei Komponenten.

  1. Als Zauberkünstler verstand Kalanag es, das Publikum mit seinen Illusionen manipulierend zu führen.
  2. Als Leiter der NS-Fachschaft Artistik, oblag ihm die Kontrolle über alle Zauberkünstler. Sowohl „Trickverrat“ war bei Strafe verboten, als auch die Beschäftigung von Juden.
  3. Diese beiden Komponenten wiederum ließen sich perfekt gewinnbringend für die „NS-Filmindustrie“ nutzen. Nunmehr kontrollierte und erzeugte nur eine Person in diesem Metier die Sinnestäuschungen bzw. Trugbilder, nämlich Kalanag.

Angesichts dessen war sein globaler Erfolg in der Nachkriegszeit auch kein Neustart – Kalanag führte lediglich fort, was er seit 1921 erfolgreich getan hatte (155).

Diskussion

Rolf Aurichs Werk lässt sich keiner Kategorie zuordnen. Einen wissenschaftlichen Diskurs hat der Autor nicht verfasst, obwohl er historisches Aktenmaterial u.a. aus dem Berliner Document Center heranzog. Hingegen ist das Werk für eine belletristische Abhandlung wiederum zu dezidiert. Am ehesten kann man es wohl als ein Essay bezeichnen.

Der Autor widmet sich dem „Phänomen Kalanag“ mit sehr viel persönlichem Engagement. Dies wird bereits im Aufbau deutlich. In jedem Kapitel – und sei es auch nur in einem Nebensatz – wird das Verhältnis von Kalanag zu seinem Freund und Geschäftspartner Max Heilbronner diskutiert (17, 19, 47, 55, 57, 65, 67, 69, 89, 102, 154). In der Tat, ist nie ganz geklärt worden, „was“ und „wie“ Kalanag über Juden dachte. Fakt ist, Heilbronner und Kalanag teilten sich in Berlin eine Junggesellenwohnung und arbeiteten gerne als „Duo“ in Filmprojekten. Tatsache ist aber auch, dass in der Weimarer Republik jüdische Zauberkünstler sehr erfolgreich waren und für so machen eine unliebsame Konkurrenz darstellten. Dergleichen galt für die Filmindustrie. Kalanag hatte 1933 die Zeichen der Zeit – und damit seine berufliche Chance – schnell erkannt. Aber er taktierte vorsichtig. So finden sich in der Zeitschrift MAGIE keine explizit antisemitischen Artikel. Vielmehr produzierte Kalanag substanzlose und völlig absurde Worthülsen, wenn er im März 1934 behauptete, im „Magischen Zirkel“ habe man im Sinne der „Totalität des Reiches“ weder in der Ämterbesetzung noch in Zusammensetzung der Mitgliedschaft erhebliche Änderungen vornehmen müssen: „Sie entsprachen früher bereits fast allgemein den Anforderungen des heutigen Staates.“6 Diese Behauptung ist unsinnig. Die Mehrheit der Zauberkünstler im „Magischen Zirkel“ waren zu diesem Zeitpunkt Juden bzw. jüdischer Abstammung! Zudem nahm der „Magische Zirkel“ noch bis Ende 1935 Zauberkünstler jüdischer Abstammung auf und berichtete z.B. in der Zeitschrift MAGIE darüber, in welch „liebenswürdiger Weise“7 Herr Katzenstein seine Privatwohnung zur Verfügung gestellt habe.8

In der Tat kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Kalanag bis zur Überführung des „Magischen Zirkels“ in die Reichskulturkammer im Sommer 1936 die „NS-Machthaber“ seinerseits geschickt kontrollierte und in seinem Sinne manipulierte. Dazu gehörte es auch, gesetzliche Strafandrohungen für „Trickverrat“ einzuführen. Rolf Aurich folgert daraus, dass sich in diesem Vorgehen auch die „verschlossene Diktatur“ offenbare (101). Diese Schlussfolgerung ist übertrieben. „Erklärungen“ sind von jeher in Zauberkreisen verpönt. Es beraubt den Erfinder seines geistigen Eigentums bzw. seiner Urheberrechte und damit entsprechender Verdienstmöglichkeiten auf möglichst vielen Veranstaltungen.

Fazit

Rolf Aurichs Werk gibt den Anstoß, eine Forschungslücke zu schließen. Dabei erweist sich die Person „Helmut Schreiber“ alias „Kalanag“ nicht nur als eine überaus interessante Person der Zeitgeschichte, sondern vielmehr sind die Netzwerke – in denen er sich über Jahrzehnte mühelos bewegte – in jedem Falle auch eine nähere Betrachtung wert. Rolf Aurichs kleines Buch9 ist eine außerordentlich gelungene Einstiegslektüre in Sachen „Kalanag“.

1 Kalanag: Kalanag. Der Magier erzählt sein Leben, Hamburg 1962.

2 Val Andrews: Seven Keys of Kalanag. The story of the Nazi´s Favourite Magician, Southchurch (UK), 1987.

3 Richard Htach: Kalanag und die verschwindenden Banknoten, in: Magische Welt, 48. Jahrgang, 1999, Heft 1, S. 44 – 51.

4 Bettina Albrod: Der Zauberer des Führers, in: Die Welt, 15.11.2008, www.welt.de (Zugriff am 6.10.2016).

5 Paul Kohl: Simsalabim da bin ich wieder. Kalanag ein Zauberer aus Deutschland, Feature SWR 2, Sendung vom 23.10.2011, www.swr.de/swr2 (Zugriff am 6.10.2016)

6 Mitteilung des Hauptvorstandes, „Magie“, Heft 3, März 1934, S. 39.

7 Ortsgruppen-Berichte, „Magie“, Heft 1, Januar 1935, S. 17.

8 AaO.

9 Das Buch hat das Format 11,5 x 17 cm.

Rezension von
Prof. Dr. jur. Susanne Benöhr-Laqueur
Ass. jur., Hochschullehrerin, Professorin für Staatsrecht und Eingriffsrecht an der HSPV NRW (Stand-ort Münster)
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Es gibt 6 Rezensionen von Susanne Benöhr-Laqueur.

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Zitiervorschlag
Susanne Benöhr-Laqueur. Rezension vom 14.10.2016 zu: Rolf Aurich: Kalanag, die kontrollierten Illusionen des Helmut Schreiber. Verbrecher Verlag (Berlin) 2016. ISBN 978-3-95732-152-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21095.php, Datum des Zugriffs 31.03.2023.


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