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Georg Cremer: Armut in Deutschland

Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 18.10.2016

Cover Georg Cremer: Armut in Deutschland ISBN 978-3-406-69922-1

Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? Verlag C.H. Beck (München) 2016. 224 Seiten. ISBN 978-3-406-69922-1. 16,95 EUR.

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Thema

Die Armut im Lande ist Gegenstand der periodischen Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung sowie der zahlreicher Debatten, die sich daran oder an weniger seriös aufbereitete Trendmeldungen anschließen. Diese Debatten sind häufig von einem Alarmismus gekennzeichnet, der mit der Alltagserfahrung nicht gut in Übereinstimmung zu bringen ist. Daran beteiligen sich Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände und halten der Politik Versagen vor. Besonders der Paritätische Wohlfahrtsverband lässt hier immer wieder von sich hören und kann hier auch eine besondere Zuständigkeit beanspruchen, da er der große Promotor der Armutsberichterstattung im Lande war und ist. Er hat den ersten Armutsbericht 1989 vorgelegt, nachdem es in den Kohl-Jahren nicht möglich war, die Armutsberichterstattung zu einer öffentlichen Aufgabe zu machen. Das blieb der nachfolgenden rot-grünen Bundesregierung vorbehalten. Auch heute ist der PWV für die Berichterstattung engagiert und hat zuletzt einen Regionalatlas erarbeiten lassen, mit dem ein örtlich differenziertes Bild der Armut gezeichnet wird.

Es mag der Dynamik der Mediengesellschaft geschuldet sein, dass bei der öffentlichen Thematisierung der Armutsberichte von engagierter Seite ein allzu düsteres Bild gezeichnet wird. Mit dem vorliegenden Buch nimmt Georg Cremer, der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, eine Art Selbstkritik der Wohlfahrtsverbände vor und versucht ein realistisches Bild der Armut in Deutschland und der Optionen, ihr zu begegnen, zu zeichnen.

Aufbau und Inhalt

In den ersten Kapiteln führt Cremer in die Begriffswelt der Armut ein. Es wird gezeigt, dass ein relativer Armutsbegriff, der die Armut als Abweichung vom Durchschnittseinkommen bestimmt, nicht ausreichend ist. Es bedarf, Amartya Sen folgend, einer Vorstellung von einem in einer Gesellschaft akzeptablen Minimum an Ressourcen zur Lebensfristung (p. 17). Armut ist nicht identisch mit Ungleichheit. Die in Deutschland und der EU vereinbarte Berechnung der Armutsrisikoschwelle bei 60% des mittleren (Median) Haushaltseinkommens wird ausführlich erklärt, ebenso wie und warum dabei die Haushaltsmitglieder einbezogen werden. Es werden die Unterschiede gezeigt, die sich aus der Nutzung verschiedener Datengrundlagen ergeben (SOEP, EVS, EU-SILC – p. 23).

Nach diesen grundsätzlichen Klärungen geht Cremer auf die Lage der Armen im Land ein. Der geläufigen Interpretation einer zunehmenden Ungleichheit, die auf 2005, dem Jahr der Einführung der Hartz-Gesetze, zurückgeführt wird, stellt er eine historische Entwicklung entgegen, bei der die Erhöhung der Ungleichheit und Zunahme von Armutsrisiken bereits auf die 90-er Jahre zurückgeht. Cremer sieht hier die Öffnung Osteuropas und die Wiedervereinigung als entscheidende Faktoren (p. 33), seit 2005 habe sich die Situation entgegen der öffentlichen Meinung stabilisiert.

Dennoch gibt es große Anteile der Bevölkerung, die im Armutsrisiko leben, die Hauptgruppen sind Arbeitslose und Alleinerziehende mit Kindern. Bei letzteren wird ein ungenügender Familienlastenausgleich für die Situation dieser Gruppe verantwortlich gemacht. Der häufig anzutreffenden Einschätzung, dass auch Migranten eine Risikogruppe darstellen, widerspricht der Autor. Nicht der Migrationshintergrund an sich, sondern die Faktoren Arbeitslosigkeit und ein niedriger Bildungsstand bedingen bei diesen das Armutsrisiko (p. 37). Auch das angebliche Ost-West-Gefälle findet eine Re-Interpretation. Hier ist es der Gegensatz von Stadt und Land, der eine größere Erklärungskraft aufweist (p. 40). Schließlich ergibt auch die Untersuchung des subjektive Erlebens der Armutsrisiken einen ungewöhnlichen Blick auf das Phänomen. Fragt man die Menschen im Armutsrisiko, wie sie mit ihrem knappen Budget zurecht kommen, so antworten nur ein Viertel mit „(relativ) schlecht“, während die Mehrzahl „relativ gut“ und sogar bessere Einschätzungen angibt. Cremer sieht hier eine hohe Selbstdisziplin der Betroffenen am Werk (p. 43), die nicht gut zum Psychogramm der prekären Verhältnisse passen will, das in der Öffentlichkeit bekannt ist.

Ein zentrales Kapitel des Buches behandelt die öffentliche Skandalisierung der Armut, an der sich auch Sozialwissenschaftler beteiligen. Cremer deckt die Taschenspielertricks der dabei benutzten Argumentationen auf, vor allem die Gleichsetzung von Armut und Armutsrisiko (p. 46 ff.). Er plädiert für eine nüchternere Debatte, die die Armut sachlicher und differenzierter in den Blick nimmt. Seine These ist: Die Skandalisierung schadet vor allem den wirklich von Armut betroffenen. Allgemeine Verarmungsthesen schüren die Ängste der Mittelschichten und blockieren den Spielraum der Politik für eine gezieltere Armutspolitik. Eine an der statistischen Armutsschwelle allein orientierte Betrachtung ist zu allgemein, die Bekämpfung der Armut muss in der differenzierten Fortentwicklung des etablierten Grundsicherungssystems stattfinden, beim Arbeitslosengeld II und bei der Sozialhilfe (p. 57). In ihnen sieht Cremer leistungsfähige, aber anpassungsbedürftige Systeme. Für ihre Fortentwicklung muss als Leitidee der Teilhabegedanke dienen, der durch das BVG-Urteil von 2010 als grundgesetzlicher Anspruch jedes einzelnen auf eine menschenwürdige Existenz weit oberhalb der schieren Lebensfristung bestätigt wurde (p. 65). Wie die Ausgestaltung der Teilhabe beispielsweise durch eine gerechtere Berechnung der Hartz IV – Sätze aussähe, wird im Einzelnen dargelegt. Cremer folgt hier einem Vorschlag seines Verbandes. Im Ergebnis gelangt er zu einer nötigen Anhebung des Regelbedarfs um 60 €. Dass mit dieser Anhebung die Zahl der Hartz-Empfänger um beinahe eine Million steigen würde, diskutiert er ausführlich. Er antizipiert, wohl zu Recht, dass eine Politik, die mit besten Absichten auf eine Erhöhung der Zahl der Hartz-Empfänger hinausläuft, in der wenig sachlichen öffentlichen Debatte für die Akteure ein selbstschädigendes Vorgehen ist (p. 73).

Im weiteren zeigt er in den Bereichen Gesundheit, Alter, Bildung, Familienpolitik im einzelnen problematische Entwicklungen und unzureichende Regelungen und diskutiert auch hier mögliche Abhilfen. Er führt zum Abschluss seine Überlegungen zusammen, indem er eine befähigende Bildungs- und Sozialpolitik fordert, die sich einer präventiv ausgerichteten Armutsbekämpfung in einer geduldigen Kleinarbeit nach dem sozialevolutiven Modell von Karl Popper widmet. Dabei betrachtet er auch die Finanzierungsmöglichkeiten. Gegen eine ‚Robin-Hood-Rhetorik‘ sieht er einen realistischen Spielraum in einer Größenordnung von etwa 20 Milliarden Euro pro Jahr (p. 224), die für diese Politik zusätzlich ohne Neuverschuldung zu heben wären. Er schlägt ein Bündel von Steueranpassungen wie die Abschaffung von Steuervergünstigungen, die Erhöhung der Erbschaftssteuer, eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes und anderes vor. Mit dem Geld wären ebenso die Anpassungen in der sozialen Sicherung wie der Erhalt und der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur zu finanzieren, da allgemein zugängliche Spielplätze, Bibliotheken, Parks und Zoos auch wichtige Teilhabevoraussetzungen bilden (p. 227).

Diskussion

Cremers Buch behandelt zum einen die Bedingungen der Armut im Land und zum anderen die Diskussion über das Thema. Er fokussiert dabei auf deutsche Verhältnisse, weiß aber natürlich, dass es ungeheure Armutsprobleme, aber auch große Erfolge in der Armutsbekämpfung in Europa und der ganzen Welt gibt. Sein Beitrag ist aber speziell der deutschen Sozialpolitik gewidmet. Mit seinen zwei Schwerpunkten lässt sich das Buch als Einführung in den Kernbereich der Sozialpolitik lesen und ebenso als einen engagierten Beitrag zur Politikdiskurs im Land.

Seine Darstellungen zur Situation der Armut sind auf einem zumindest mittleren Detaillierungsniveau angesiedelt und vermitteln eine deutlich mehr als oberflächliche Kenntnis der Sachverhalte. In seinen Ausführungen kann er immer wieder mit Perspektiven aufwarten, die der öffentlichen Wahrnehmung diametral widersprechen. Für manche mag dazu bereits gehören, dass es im Land ein stark ausgebautes Armutssicherungssystem gibt, das alles in allem sehr gut arbeitet. Aber vor allem sind es die Schlagworte Ost-West-Gefälle, Migration, die schädlichen Auswirkungen der Hartz-Gesetzgebung, das Schwinden des Mittelstandes oder die psychologische Verfasstheit des sogenannten Prekariats, zu denen er sachlich gut fundiert korrigierende Sichtweisen anbietet. Sie machen das Buch besonders lesenswert.

Getragen sind die Ausführungen von jener nüchternen Leidenschaft, die Helmut Schmidt berühmt gemacht hat, und die ein Gegenprogramm zur öffentlichen Skandalisierung bildet. Mit ökonomischer Nüchternheit legt Cremer die Aspekte der Armut dar, lotet Spielräume aus und erwägt politische Schwierigkeiten und Chancen von gezielten Verbesserungen. Er argumentiert dabei aus einem ordoliberalen Blickwinkel, der den Markt grundsätzlich bejaht, aber von starken Institutionen eingehegt sehen möchte. Dabei entsteht ein überzeugendes und immer wieder überraschendes Bild vom unteren Rand der Gesellschaft und dem konkreten Handlungsbedarf, der sich hier für uns alle ergibt.

Fazit

Ein sehr gut zu lesendes Buch, das recht umfassend und in einer sehr ausgewogenen Weise das Thema Armut in Deutschland darstellt und die Optionen erörtert, die einer engagierten Politik hier offenstehen. Es ist damit ein allgemein wichtiger Beitrag, der unser Selbstverständnis als soziale Demokratie herausfordert. Für Studierende der Sozialen Arbeit ist das Buch eine Pflichtlektüre.

Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 35 Rezensionen von Carl Heese.

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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 18.10.2016 zu: Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? Verlag C.H. Beck (München) 2016. ISBN 978-3-406-69922-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21098.php, Datum des Zugriffs 03.12.2024.


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