Regine Fehlings de Acurio: Mehr Sprachen - mehr Chancen
Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 19.08.2016

Regine Fehlings de Acurio: Mehr Sprachen - mehr Chancen. Über Zwei- und Mehrsprachigkeit von Kindern. Dohrmann Verlag (Berlin) 2016. 160 Seiten. ISBN 978-3-938620-40-3. D: 15,80 EUR, A: 16,30 EUR.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist nach dem Prinzip der häufigsten Fragen zum Thema Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit aufgebaut. Dementsprechend erscheinen alle 21 Kapiteltitel als Fragen (vgl. die Übersicht unter „Leseprobe“).
Die einzelnen Kapitel sind zwischen 3 und 10 Seiten lang und behandeln praktisch alle wichtigen Fragen zum Thema; z.B. wann jemand zwei-/mehrsprachig ist, wie Zwei-/Mehrsprachigkeit von den Eltern gestaltet werden kann (Sprachentrennung, Elternsprachen, Verhalten bei „Fehlern“, Sprachmischung oder Entwicklungsauffälligkeiten) inklusive allfälliger Risiken, mögliche Einflüsse auf die kognitive und Identitätsentwicklung des Kindes, die Förderung von Lesen und Schreiben in zwei/mehreren Sprachen, die Frage des Besuchs zweisprachiger oder internationaler Schulen, Zwei-/Mehrsprachigkeit bei Kindern mit Down-Syndrom oder Hörbehinderung/Gehörlosigkeit. Jedes Kapitel enthält am Ende eine kurze Punktation zu den wichtigsten diskutierten Inhalten. Um Überschneidungen zwischen den Kapiteln möglichst zu vermeiden, verwendet die Autorin Verweise. Am Ende des Buchs findet sich ein Literaturverzeichnis.
Zum Gebrauch des Buchs stellt die Autorin fest, dass die Leser_innen (Zielgruppen sind Eltern, Studierende und Fachkräfte) es nach Lektüre des ersten Kapitels sowohl linear als auch in beliebiger Kapitelauswahl durchgehen können. Inhaltlich hat sie nach eigenen Angaben versucht, möglichst viele Gesichtspunkte zu diskutieren, dazu aber auch klare Positionen zu entwickeln. Sie schreibt, dass es keine Patentrezepte gibt: „Deshalb müssen wir immer wieder überlegen, was unser (Sprach)Handeln für das Kind bedeutet. Wir müssen immer wieder beobachten, wie es ist, wie es reagiert, wie es was annimmt und umsetzt. Daraufhin müssen wir unser Handeln anpassen, ihm Anreize bieten, eventuell umdenken und neue Strategien finden und dann wieder von vorne beginnen.“ (S. 9)
Diskussion
Am Inhalt des Buchs gibt es sehr wenig zu kritisieren.
Ein Punkt, den ich etwas kritische sehe, ist die meiner Meinung nach zu strikte Ablehnung von „Babyzeichen“, („Baby Sign“, Gebärden für hörende Babys). Die Ablehnung ist teilweise verständlich, da diese Methode kommerziell angeboten wird und nicht alle Anbieter die notwendigen ethischen und Qualitätsbedingungen erfüllen. Trotzdem kann bei Beachtung der oben zitierten, von der Autorin formulierten Prinzipien der Einsatz von Gebärden unter bestimmten Bedingungen sinnvoll sein. Das gilt z.B. für den Fall, dass Kinder, noch bevor sie das lautsprachlich ausdrücken können, über Gebärden mitteilen können, ob sie Hunger oder Durst haben oder, dass die Windel voll ist (vgl. dazu F. Dotter, Gründe für die Verwendung von Gebärden in der Kommunikation mit Babys, www.uni-klu.ac.at/zgh/inhalt/392.htm; dort unter Publikationen 2012). Schließlich schreibt die Autorin selbst, dass Kinder mit Down-Syndrom gut auf visuelle Kommunikation ansprechen. Dasselbe gilt, wenn Eltern Zweifel haben, ob ihr Kind gut hört oder eine andere Behinderung lautsprachliche Entwicklungsverzögerungen erwarten lässt.
Der zweite Kritikpunkt betrifft die unangemessene Verwendung der Begriffe BICS (Basis Interpersonal Communication Skills) und CALP (Cognitive Academic Language Proficiency). Leider fällt auch Fehlings de Acurio – wie viele andere Autor_innen – auf eine Interpretation des Konzepts von Cummins als „Bernsteinisiertem“ Gegensatz zwischen einer passend abgewerteten „Alltags-“ und einer hoch bewerteten „Schriftsprache“ herein, obwohl sie den Weg zu dekontextualisierten Sprechakten u.a. auf S. 72 richtig beschreibt. Hingegen befördert sie den unangemessenen Gegensatz durch eine Tabelle (S. 99), welche BICS als den angeblichen „Mündlichen Stil“ (unausgesprochen, aber über die angeführten Merkmale erkennbar) als Bernsteins „restringierten Code“ denunziert und CALP, den „Schriftsprachlichen Stil“, (nun auch unter Verwendung des Bernsteinschen Begriffs als „elaboriert“) als positive Variante dagegen stellt. Da solche einfache Gegensatzpaare bekanntlich sehr gern von Leser_innen rezipiert und auch Studierenden als leicht lernbare „Zusammenfassungen“ vermittelt werden, entwertet die Autorin Vieles von dem, was sie zur Förderung der Entwicklung komplexer, relativ kontextunabhängiger Sprechakte schreibt. Zugleich vernebelt sie mit der Bemerkung, man könne den schriftsprachlichen Stil auch mündlich verwenden, die unterschiedlichen Situations- und damit Produktionsbedingungen für komplexe mündliche vs. schriftliche Sprache bzw. leugnet die Möglichkeit eigenständiger kontextunabhängiger bzw. komplexer mündlicher Textproduktion.
Als dritten und letzten Kritikpunkt führe ich an, dass soziokulturelle Faktoren der Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit im Kontext von Migration in der Darstellung zu kurz kommen, auch wenn der Standpunkt der Autorin in den Kapiteln 17 und 18 durchaus unterstützenswert ist.
Positiv besonders hervorheben möchte ich, dass die Autorin auch Kinder mit Down-Syndrom bzw. hochgradiger Hörbehinderung oder Gehörlosigkeit einbezieht, für deren Eltern es sonst kaum Informationen gibt. Für Kinder mit Down-Syndrom kommt sie zum Ergebnis, dass sie – bei Berücksichtigung der individuell sehr unterschiedlichen Einschränkungen – in tatsächlich zwei-/mehrsprachigen Familien auch so aufwachsen sollen. Für Kinder mit hochgradiger Hörbehinderung oder Gehörlosigkeit – inklusive der Kinder mit Cochlea-Implantat – sieht sie eine angepasste, auch sprachliche Bimodalität (eine gesprochene Sprache und eine Gebärdensprache) als sinnvollen Normalfall speziell in den ersten Lebensjahren, in denen die kognitive Plastizität das Sprachlernen enorm erleichtert.
Fazit
Das Buch hebt sich von zahlreichen konkurrierenden Werken dadurch ab, dass es fast keine Unzulänglichkeiten oder gar fehlerhafte Darstellungen enthält, sondern durchgehend den heutigen wissenschaftlichen Standards entspricht. Dabei sind die Inhalte aller Kapitel leserfreundlich formuliert, der Text sehr gut lesbar und verständlich; die Autorin verfolgt einen dialogischen Stil, sie wendet sich immer wieder an die Leser_innen und legt auch ihre persönlichen Einschätzungen offen. Das Buch ist ohne Einschränkungen für Eltern, Studierende und Fachkräfte zu empfehlen.
Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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