Jörn Müller, Andreas Nießeler et al. (Hrsg.): Aufmerksamkeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.08.2016
Jörn Müller, Andreas Nießeler, Andreas Rauh (Hrsg.): Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven. transcript (Bielefeld) 2016. 238 Seiten. ISBN 978-3-8376-3481-5. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.
Aufmerksamkeit: Scheinwerfer und Orientierung
Im philosophischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs werden neuerdings Wertvorstellungen und Markierungen thematisiert, die in der alltäglichen und gesellschaftsrelevanten Praxis eher keine bevorzugte Positionen einnahmen und in der „Jetzt- und Sofort“ – Euphorie vergessen oder vernachlässigt werden; wie z. B. ontologische Fragen nach Sinn und Sinnlichkeit (Lydia Maria Arantes / Elisa Rieger, Hrsg., Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17991.php; Alcira Mariam Alizade, Weibliche Sinnlichkeit, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17558.php), Geschichts- und Erinnerungskompetenz (Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php), Autonomie ( Martina Franzen, u.a., Hrsg., Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17917.php), Vertrauensfrage (Ute Frevert,.Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/16572.php), Religiosität (Gerald Hartung / Magnus Schlette, Hrsg., Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14680.php), Gelassenheit (Henning Ottmann, u.a., Gelassenheit – Und andere Versuche zur negativen Ethik, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18926.php). Hier kommt die Erkenntnis zum Vorschein, dass, wer mit sich und der Welt nicht zufrieden ist, philosophieren muss – wem wohl ist, erst recht! (Wer philosophiert – lebt! 28. 1. 2014, www.socialnet.de/materialien/174.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Achtsamkeit als Tugend ist die Fähigkeit, „bewusst hinzusehen oder hinzuhören, anstatt andere zu übersehen oder einfach wegzuhören“. Es ist die Erfahrung mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt, also ein Instrument zur Selbst- und Welterfahrung. Die anthropologische Betrachtung des Phänomens besagt, dass zwar auch Tiere aufmerksam sein können; aber der humanen Aufmerksamkeit kommt eine weitergehende Bedeutung zu: Aufmerksamkeit ist Geschehen, Zustand und Disposition. Sie ist auf etwas gerichtet und eingebunden in die menschliche Urfrage: Wer bin ich? Aufmerksamkeit also gründet auf aktive und passive Denk- und Verhaltensweisen, sie bildet sich sowohl im menschlichen Bewusstsein, als auch im Unbewusstem, und sie äußert sich im individuellen und kollektiven Denken und Tun.
An der Universität Würzburg gibt es an der Fakultät für Humanwissenschaften das Human Dynamics Centre (HDC). Ziel der Lehr- und Forschungseinrichtung ist, „Grundlagen, Erscheinungsformen und Möglichkeiten der Gestaltung menschlichen Wandels in einem interdisziplinären Rahmen zu erforschen“. Im Juni 2015 fand eine wissenschaftliche Tagung statt, die den Fragen nach der humanwissenschaftlichen Bedeutung des Phänomens „Aufmerksamkeit“ nachgegangen ist. Die Ergebnisse werden in dem Sammelband vorgelegt, der von den Würzburger Wissenschaftlern, dem Philosophen Jörn Müller, dem Pädagogen Andreas Nießeler und dem Psychologen Andreas Rauh vorgelegt wird.
Aufbau und Inhalt
Der em. Sozialwissenschaftler Bernhard Waldenfels beginnt die Reihe der Vorträge mit seinem Text „Geweckte und gelenkte Aufmerksamkeit“. Er ordnet, entgegen den überkommenen, philosophischen Auffassungen das Phänomen als „Urtatsache“ menschlichen Daseins ein: „Etwas fällt mir auf – ich merke auf“. Dieses Doppelereignis bewirkt, dass ich entweder reagiere oder nicht handle, und zwar weil es mich berührt, angeht, betrifft und herausfordert, oder eben nicht. Damit wird deutlich, dass Aufmerksamkeitsphänomene meist nicht durch vorbestimmte oder zufällige Situationen entstehen, „sie verdichten sich vielmehr in bestimmten Modi, in Gegebenheitsweisen der Dinge und in Vollzugsweisen unserer Akte“. Sie werden hervorgebracht durch die Schaffung und Organisation eines Erfahrungsfeldes und durch Bestimmung des Unbestimmten. Um die vielfältigen Formen, Ausprägungen und Erscheinungsweisen von Aufmerksamkeit verstehen und anwenden zu können, braucht es, so der Autor, eines „Ethos der Sinne“, der ausgestattet ist mit den Fähigkeiten und Kompetenzen des Hinsehen- und Hinhörenkönnens.
Der Philosoph Diego D´Angelo setzt sich mit seinem Beitrag mit dem „Begriff ‚Aufmerksamkeit‘ im Werk Merleau-Pontys, 1942-1948“ auseinander. Der französische Philosoph und Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty (1908 – 1961) hat sich damit beschäftigt, wie Wahrnehmungen entstehen und wirken; und zwar nicht als Geistesblitz oder als Lichtstrahl, sondern als Erwartungshorizont, der bereits in uns ist.: „Unsere Sinne befragen die Dinge, und diese antworten ihnen“.
Der Kunstwissenschaftler und Geschäftsführer des Würzburger HDC, Andreas Rauh, richtet mit seinem Text „Wolkenformationen“ die Aufmerksamkeit auf atmosphärische Phänomene, wie sie als Wahrnehmungsbedingungen deutlich werden. Es ist ein Bild und gleichzeitig ein Zugriff: „Die Atmosphäre umschließt Erde wie Wahrnehmungsbedingungen, sie beeinflusst Wettergeschehen und Wahrnehmungsverlauf, ja sie bedingt Wetter- und Wahrnehmungsphänomene“. Atmosphären als Stimmungs-, Erklärungs- und Wirkungsmuster, und Exempel für Metaphorisches.
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologische Theorie der Leibniz-Universität Hannover, Katharina Block, diskutiert mit dem Beitrag „Deep Attention als Praxis des Verstehens“ das Verhältnis von Aufmerksamkeit und Bewusstsein. Mit dem von der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Katherine Hayles geprägten Begriff „Deep Attention“ wird eine „vornehmlich kognitiv bestimmte und von der Konzentrationslänge abhängige Form der Aufmerksamkeit“ beschrieben. In den Interpretationsformen, wie sie von H. Plessner und B. Stiegler vorgenommen werden, zeigen auf, dass Selbst- und Weltverständnis auf dem geteilten, kulturell bedingten Sinnhorizont gründen, aber nicht abschließbar, also unbegründbar ist.
Der an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst tätige Philosoph Christoph Türcke registriert eine „Auifmerksamkeitsdefizitkultur“. Er analysiert die Phänomene, dass der Mensch in seinem Werden, Identitäten, Denken und Handeln ein Wiederholungstäter ist: „Rituale, Sitten, Grammatiken, Gesetze, Institutionen sind Niederschläge des traumatischen -Wiederholungszwangs“. Die durch die technologischen und medialen Entwicklungen forcierten, bedachten und unbedachten Wiederholungsrituale fördern Flüchtigkeit und Unaufmerksamkeit. Das „Nachsitzen“, als bekannte Methode des Nachlernens und -entwickelns gewinnt in den Zeiten der Hektiken und des „Sofortismus“, weltanschaulich und welthaft (Wolfgang Welsch) betrachtet, eine Form des Innehaltens, eine „profane Andacht“.
Der Erziehungswissenschaftler von der Berliner Humboldt-Universität, Malte Brinkmann, stellt in seinem Beitrag „Aufmerken und Zeigen“ theoretische und empirische Untersuchungen zur pädagogischen Interattentionalität vor. und entwickelt daraus eine phänomenologisch orientierte Theorie pädagogischer Aufmerksamkeit. „Sei aufmerksam!“, diese pädagogische und erzieherische Mahnung macht deutlich, dass Aufmerksamkeit der Anfang einer jeden Bildung (Hegel) ist. Erzieherisches (Hand-, Finger-, Körper-) Zeigen als Aufforderungen für lernendes Aufmerken sind didaktische Mittel zur intentionalen Aufmerksamkeit. „Sie manifestiert sich als ambivalentes Geschehen in der und gegen die Ordnung des Unterrichts, in dem sie … im Missverstehen die Grundlagen für Verzögerung und Fokussierung legt“.
Die in der Abteilung Experimentelle Klinische Psychologie an der Würzburger Julius-Maximilians-Universität tätigen Psychologen Aleya Flachsenhar, Marius Rubo und Matthias Gamer thematisieren „Soziale Aufmerksamkeit“ aus der Sicht der Psychologie. Anhand von Forschungsergebnissen und Experimenten stellen sie Modelle für soziale Informationsverarbeitung vor, zeigen positive Wirkungen auf und verweisen auf psychische Störungen beim Sozialverhalten. Visuelle Wahrnehmungen durch Augenbewegungsmuster machen deutlich, dass soziale Aufmerksamkeitsdeutungen und -bewusstwerden Ansatzpunkte für klinische Behandlungen und Therapien sein können.
Jörn Müller beschließt mit seinem Beitrag „Willensschwäche, Selbstkontrolle und Aufmerksamkeit“ den Sammelband. Er zeigt die vielfältigen, humanwissenschaftlichen Theoriebildungen zum Phänomen der „Willensschwäche“ auf. Dazu benutzt er zum einen die von Thomas von Aquin formulierten (moralischen) Erklärungen und Fingerzeige zur Willensschwäche und konfrontiert sie mit neueren Resultaten aus den empirischen Forschungen zum Thema „Selbstkontrolle“. Für seine (Vergleichs-)Analyse benutzt er den „Zwei-System-Ansatz“, der davon ausgeht,. „dass in der menschlichen Psyche zwei unterschiedliche Formen von Informationsverarbeitung parallel zueinander stattfinden“. Es sind die impulsiven und reflektiven Elemente, die dazu beitragen können, „eine präzisere Differenzierung im Verständnis und in der Erklärung von Willensschwäche und Selbstkontrolle zu erreichen“. Seinem Plädoyer für eine intensivere Kooperation von Philosophie und Psychologie bei den phänomenologischen Unterscheidungen von geweckter und gelenkter Aufmerksamkeit ist nur zuzustimmen.
Fazit
In den phänomenologischen und philosophischen Betrachtungen des Phänomens „Aufmerksamkeit“ werden sowohl historische als auch aktuell anthropologische und soziologische Aspekte deutlich. „Gerade in der heutigen postmodernen ‚Sensationsgesellschaft‘ scheint zumindest konzentrierte Aufmerksamkeit immer weiter untergraben und in die Vielfalt ständiger wechselnder neuer Reize diffundiert zu werden“. Aufmerksamkeitsstörungen in den verschiedenen, generationsübergreifenden Situationen führen sowohl zu individuellen Defiziten und behindernden Lebensbewältigungsstrategien, als auch zu gefährlichen, lokalen und globalen gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Die intentionale, faktische und gestörte Bedeutung von Aufmerksamkeit ist Grundlage jedes gelingenden und misslingenden, individuellen und kollektiven, lebensweltlichen Zusammenlebens der Menschen. Die sich in den humanwissenschaftlichen Diskursen herausgebildeten Theorien und Handlungsanweisungen verdeutlichen die anthropologische Dimension des Phänomens. Weil „Aufmerksamkeit ( ) nicht nur eine auf Selektion beruhende Orientierung (ermöglicht), sondern ( ) auch ein Indikator für unser motivationales Interesse an bestimmten Gehalten (ist)“, kommt es darauf an, psychologische, philosophische, pädagogische … Aufmerksamkeit darauf zu richten, was Aufmerksamkeit ist, was sie sein kann und phänomenal ausmacht.
Der aus einer wissenschaftlichen Tagung der Universität Würzburg hervorgegangene Sammelband stellt ohne Zweifel einen wichtigen Baustein und eine Herausforderung für interdisziplinäres, aufmerksamen Weiterdenken in diesem humanem Forschungsfeld dar.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.08.2016 zu:
Jörn Müller, Andreas Nießeler, Andreas Rauh (Hrsg.): Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven. transcript
(Bielefeld) 2016.
ISBN 978-3-8376-3481-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21112.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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