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Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner (Hrsg.): Kindheit und Raum

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 17.04.2018

Cover Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner (Hrsg.): Kindheit und Raum ISBN 978-3-8474-0671-6

Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner (Hrsg.): Kindheit und Raum. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 406 Seiten. ISBN 978-3-8474-0671-6. D: 33,00 EUR, A: 34,00 EUR, CH: 43,70 sFr.

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Thema

In der Kindheitsforschung ist der Umgang von Kindern mit dem Raum ein Thema mit einer langen Forschungstradition. Ausgehend von der Pionierstudie Marta Muchows in den frühen 1930er Jahren, die den Lebensraum des Großstadtkindes untersuchte, entwickelten sich seit den 1980er Jahren in der neu sich konstituierenden sozialwissenschaftlichen Kindheits- und Kinderforschung Studien zur sozialräumlichen Aneignung urbaner Räume in verschiedenen sozialen Milieus. Sie führten zu Annahmen über die „Verinselung“, „Verhäuslichung“ und Institutionalisierung von Kindheit, die bis heute die Diskussion um Kinder und ihre Räume bestimmen. Diese wurden teilweise in sozial- und kunstpädagogischen Projekten wie „Kinderstädten“ oder kinderpolitischen Initiativen für „kinderfreundliche Städte“ aufgegriffen. Die Bedeutung des Raumes für die Entwicklung von Heranwachsenden hat in den sozial- und erziehungswissenschaftlichen sowie sozialgeographischen Diskursen neue Aufmerksamkeit gefunden. Gleichwohl liegen für das Aufwachsen von Kindern in urbanen und insbesondere ländlichen Regionen des 21. Jahrhunderts noch relativ wenig gesicherte Erkenntnisse vor. Im hier zu rezensierenden Sammelband werden theoretische Reflexionen und empirische Untersuchungen vorgestellt, die die Beziehungen von Kindern, Kindheiten und Räumen aus verschiedenen disziplinären Perspektiven beleuchten und ihre Relevanz für die pädagogische und politische Praxis erörtern.

Aufbau und Inhalt

Die Beiträge des Bandes sind nach vier thematischen Schwerpunkten gegliedert. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Im ersten Teil (Kindheit in urbanen und ländlichen Räumen) werden soziologisch-sozialräumliche Perspektiven auf Kinder und ihre Lebensräume formuliert. Im Unterschied zu theoretischen Ansätzen, die den Raum als vorgegebenen und nicht beeinflussbaren „Container“ konzipieren, werden in den Beiträgen eine „Geographie der Subjekte“ und eine „Sozialgeographie der Kinder“ entworfen, in denen den Kindern eine wesentliche Rolle als Akteuren attestiert wird.

Im zweiten Teil (Pädagogisch inszenierte Räume von Kindheit) werden erziehungswissenschaftliche und machttheoretisch gerahmte Zugänge zu Kindern und ihren Räumen vorgestellt. Dabei wird in Fallstudien auf Kinderzimmer, Krippen, Kindertagesstätten, Schule und kunstpädagogische Performance-Projekte mit Kindern Bezug genommen.

Im dritten Teil (Bewegungsräume von Kindern und Jugendlichen in der Schule und auf dem Schulweg) werden erziehungswissenschaftlich-sportwissenschaftliche und schultheoretisch-kindheitstheoretische Perspektiven auf Räume von Kindheit und Jugend entwickelt. Besondere Aufmerksamkeit findet dabei die Bedeutung von Mobilitäts- und Bewegungschancen von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Lebenssituationen.

Im vierten Teil (Medien- und Denkräume von Kindern) werden virtuelle und psychische Räume unter erziehungswissenschaftlichen und sozialgeographischen Perspektiven betrachtet. Besondere Aufmerksamkeit wird der Bedeutung von Medien in der Lebenswelt von Kindern und die davon beeinflusste Nutzung und Gestaltung von Räumen gewidmet.

Diskussion

Von besonderem Interesse ist, dass die Beiträge des Bandes durch eine differenzierte sozial- und erziehungswissenschaftliche Raumtheorie gerahmt sind, die verschiedene Facetten und interdisziplinäre Bezüge raumtheoretischer Diskurse zum Ausdruck bringen und so einen guten Einblick in den Umgang von Kindern und den Umgang Erwachsener mit Kindern in verschiedenen Raumarrangements ermöglichen. Als gemeinsame übergeordnete Leittheorie wird in allen Beiträgen auf den französischen Philosophen Michel Foucault Bezug genommen, der den Diskurs um die „Epoche des Raums“ und den sog, „spacial turn“ in den letzten Jahrzehnten maßgeblich bestimmte. Auch folgen die meisten Beiträge einem relationalen Raummodell, wie es in der soziologischen Raumtheorie vertreten wird. Sie verbindet die Ordnung und Strukturen von Raum mit den intentionalen Handlungsakten der Akteure und zeigt, dass Räume immer erst durch Subjekte hergestellt und damit auch veränderbar sind.

Für die kindheitstheoretische Frage nach den Räumen der Kinder ist dieser soziologisch-machttheoretische Zugang besonders wichtig, da Kinder in der Familie und den pädagogischen Institutionen in Macht- und Ordnungsverhältnisse eingebunden sind, die im Handeln der verschiedenen Akteursgruppen in den jeweiligen Räumen inszeniert und im Rahmen der generationalen Ordnung verhandelt werden.

Der kindheitstheoretische Erkenntnisgewinn der in dem Band versammelten Beiträge erweist sich darin, dass die Räume der Kinder stets von den historisch gewachsenen Kindheitsbildern und den Erziehungsvorstellungen der Erwachsenen im Rahmen der generationalen Ordnung von Kindheit normativ geprägt sind. Die Räume der Kindheit sind vielfach die von Erwachsenen inszenierten Räume und nicht die Räume der Kinder. Gerade in den Fallstudien wird aber auch deutlich, dass Kinder sich meist mit den vorgegebenen Bedingungen auseinandersetzen und sich die Räume auf ihre Weise anzueignen und im eigenen Interesse zu nutzen versuchen. Der Band enthält zahlreiche Hinweise darauf, wie die Kinder bei diesen Aneignungsversuchen unterstützt werden können.

Fazit

Der theoretisch anspruchsvolle Band ist nicht immer leicht zu lesen, vermittelt aber in seiner Mischung von theorie- und praxisbezogenen Reflexionen durchaus konkrete Anregungen, wie die Bedeutung der Räume für Kinder und das raumbezogene Handeln von Kindern besser verstanden werden können.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 17.04.2018 zu: Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner (Hrsg.): Kindheit und Raum. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. ISBN 978-3-8474-0671-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21113.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.


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