Friedemann Stöhr: Musiktherapeutische Verfahren (...) bei (...) CED
Rezensiert von Dr. Frank Henn, 26.01.2017

Friedemann Stöhr: Musiktherapeutische Verfahren zur psycho-sozialen Unterstützung der Krankheitsbewältigung bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED). Entwicklung eines Konzepts auf gestalttherapeutischer Basis. Dr. Ludwig Reichert Verlag (Wiesbaden) 2016. 128 Seiten. ISBN 978-3-95490-173-9. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Thema
Über 320 000 Menschen leiden z. Zt. in Deutschland an einer chronisch-entzündlichen-Darmerkrankung (CED) wie der Colitis ulcerosa (Cu) oder dem Morbus Crohn (MC), wobei die Begleiterscheinungen von psycho-sozialen Beeinträchtigungen als zusätzliche Belastungsfaktoren angesehen werden. Neue Erkenntnisse über die Ursachen und Auswirkungen einer CED haben zu einem Paradigmenwechsel geführt. Auf dem Gebiet der Medizin z.B. wird der Morbus Crohn nicht mehr als eine Autoimmunkrankheit sondern als eine Barrierestörung gesehen. In der Psychotherapie gibt es nach neuesten Erkenntnissen nunmehr auch keine spezifische CED-Persönlichkeit mehr. Was bisher als Ursache galt, wird nun als Folgeerscheinung der Krankheit gesehen. Die wenigen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, die sich mit Musiktherapie und CED beschäftigen, haben diese Veränderungen noch nicht einbezogen.
Eine CED begleitet den Patienten ein Leben lang und verläuft meistens schubweise. Neben Phasen mit hoher Krankheitsaktivität gibt es Abschnitte relativer Gesundheit und ein vorübergehendes Nachlassen der Krankheitserscheinung (Remission). Die Betroffenen können sich deshalb kaum auf einen stabilen Zustand verlassen und müssen sich ständig auf einen verändernden Gesundheitszustand einrichten. Viele andere Patienten dagegen leben mit andauernden Aktivitäten der Darmentzündung. Deswegen ist es besonders wichtig, die Bewältigung der Krankheit durch eine psycho-soziale Behandlung zu unterstützen. Die Musiktherapie mit ihren non-verbalen Methoden kann dazu in großem Maße beitragen.
Das vorliegende Konzept ist der Versuch, ein anwendungsbezogenes musiktherapeutisches Referenzsystems zu entwickeln, das dazu beiträgt, zu einer schöpferischen und kreativen Lebensgestaltung bei einer CED zu gelangen. Dazu gibt es folgende Beiträge:
- Überblick über das Krankheitsbild und die medizinische Ursachenforschung;
- Beschreibung der Lebenssituation bei einer CED;
- Überblick über die allgemeine psychologische und musiktherapeutische Forschung in der Literatur;
- Vorstellung eines Referenzsystems, in dem die Kriterien für ein musiktherapeutisches Konzept herausgearbeitet und an ausgewählten Beispielen praxisbezogen dargestellt werden. Erlebnis- und Praxisberichte sowie Fallbeispiele sollen dieses veranschaulichen.
Grundlagen des Referenzsystems sind das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell, das Krankheitsverständnis der Salutogenese und der Kohärenz nach Antonovsky, sowie die Gestalttherapie mit ihrem Kontaktzyklus „Gewahrsam-Erregung-Kontakt“, die den Rahmen des psychotherapeutischen Ansatzes beschreiben. Zu den psycho-sozialen Behandlungs- und Unterstützungsformen zählen
- das Auffangen von überschwemmenden Emotionen (Containment),
- die Stressbewältigung,
- die Stärkung von Resilienz durch Aktivierung von Ressourcen,
- das Entwickeln von Copingstrategien (Bewältigungsstrategien),
- die Förderung von Compliance (Kooperatives Verhalten im Rahmen der Therapie)
- und (ansatzweise) die nichtmedikamentöse Schmerzbehandlung.
Der Autor verhehlt nicht seine persönliche Betroffenheit, schafft aber mit dieser Schrift immer wieder die nötige wissenschaftliche und therapeutische Distanz.
Autor
Der Autor Friedemann Stöhr (Jg. 1950) ist seit 35 Jahren selbst an dieser Krankheit erkrankt und kam dabei auf der eigenen Suche nach Gesundung in den frühen 1980iger Jahren zur Gestalttherapie und etwas später zur Musik-Gestalttherapie. Er war bis 2001 Lehrer, Musikpädagoge und Fachleiter für Musik an einer Gesamtschule in Berlin-Kreuzberg. 1991-1995 Ausbildung am IGG Berlin (Institut für Gestalttherapie und Gestaltpädagogik) zum Musik-Gestalttherapeuten, ab 1995 Musik-Gestalttherapeut (DVG) in freier Praxis. Referent und Leiter von Workshops und Seminaren (Bundeskongress Schulpsychologie 2000, Arbeitskreis für Schulmusik (AfS), Institut für ganzheitliche Seelsorge und Beratung Geislingen (IGS), Odenwaldinstitut). Mitglied der Deutschen Morbus Crohn und Colitis Vereinigung (DCCV) und dort Mitbegründer des AK Komplementärmedizin, Leiter bzw. Referent mehrerer Workshops und Seminare u.a. bei Arzt-Patienten-Seminare und bei diversen Selbsthilfegruppen. Ausbilder und Lehrtherapeut am HIGW Hamburg. Fortbildungen in GIM Level I & II (Guided Imagery and Music) bei Stephanie Merritt und Klangmassage nach Peter Hess. 2014 Erlangung des Master of Art (M.A.) an der Hochschule Magdeburg, FB Sozial- und Gesundheitswesen: Methoden musiktherapeutischer Forschung und Praxis, Ausbildung in der Musik-Imaginativen Schmerzbehandlung.
Aufbau
F. Stöhr gliedert sein Buch in zehn Kapitel.
Nach der (1) Einleitung und einer Fokussierung auf das Thema (2) Begründung und Eingrenzung des Themas werden Intentionen zur Sache vermittelt sowie (3) Zielvorstellungen (Intentionen) vorgestellt.
Um mit der somatischen Phänomenologie vertraut zu werden stellt der Autor im vierten Kapitel (4) Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) diverse (4.1) Krankheitsbilder, (4.2) Folgekrankheiten, (4.3) Diagnosen, Kennzahlen zur Epidemiologie (4.4 Prävalenz), der Entstehungsgeschichte (4.5 Ätiologie), sowie individuell regelbare Sozialverhalten wie (4.5.2) „Rauchen“ und (4.5.3) „Ernährungsverhalten“ vor.
Im folgenden fünf Kapitel wird der Schwerpunkt auf soziale Phänomene gelegt. Die (5) Lebens- und Behandlungssituation bei CED werden untergliedert in: (5.1) Evaluation der Lebensqualität; (5.2) Spezifische Belastungsfaktoren (Stressoren); (5.3) Identität und Identitätsverlust; (5.4) Versorgung; (5.4.1) Medizinische Versorgung und die Rolle des Arztes; (5.4.2) Versorgungsforschung; (5.4.3) Leitlinien; sowie Hinweise auf (5.4.4) Verbände und Organisationen
Kapitel 6 „Psychosoziale Ursachenforschung und Indikation für eine Psychotherapie bei CED“ beschreibt, dass psychische Störungen Folgen der CED (keine Ursache) sind. Beispielsweise wird die Angst/Depression, weil kein Vertrauen in den eigenen Körper mehr gesetzt werden kann, angeführt. Die häufige Frage, ob daraus Kriterien für (6.1) Persönlichkeitsmerkmale ableitbar wären, wird von F. Stöhr deutlich verneint. Im Kapitel (6.2) Das Biopsychosoziale Modell (BPS) als umfassendster „Entwurf für eine psychotherapeutische Herangehensweise“ beschrieben. Dieser befasst sich mit dem Einfluss psychosozialer Faktoren auf Entstehung, Umgang, Auswirkung und Bewältigung der Krankheit (Weiss, 2004). In diesem Kapitel werden die Begriffe von Krankheit und Gesundheit definiert. Gesundheit ist die Fähigkeit, „beliebige Störungen auf beliebigen Systemebenen autoregulativ zu bewältigen“ (Egger, 2005). Dem Gegenüber wird Krankheit auf drei Ebenen definiert. „Krankheit als somatische Störung. Krankheit als Störung des Erlebens und Verhaltens und Krankheit als Ergebnis einer pathogenen Mensch-Umwelt-Passform“ (ebd.). Steht die o.g. Selbstregulierung nicht zur Verfügung ist Raum für Krankheit gegeben. Plausibel wird in diesem Kapitel kurz beschrieben, dass die Musiktherapie (Kasseler-Konferenz Musiktherapeutischer Vereinigung in Deutschland1998) als Methode für die CED gut geeignet ist. Der wissenschaftliche Stand zum Thema (6.4) „CED und Stress“ weist darauf hin, dass in vielen Studien keine „Stress-Definition“ vorliegt. Die Unschärfe diverser Studien wird nachvollziehbar vorgestellt, wobei der „Stress-Faktor“ für die CED von großer Bedeutung ist.
Im Kernthema (7) Musiktherapie bei CED weist F. Stöhr darauf hin, dass der Forschungsstand zum Thema dürftig ist und kaum Studien zur Verfügung stehen, auf die der Autor sich beziehen kann. Die vorliegenden Studien zeigen jedoch, dass bei „mindestens der Hälfte der Patienten (hat) die musiktherapeutische Behandlung geholfen (hat), musikalisch offener zu werden, sich zu entspannen, die eigene Kommunikation zu fördern und die allgemeine Stimmung zu verbessern. Auch wurde deutlich, dass, je länger der Aufenthalt und damit je häufiger die Teilnahme an der Musiktherapie war, die Patienten umso mehr davon profitieren konnten“ (S. 60). Die teilweise 20 Jahre alten und bekannten Studien weisen auf Ziele der CED-Patienten (n=200) bzgl. der Musiktherapie hin (1994 Lübecker Musikpsychotherapie-Modell von Maler /von Wietersheim). Eine Studie von David Aldridge (1999) beschäftigt sich mit der Kooperation von Ärzten und Musiktherapeuten. Auch Erfahrungen von „regulativer Musiktherapie“ (Schwabe) und freier musiktherapeutischer Improvisation mit CED-Patienten werden vorgestellt.
Die Grundlage für Kostenübernahmen von Psychotherapien wie Musiktherapie setzen (8) „Kriterien und Grundlagen für ein musiktherapeutisches Konzept“ voraus. In diesem Kapitel werden die Schwierigkeiten beschrieben, die bestehen, um (8.1) „Indikationen und Kontraindikationen für eine psycho-soziale Unterstützung“ zu benennen bzw. zu erhalten. „Die meisten CED-patienten stellen bei den Schilderungen ihrer Beschwerden natürlicherweise den körperlichen Aspekt ihres Erlebens in den Vordergrund. Die Erfahrungen von Erregung, Fremdheit und unangenehmer Empfindung werden nicht als Emotionen, sondern als Wahrnehmung von Körpersymptomen und Körpererleben beschrieben“. (70) Da aber vielfach kaum Bewältigungsstrategien den CED-Patienten zur Verfügung und weitere Kriterien, wie mangelnde Krankheitsverarbeitung, Orientierungslosigkeit, eingeschränkte Lebensqualität gegeben sind, liegen Indikatoren vor, die eine musiktherapeutische Intervention als sinnvoll ausweisen. Hierzu beschreibt F. Stöhr die Voraussetzungen für ein (8.2) Setting, entsprechenden (8.2.1) atmosphärischen Voraussetzungen, welches (8.2.2) Instrumentarium zur Verfügung stehen sollte. Im Kapitel (8.2.3) Gruppentherapie werden die Vorteile (wechselseitige Partizipation) und praktischen Erfahrungen vorgestellt. Das Verständnis von Zusammenhängen mit Bezug auf CED wird im Kapitel (8.3) Salutogenese und Kohärenz aufgegriffen. „Je besser das Verständnis für Zusammenhänge ausgeprägt ist, desto eher können Probleme und Schwierigkeiten eingeordnet und in ihren Zusammenhang gestellt werden. Dies entlastet die Betroffenen durch den Bezug zu einem Kontext ohne in alleinigem Maße die Schuld, Ursache oder den Anlass für Probleme auf sich zu nehmen“ (74). „Je ausgeprägter das Kohärenzgefühl ist, desto gesünder ist der Mensch bzw. desto schneller wird er gesund werden und bleiben. Dieses Gefühl unterstützt und wirkt bei der Bewältigung von Spannungszuständen, bei der Verarbeitung von Stress, mobilisiert Ressourcen und hilft gezielt, sich für gesundheitsförderliche Verhaltensweisen zu entscheiden“ (75).
Mit Hinweis auf die Nützlichkeit des (8.4) Gestalttherapeutischen Ansatzes und dem Gewahrwerden von einzelnen Elementen, die sich dem Betrachter immer als ein sinnhaftes Ganzes zeigen, sollen zu mehr Bewusstheit (Awareness) in der Auseinandersetzung führen. Um in neue Felder der Wahrnehmung einzutreten sei es u.U. erforderlich (8.4.1) Arbeit an der Grenze zu betreiben. Denn wenn „es gelingt die Verlegenheit und Unsicherheit zuzulassen und zu akzeptieren und wenn die Grenzen erst einmal erkannt und anerkannt werden, dann gelingt auch der Kontakt mit dem Unbekannten“ (78).
Im Kapitel (8.5) Psychosoziale Behandlungs- und Unterstützungsformen wird aufgeführt, welche Komponenten bei CED dienlich sind. Dazu zählt F. Stöhr das Auffangen und Halten des Patienten mit dem Ziel, Gefühle und Erlebnisse in Worte zu fassen (8.5.1) Containment; die (8.5.2) Stressbewältigung; (8.5.3) Resilienz und Ressourcenaktivierung, sowie Strategien zur Bewältigung und allgemeinem Umgang mit CED (8.5.4) Coping und die Verbindlichkeit des Patienten zur Einhaltung von therapeutischen Anweisungen/Verhaltens-hinweisen (8.5.5) Compliance / Adhärenz (siehe näheres unter Diskussion)
(9) Musiktherapeutische Verfahren zur psychosozialen Behandlung und Unterstützung dienen vordergründig als Medium zum Abbau von Stress, bzw. um die Lebensqualität zu verbessern. Das unmittelbare, spontane, lustvolle, spielerische, freudvolle und kreative Ausleben in der musiktherapeutischen Improvisation wird deutlich hervorgehoben. Ebenso, dass Prozessverläufe abhängig von Absprachen und Wünschen der Patienten (vgl. Adhärenz) zu betrachten sind. Im Kapitel (9.2) Achtsamkeits- und Wahrnehmungsübungen mit Musik beeindruckt das Fallbeispiel (S.98), das schildert, wie körperliche Beschränkungen (Stuhldrang) mittels musiktherapeutischer Improvisation – zumindest für eine gewisse Zeit – aufgelöst werden und motivationale Kräfte frei werden. Gleiches gilt für (9.3) Rhythmus, in dem Teilnehmerinnen ihre dienlichen Erfahrungen aus der musiktherapeutischen Improvisation (hier mit Trommeln) schildern. Das musikalische Element „Klang“ (9.4) wird optional als stimulierende Klangerfahrung im Moment beschrieben. Aus der Praxis wird die „Begegnung mit dem Gong“ (9.4.1) mit affirmativen Fragen eingeleitet, welche die Teilnehmer in Bezug auf Nützlichkeit bzgl. CED ausrichten sollen. Resonanz zum Schwingungsverhalten des Gongs ist ein weiterer wesentlicher Faktor, der benannt wird.
Klangmassagemeditation & Klangreisen (9.4.2) dienen den geschilderten Erfahrungen nach dazu, um das emotionale Gleichgewicht zu erlangen. Zu dem können von den Betroffenen Blockaden spürbar werden, Verspannungen gelöst werden, Stressreduktionen erfahren werden, u.v.m. Die Stimme und Vokalatmung (9.4.3) wird – mit Hinweis auf F. Perls - dazu benutzt um dem Stimmklang besondere Beachtung zu schenken.
Im Kapitel 9.5 Imagination & Visualisierung mit Musik geht es um das Hören und Erleben von Musik unter der Prämisse des nach innen gerichteten, tranceartigen, hypnoiden Bewusstseinszustandes. Hier werden rezeptive musiktherapeutische Methoden, wie die klanggeleitete Trance nach Strobel, das GIM (Guided Imagery and Music) und das Holotrope Atmen aufgegriffen.
Dem Feld der musikalischen „Improvisation“ und des „Flow“ (9.6) sollte nach F. Stöhr großer Raum zuteil werden, um aus dem freien Spiel heraus weitere individuelle Ressourcen zu erfahren. Dieses schöpferische Wirken (Aldridge) kann Heilungskräfte stärken. Wird ein Zustand erreicht, der Handlung und Bewusstsein quasi selbstverständlich zusammenführt, wird von „Flow“ gesprochen (Csikszentmihalyi). Ziele der musikalischen Improvisation können sein: Ich-Grenze erweitern; Muster des Erlebens und Verhaltens finden; Motivation steigern; neue Strukturen und Sichtweisen zu entwickeln; Toleranzschwellen erhöhen, mehr Lebensfreude entwickeln.
Die Sinneserfahrung „Stille“ (9.7) soll dazu dienen, die Sinne wieder in Kontakt zu bringen. Auf die kontraproduktiven Aspekte zur Stille: Unsicherheit, Angst, Ratlosigkeit und Aggression als Faktoren des Widerstandes wird hingewiesen.
Dem gegenüber geben „Musikalische Rituale“ (9.8) Orientierung und strukturieren die musiktherapeutischen Einheiten. Der Blick auf weitere bedeutende ästhetische Verfahren im Kapitel 9.9 „Musik und andere kreativen Medien“ weist F. Stöhr auf die Eigenschaften der Medien (etwa: bleibend vs vergänglich) hin und bettet die jeweiligen inhärenten Aspekte in den Kontext Nützlichkeiten für den CED-Patienten ein. „Manche Patientinnen müssen mehr in die Bewegung kommen, um sich körperlich wahrzunehmen, das heißt, die kinästhetische Wahrnehmung steht dann im Vordergrund. Ich-schwache Menschen finden im Gegensatz zum malen die Musiktherapie als angenehmer (S. 115 mit Bezug auf Schmidt/Kächele).
In der Diskussion und dem Ausblick (10) fasst Stöhr zunächst die vorangestellten Kapitel zusammen (10.1) mit Kernbegriffen, wie psychosoziale und unterstützungsgebende Unterstützungsformen, wie Containment, Form der Stressbewältigung, Stärkung der Resilizien und Ressourcenaktivierung, Coping und Compliance (Adhährenz) (S. 117); und weist dabei auf grundsätzliche Verfahren hin (z.B.: Einzel- oder Gruppentherapie, Patient-Therapeut-Beziehung).
Um die von F. Stöhr zusammengetragenen Erkenntnisse in einem wissenschaftlich würdigen Rahmen betrachten zu können, weist der Autor auf die Notwendigkeit „weiterer Forschungsarbeiten“ (10.3) arbeiten hin, die die Konzeption und Akzeptanz verifizieren oder aber falsifizieren um den Einfluss der Musiktherapie bei CED-Patienten zu überprüfen.
Letztlich werden mit den „Forderungen“ (10.4) Notwendigkeiten zum Gelingen des vorgestellten Konzepts benannt, die wiederum derzeitig vielfach auf gesellschaftspolitische Barrieren stoßen.
Inhalt
Das vorliegende Fachbuch beschreibt zum einen aus der Betroffenensicht und zugleich aus der Wahrnehmung des (Musik-/Gestalt-)Therapeuten die Phänomenologie. Die Ein- und Ausgrenzung des thematischen Sachverhaltes wird schnell deutlich. Es geht nicht in erster Linie darum mit musiktherapeutischen Mitteln CED-Erkrankten eine Optimierung ihres Krankheitszustandes zu ermöglichen. Dies darf jedoch ein Begleiteffekt sein. Es geht vielmehr darum, dass die sozialen Nöte (Krankheitsverarbeitung, -bewältigung, wie soziale Isolation) der CED-Erkrankten mit musiktherapeutischen Mitteln aufgegriffen werden und eben diese Nöte in der Form behandelt werden, dass eine Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen angestrebt wird. Hierzu sollen aus der musiktherapeutischen Improvisation „Muster für neue Prozesse“ (Kap. 3 Zielvorstellungen S.23) herausgefunden werden, die dem Patienten helfen sollen, überhaupt zu erkennen, was für ihn selbst „wesentlich“ sei.
Die Schilderungen der Krankheitsbilder der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) „Morbus Cron“ (MC) und „Colitis ulcerosa“ (Cu) sind für die Thematik von großer Relevanz. F. Stöhr beschreibt, wodurch das Leben mit CED den Patienten eine hohe Frustrationstoleranz abverlangt. „Bei häufigen Stuhlgängen bis zu 40x und mehr am Tag, ist es kein Wunder, wenn sie sich zurückziehen und Aktivitäten unterlassen, die sie gern tun würden. Für die Personen der näheren Umgebung als auch für die Öffentlichkeit ist diese nicht-sichtbare Behinderung oft nicht nachvollziehbar“ (S. 28).
Die Themen der Komorbiditäten und Folgekrankheiten vermitteln dem Leser plausibel mögliche Ergänzungen der bereits bestehenden sozialen Dramatik der CED-Patienten. „Angststörungen und Depressionen bei einer CED“ sind die häufigsten Diagnosen psychischer Störungen, wenn es um psychische Komorbiditäten geht. Das heißt, die durch CED hervorgerufenen neuen Lebensereignisse sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten und die Art dieser Störungen zu erklären“ (S. 29). Auch im somatischen Bereich sind Folgeerkrankungen, wie z.B. Osteoporose, „die nach einer über Jahre hinweg hoch dosierten Kortisonstherapie auftreten kann“ (S. 29) gegeben.
Diskussion
F. Stöhr hat auf Grund seiner CED-Betroffenheit eine wissenschaftlich betrachtet, schwierige Ausgangsposition. Befangenheit vs. Neutralitätsgebot. Trotz dieser Fragestellung bleibt F. Stöhr in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema wissenschaftlich seriös und wahrt die Distanz. Die Struktur der Arbeit und der Fokus auf „musiktherapeutische Verfahren zur psycho-sozialen Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung von CED“ werden mit einer sachdienlichen Gliederung geschickt geführt. In jedem Kapitel ist der Kontext zum Thema für fachlich versierte und fachfremde Leser nachvollziehbar. Allerdings würde das technische Mittel „Abkürzungsverzeichnis“ gelegentlich hilfreich sein, sowie ein „Glossar“ um fachfremden Lesern einige Mühen zu ersparen.
Kritische Auseinandersetzungen finden an geeigneten Stellen statt und Alternativen werden, wo sie denn bekannt sind, vorgestellt. Beispielhaft sei hier das Kapitel 8.5.5 Compliance/Adhärenz genannt.
In schlüssiger Art und Weise weist F. Stöhr auf in der Praxis häufig „einseitig verlangtes“ Compliance-Verhalten (mehr Gehorsam und paternalistischer Anweisung) seitens der Mediziner hin und bemängelt das außer Acht lassen des möglichen Mehrwissens der Patienten. Kooperation wird allein vom Patienten verlangt, in dem er Folge leistet. Es wird unkritisches und unmündiges Verhalten erwartet. Folglich begrüßt F. Stöhr den semantisch eher hierarchisch als strukturell zu verstehenden Begriff „Compliance“ durch „Adhärenz“, sprich eine respektvolle wechselseitige Beziehung, zu ersetzen. Das Einbinden des Patienten in die Gestaltung des therapeutischen Verlaufs wird eine größere Aussicht auf Einhaltung des gemeinsam entwickelten Planes haben. Darüber hinaus hätte hier angebracht werden können, dass die häufige CED-Folgeerkrankung „Depression“, mit dem Symptom der Antriebsschwäche, es diversen Patienten kaum ermöglicht einem aufoktroyierten Plan Folge zu leisten.
Die verschiedenen musiktherapeutischen Verfahren und die dienlichen Fallbeispiele im Kapitel 9 lassen klar erkennen, dass eine psychische Entlastung durch musiktherapeutische Interventionen (freie mthp Improvisationen) entstehen kann. Ein Effekt der Stärkung des Selbstwertgefühls und damit größere Resilienz werden offensichtlich. Ein Aspekt, der leider nicht geschildert wird, ist der, dass die Frequenzen des Gongs (9.4 Klang) gerade auf CED-Patienten auch eine somatische Auswirkung haben wird. Hier bleibt offen, ob durch die Schwingungen des Gongs der Bauchraum „geordnet“ wird oder durch die Konfrontation mit Schallwellen „ängstlich“ reagiert.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass mit vorliegendem Fachbuch ein fundiertes und zugleich feinfühliges Buch zur Thematik geschrieben worden ist, das weitere Autoren aus dem Fachbereich ermutigen sollte sich des Themas zu widmen.
Fazit
Die Lebensbedingungen von CED-Patienten werden von F. Stöhr in vielschichtiger Form dargestellt. Die medizinische Bewertungen von CED, die psychischen Folgeerscheinungen und die Konsequenzen für den Alltag werden nachvollziehbar vorgestellt. Der Aspekt der im BRD-Gesundheitssystem relevanten Klassifizierung von CED und die Problematik der individuellen Ausprägungen der Patienten weisen auf eine weitere Dramatik hin.
Der Stand der Forschung wird zusammengefasst, Pro und Contra bekannter Studien zur Sache werden mit Kernaussagen transparent vermittelt und weitere Forschungsfelder werden in Aussicht gestellt.
Therapeutische Verfahren, im Speziellen Musiktherapeutische Verfahren und praktische Rückmeldungen der Betroffenen weisen auf mögliche Hilfen zur Verbesserung der Lebensqualität von CED-Patienten hin. In diesem Kontext werden die gesellschaftlichen Hürden zum Erhalt von Unterstützung kritisch beleuchtet.
Rezension von
Dr. Frank Henn
Erziehungswissenschaftler, Sozialpädagoge, Musikpädagoge, Musiktherapeut DMtG zertifiziert), Heilpraktiker – Psychotherapie
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