Michaela Evers-Wölk, Michael Opielka: Neue elektronische Medien und Suchtverhalten
Rezensiert von Michael Christopher, 07.02.2017
Michaela Evers-Wölk, Michael Opielka: Neue elektronische Medien und Suchtverhalten. Forschungsbefunde und politische Handlungsoptionen zur Mediensucht bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2016.
170 Seiten.
ISBN 978-3-8487-3341-5.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR.
Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag: Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Band 43.
Thema
Mit der zunehmenden Bedeutung von Medien im Alltag wird das Thema Medien und Suchtverhalten in den letzten Jahren verstärkt in der gesellschaftlichen Diskussion behandelt. War es, insbesondere mit dem Aufkommen des Privatfernsehens, erst die intensive Nutzung von Fernsehern, die kritisch beäugt wurde, kamen mit der Verbreitung des Computers weitere Spielarten an Sucht erinnerndes Verhaltens auf. Seitdem Medien zunehmend mobil geworden sind, ist die Handy- oder Smartphone-Sucht ein ernsthaft diskutiertes Phänomen der Mediengesellschaft geworden. Zu diesen Themen geben die Autoren Michaela Evers-Wölk und Michael Opielka einen Überblick zu Studien zum Thema Mediensucht.
Autorin und Autor
Michaela Evers-Wölk ist Kommunikationswissenschaftlerin und Forschungsleiterin des Clusters Zukunftsforschung und Partizipation am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Hier befasst sie sich mit den Entwicklungsbedingungen, Wirkungszusammenhängen und Folgen des Einsatzes von Informations- und Kommunikationstechnologien in Wirtschaft und Gesellschaft.
Michael Opielka war bis 2016 wissenschaftlicher Direktor und Geschäftsführer des Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung und arbeitet momentan als Sozialwissenschaftler und Hochschullehrer mit den Arbeitsschwerpunkten Sozialökologie und Sozialpolitik an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und Universität Bonn.
Entstehungshintergrund
Das Buch wurde als Studie vom Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag erstellt, um politische Handlungsmöglichkeiten auszuloten und den Abgeordneten wissenschaftliche Hintergrundinformationen für etwaige Gesetzesentwürfe oder ähnlichem zu geben.
Aufbau und Inhalt
Das besondere an diesem Text ist eine sechzehnseitige und damit sehr ausführliche Zusammenfassung des Buches mit einer klaren Handlungsanweisung. Diese für ein Buch ungewöhnliche Struktur ist dem Zielpublikum geschuldet. Sowohl die Zusammenfassung als auch der Hauptteil des Buches gliedert sich in sechs Kapitel.
Im Kapitel Sucht und Gesellschaft untersuchen die Autoren die Zusammenhänge von der Entwicklung des Begriffes der Sucht und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung. Dabei erkennen sie eine Ausdehnung des Suchtbegriffes von Drogen induzierte Süchte auf stoffungebundene Süchte. Wichtig ist der Hinweis, dass der Suchtbegriff „kulturell geprägten Deutungsmustern und Konstruktionsprinzipien“ unterliege und daher „abhängig von Konzepten der Normalität“ sei (S. 8). Die Autoren stellen verschiedene Perspektiven (psychologisch, bildungstheoretisch, soziologisch, biografisch-pädagogisch sowie metatheoretisch) auf den Suchtbegriff vor.
In dem Kapitel Neue Elektronische Medien und Suchtverhalten nähern sich Evers-Wölk und Opielka dem eigentlichen Thema. Eine allgemeingültige Definition von Mediensüchten konnten die Autoren bislang nicht ausmachen, doch versuchen sie sich über die einzelnen Themen dem Begriff spezifisch zu nähern. Sie beschreiben die allgemeine Internetsucht (starke zeitliche Nutzung des Internets ohne spezielle Präferenz zu Internetanwendungen) als Verhaltenssucht sowie die Onlinespielsucht und ihre körperlichen und sozialen Folgen. Die Social-Network-Sucht sei bislang unspezifisch diskutiert worden und eher anhand der einzelnen Anwendungen wie What´s App oder Facebook auszumachen, habe jedoch eine steigende Relevanz in der heutigen Zeit erhalten. Die Online-Sex-Sucht wurde bislang als eigenständige Diagnose weniger untersucht und man bediene sich daher an den Kriterien der allgemeinen Sexsucht. Auch bei der Onlinekaufsucht gebe es keine klaren Kriterien, da sie als Störungsbild nicht einheitlich beschrieben worden sei. Die Glücksspielsucht an sich ist bereits seit 1992 als eigenständiges Krankheitsbild durch die WHO aufgenommen worden. Der Begriff der Onlineglücksspielsucht orientiere sich daran nah.
Die Bedeutung der Mediensucht für Kinder und Jugendliche ist ein besonderes Anliegen der Autoren. Sie beschreiben aus entwicklungspsychologischer Sicht den Umgang von Kinder und Jugendliche mit den Medien. Die Nutzung von Musik und Filmangeboten sowie die Interaktion mit Computerspielen seien für Kinder prägend. Darüber hinaus sei hier eine sekundäre Sozialisation durch andere Kinder im Gange, die sich für die Generation der Eltern oft nicht erschließe (117). Häufig sei daher exzessives Spielverhalten eher eine erzieherische Herausforderung statt einer therapeutischen (121), obwohl die potentielle Problematik für Kinder von den Autoren nicht bezweifelt wird. Auch hier wird von Evers-Wölk und Opielka das Fehlen von einer gewissen Anzahl von eindeutigen wissenschaftlichen Studien bemängelt, so dass die teils gegensätzlichen Studienergebnisse klare Antworten vermissen lassen.
Zu Interventionen und Therapien in Bezug auf die Behandlung von Mediensüchten seien bislang keine validen Wirkungsstudien verfügbar. Dennoch beschreiben die Autoren verschiedene Ansätze von Therapien wie psychoanalytische Verfahren, Suchtberatungsstellen als niederschwelliges Angebot, Selbsthilfeangebote wie auch systemische Therapien und Beratungen. Dabei sei das Thema Mediensucht von Seiten der Eltern (Kinder sind generell zu oft im „Internet unterwegs“) und von den Medien meist überdramatisiert.
Jedoch wird von Seiten der Autoren nahegelegt, Kinder und Jugendliche bereits früh mit dem Thema zu sensibilisieren und neben ihren allgemeinen Lebens- und gesundheitlichen Kompetenzen insbesondere ihre Selbstregulierungskompetenzen aufzubauen. Dabei sei die Kommunikation in der Peer-Group bedeutend.
Evers-Wölk und Opielka stellen des weiteren aus einem Stakeholder Panel eine Online-Umfrage unter 2560 Teilnehmern aus Wissenschaft (20%), interessierten Einzelbürgern (24%), der Politik (8%), Zivilgesellschaft (5%), Medien (4%), Wirtschaft (5%) usw. vor.
Aus ihrer Studie versuchen die Autoren Michaela Evers-Wölk und Michael Opielka folgende Handlungsoptionen für die Gesellschaft, Politik und Wissenschaft abzuleiten:
- Verbesserung der wissenschaftlichen Erkenntnislage in Bezug auf vergleichbare Studien, insbesondere auch langfristige sowie Evaluationen zu Therapien.
- Stärkung des gesellschaftlichen Diskurses zur Klärung, wo der Schwellenwert zwischen Normalität und Sucht liege.
- Diskussion der Mediensucht als eigenständiges Krankheitsbild zwischen den psychiatrischen Disziplinen und der Jugendforschung.
- Stärkung der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, insbesondere in der Anwendung des Jugendschutzes.
- Verbesserung der Prävention zur Verhinderung von Mediensucht und der Einbeziehung der relevanten Berufsgruppen wie Sozialarbeiter.
- Verbesserung der psychosozialen Versorgungsstruktur, im Ausbau der Angebote wie auch in der Einheitlichkeit der Standards der Behandlung.
Die Autoren stellen mögliche Diagnosekriterien sowie Fallbeispielen vor und gehen intensiv auf die einzelnen Punkte ein.
Diskussion
Michaela Evers-Wölk und Michael Opielka diskutieren tief und fächerübergreifend das Phänomen der verschiedenen Spielarten der Mediensüchte. Es ist ein guter empirischer Überblick zu den vielen Studien zu Medien und Suchtverhalten. Da die Studienlage jedoch für klare Aussagen der Autoren in ihrer Einschätzung ungenügend sei, geben sie als wichtigste Erkenntnis ihre Forderung nach besserer wissenschaftlichen Datenlage.
Das Buch hat auf den ersten Blick keine neuen Erkenntnisse zu bieten, aber das war auch nicht das Ziel des Textes. Dabei haben die Autoren die Fallstricke der Diskussionen um Mediensüchte sehr genau im Blick. Ihre Erkenntnisse stehen auf einem breiten Fundament. Hier zeigen sie, wie die einzelnen Fachdisziplinen im Tauziehen um die Deutungsmacht zur Definition von Mediensucht agieren. Dabei gibt es von Seiten der Kinder und Jugendlichen selber eine kritische Betrachtung des Themas, den die Autoren mit in die Diskussion eingebracht haben. Die Existenz von Medien ist ein Fakt und ihre Weiterentwicklung und Durchdringung der Gesellschaft vorauszusehen. Dass Erwachsene das Mediennutzungsverhalten ihrer Kinder verunsichert, liegt dabei auf der Hand, dass dieses zu sehr problematisiert wird ebenso.
Dabei wird von den Autoren nicht widersprochen, dass ein problematisches Medienverhalten existiert. Mit der Aufnahme dieses Medienverhaltens in Diagnosecluster erhält es jedoch eine andere gesellschaftliche Relevanz, von der Anerkennung der Therapie durch die Krankenkassen, einer möglichen Erwerbsunfähigkeit bis zu dem Problem der Frage nach der Schuldfähigkeit in Strafprozessen. Diesem gesellschaftliche Dilemma wurde in dem Buch Beachtung geschenkt. Es ist auch zu befürchten, dass mit der Aufnahme eines problematischen Medienverhaltens als Kategorie von Sucht, dass die gesellschaftliche Verantwortung auf das Individuum zurückgegeben wird.
Im Sommer 2016 konnte man bei dem aktuellen Medientrend des Online-Realty-Games Pokemon-Go die Verzahnung von wirtschaftlichen Interessen bei der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen sehen. Dessen Aufkommen löste eher eine harmlose Belustigung aus – „wenigstens sind die Kinder an der frischen Luft“ – obwohl hier hauptsächlich wirtschaftliche Ziele eines Unternehmens mit der Hilfe eines Spiels mit Suchtpotentials propagiert wurde. Einkaufszentren lotsten Spieler in ihre Häuser, um sie zu halten und ihren Umsatz zu steigern. Wobei hier weniger das Spiel selber im Fokus stehen muss, als der Träger des Spiels: Das Smartphone. Mit What´s App oder Facebook beschränkt sich die Mediennutzung mittlerweile nicht nur auf zu Hause, sondern wird zum Überall-Phänomen, in dem auch die Eltern oftmals ihren Kindern eine unkritische Nutzung vorleben. Dabei geht es nicht nur um das viel beschriene Thema des Datenschutzes, sondern wie sehr man sich von Medien in seinem Verhalten abhängig macht.
Die Forderungen der Autoren sind klar:
- Kinder und Jugendliche in ihrer Medienkompetenz stärken
- Klarheit zum Begriff der Mediensucht / Wo ist die Grenze zwischen Sucht und Normalität?
- deutliche Diagnosekriterien
- Verbesserung der wissenschaftlichen Datenlage
- Evaluation von Therapiemethoden
Hiermit unterstreichen Michaela Evers-Wölk und Michael Opielka das Dilemma in der Diskussion. Viele Experten geben eine Meinung zum Thema kund, Medien untermauern in Berichten die Panik vor den Medien und die Eltern wissen nicht, was ihr Nachwuchs medial so treibt. Da sich die Medien immer schneller wandeln (wer spricht heute noch von Fernsehsucht bei Jugendlichen, wo es doch mannigfaltige Onlineangebote gibt), wird das Thema weiter schwelen. Umso wichtiger ist es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Hierbei hilft das Buch etwas.
Fazit
Das kleine Buch von Michaela Evers-Wölk und Michael Opielka ist eine lohnende Überblickstudie zum Thema Medien und Sucht, die sowohl die kritischen (Mediensucht als soziale Konstruktion) als auch die befürwortenden Stimmen (Mediensucht als Krankheit) berücksichtigt. Teils schwelgt das Buch in Fachtermini und den unterschiedlichen Studien, dennoch schaffen die Autoren ein rundes und gut lesbares Werk.
Für Leser, die schnellen Input benötigen, dient die prägnante Zusammenfassung auf den ersten Seiten sehr gut. Leider geht dadurch das Neue an Erkenntnissen im vertiefenden Teil verloren. Das ist schade, da im Hauptteil die Themen intensiver behandelt werden. Das Buch eignet sich für jeden, der sich mit dem Thema Mediensucht beschäftigen möchte.
Rezension von
Michael Christopher
Filmwissenschaftler, Theaterwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift manycinemas
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Zitiervorschlag
Michael Christopher. Rezension vom 07.02.2017 zu:
Michaela Evers-Wölk, Michael Opielka: Neue elektronische Medien und Suchtverhalten. Forschungsbefunde und politische Handlungsoptionen zur Mediensucht bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2016.
ISBN 978-3-8487-3341-5.
Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag: Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Band 43.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21125.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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