Juliane Sagebiel, Sabine Pankofer: Soziale Arbeit und Machttheorien
Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Lambers, 21.09.2016
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Juliane Sagebiel, Sabine Pankofer: Soziale Arbeit und Machttheorien. Reflexionen und Handlungsansätze. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2015. 275 Seiten. ISBN 978-3-7841-2616-6. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,50 sFr.
Thema
Mit dem Buch möchten die Autorinnen einen verständlichen und dennoch theoretisch gehaltvollen Überblick über Fragen der Macht in der Sozialen Arbeit geben. Dabei soll es aber nicht nur um einen Aufriss sozialphilosophischer, soziologischer und sozialarbeitswissenschaftlicher Theoriebildung zur Machtthematik gehen. Vor allem ist den Autorinnen daran gelegen, dass es der Sozialen Arbeit als Profession gelingen sollte, ein reflektiertes und kritisches Machtbewusstsein zu entwickeln. Hier wird Sozialer Arbeit deutlicher Nachholbedarf attestiert.
Autorinnen
Juliane Sagebiel (Dr. phil.) ist Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften München und Ehrenprofessorin der Universitatea de Vest in Timisoara (UdV) (Rumänien). Ihre Arbeits- und Lehrschwerpunkte sind: Geschichte und Theorien der Sozialen Arbeit, Internationales/ Interkultureller Dialog, Systemtheorien, Machttheorien und Teamberatung.
Sabine Pankofer (Dr. phil.) ist Professorin an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München für das Lehrgebiet Psychologie in der Sozialen Arbeit. Ihre weiteren Lehr- und Arbeitsschwerpunkte sind: Berufsbezogene Selbsterfahrung, Theorien der Sozialen Arbeit, Forschendes Lernen und interkulturelle Praxisprojekte.
Entstehungshintergrund
Die Autorinnen stellen aus ihrer eigenen Praxis- und Lehrerfahrung heraus fest, dass sich Soziale Arbeit als Profession und Wissenschaft „nicht so leicht tut mit der Macht“ (S. 23). Allgemein eher negativ konnotiert, vielleicht auch aus dem relativ machtlosen Selbsterleben Sozialer Arbeit heraus, würde sie die Machtthematik allzu leichtfertig beiseite drängen. Dem wollen die Autorinnen mit ihrem Lehrbuch entgegentreten. Es soll dazu dienen, Sozialer Arbeit „Lust auf Macht zu machen“ (S. 21) und ihr dabei helfen, theoriegestützt „ein reflektiertes und kritisches Machtbewusstsein“ (ebd.) entwickeln zu können.
Aufbau und Inhalt
Kapitel 1: Soziale Arbeit und ihr Verhältnis zur Machtthematik. Einleitend wird das Verhältnis Sozialer Arbeit zur Machtthematik skizziert. Die Autorinnen stellen fest: Von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. S. Staub-Bernasconi, B. Kraus, W. Krieger, E. Engelke), wird die Machtthematik relativ selten in den Mittelpunkt des Fachdiskurses gestellt. Im Ergebnis sei ein ambivalentes Verhältnis zur Machtthematik auszumachen. Um diese Ambivalenz genauer zu markieren, greifen die Autorinnen zu einem interessanten Stilmittel: Fiktion. Das geschieht recht humorvoll, indem die Soziale Arbeit auf die Anklagebank zitiert wird. Anklagevorwurf: „Nichtbeachtung des eigenen Verhältnisses zur Macht oder einseitige Wahrnehmung von Macht, Unterschätzung eigener Machtpotenziale mit der Konsequenz der Nichtwahrnehmung eines politischen Mandats.“ Anklägerin ist übrigens die Macht selbst. Für sie könnte der Prozess nicht besser laufen, wird die Soziale Arbeit doch dazu verurteilt, sich in jeder Hinsicht lebenslänglich mit ihr zu beschäftigen. Nach diesem Auftakt wird es dann ernst.
Zu Kapitel 2: Machttheoretische Konzepte und ihr Nutzen für die Soziale Arbeit. Als Einstieg in die Auseinandersetzung mit der Machtthematik wird eine Auswahl von Machttheorien vorgestellt. Geboten wird eine Einführung in Thematisierungen überwiegend soziologischer Theoriebildungen. Die Wahl fiel hierbei auf Max Weber, Karl Marx, Heinrich Popitz, Hannah Arendt, Niklas Luhmann, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Judith Butler. Hier musste man sich – was die Auswahl angeht – beschränken, zumal in einem nachfolgenden Teil die machttheoretischen Reflexionen aus der Theoriebildung der Sozialen Arbeit vorgestellt werden. Das sind Silvia Staub-Bernasconi, Björn Kraus, Saul Alinsky, sowie zusammenfassend ein Überblick über den Empowerment-Ansatz, gefolgt von kritisch-materialistischen Ansätzen mit Vertretern eines Wiederbelebungsversuches kritischer Sozialarbeit. Abschließend wird eine hilfreiche Darstellung der vorgestellten Ansätze in einer zusammenfassenden Matrix vorgenommen.
Kapitel 3: Analyse von Machtprozessen in der Sozialen Arbeit. Das Lehrbuch wird im dritten Teil praktisch. Es werden drei verschiedene Systematiken angeboten, die zur Erfassung und Analyse von Machtprozessen in der Sozialen Arbeit eingesetzt werden können. Erstens werden verschiedene Reflexionsebenen (Subjekt, Beziehung, Organisation und Gesellschaft) mit jeweils eigenen Macht-Analysethemen angesprochen. Zweitens wird ein auf Staub-Bernasconi und Geiser aufsitzendes Fragemodell vorgestellt. Im Kern geht es dabei um ein praktisches Instrument der Machtquellenanalyse, das im zweiten Schritt – nach der Entdeckung von Machtverhältnissen – der Entwicklung von Bewältigungsstrategien dienen soll. Drittens wird eine „Kurz-Checkliste“ (S. 178) vorgestellt. Hierbei werden aus der Brille der in Kapitel 2 vorgestellten Theorieprotagonisten ableitbare Fragen formuliert. Auf diese Weise entsteht ein interessanter Fragekanon, auf den in seiner Fülle niemand der Protagonisten allein hätte kommen können. Ein interessanter Beleg im Übrigen dafür, dass Theorien immer verkürzen (müssen).
Kapitel 4: Machtanalyse konkret. Anhand von exemplarischen Fallbeschreibungen werden nun Machtanalysen auf der Basis der zuvor in Kap. 2. vorgestellten Machttheorien vorgestellt. Die in Kapitel 3. eingeführten Reflexionsebenen – Subjekt, Interaktion, Organisation und Gesellschaft – sollen dabei wiederverwendet und jeweils in einem Fall von Klient, Team, Verein und Sozialpolitik durchdekliniert werden.
Kapitel 5 und 6: Soziale Arbeit auf den Bühnen der Macht und abschließende Gedanken. Soziale Arbeit als Profession und Wissenschaft wird abschließend selbst einer Machtanalyse unterzogen. Machtspezifische Fragen werden entlang der Professionalisierungsdebatte aus historischer und genderspezifischer Perspektive beleuchtet. Anschließend geschieht Gleiches mit dem Ausbildungssystem der Sozialen Arbeit. Das Buch schließt mit einem deutlichen Plädoyer für die Auseinandersetzung mit dem Thema Macht, ganz im Sinne der eingangs geführten Anklage und Urteilsverkündung. Der nietzscheanisch anmutende Aufruf lautet: Macht doch was Ihr wollt!
Diskussion
Das ‚Anklageprojekt‘ ist gut gelungen. Gewinnbringend ist, dass es darin nicht nur um die Vorstellung von Theorien geht, die sich mit der Machtthematik befassen, sondern dass auch ein Versuch unternommen wird, ihre Bedeutungen für die Soziale Arbeit in einigen Aspekten herauszuarbeiten und einer zusammenfassenden kritischen Würdigung zuzuführen. Das ist schwieriges Terrain, aber für Studienzwecke sicherlich sehr gewinnbringend, geht es hierbei doch immer um den zu übenden Umgang mit Sach- und Werturteil. Die Differenz von Sachurteil und Werturteil kann sicher nicht immer gelingen; so erscheint der Vorwurf an Popitz, dass in seiner Theorie die Genderperspektive fehlt, in der Zeitdimension etwas fraglich.
Ansonsten ist es den Autorinnen sehr gut gelungen, das Problem der Werturteilsgebundenheit zu lösen. Eine Anregung vielleicht, die lediglich die Form betrifft: Für die zweite Auflage wäre zu wünschen, dass die gewählte Darstellungssystematik auch stringent eingehalten wird. Das ist leider nicht immer der Fall, so z.B. bei Foucault und beim Empowermentansatz, bei denen die Bedeutung für die Soziale Arbeit nicht wie in den anderen Fällen vor, sondern nach der kritischen Würdigung platziert wird. Anders wiederum bei Alinsky, bei dem die kritische Würdigung und die Bedeutung für die Soziale Arbeit zusammen thematisiert werden oder bei Karl Marx, der auf eine kritische Würdigung ganz verzichten muss.
Mit den kritischen Würdigungen und Schlussfolgerungen für die Bedeutung in der Sozialen Arbeit muss man nicht immer einverstanden sein, aber man kann sie gut verstehen. Das liegt vor allem daran, dass sie überwiegend diskursoffen und nicht belehrend vorgetragen werden. Das hält die Chance für anschlussfähige Kommunikation hoch. Bei der getroffenen Auswahl der „Machttheorien“ vermisst der Eine oder Andere sicher schnell Norbert Elias und Zygmund Bauman. Die Autorinnen weisen selber darauf hin, dass sie deren und weitere Auslassungen bedauern, und an dieser Stelle allerspätestens fallen einem weitere Vertreter ein, wie z.B. Jürgen Habermas und Axel Honneth, die der Kritik der Macht das Wort reden. Selektivität ist zwar niemals zu umgehen, aber die konzeptuellen Beweggründe für Ein- und Ausschluss bleiben ohne nähere Erklärungen etwas verborgen. Da es auch um kritisches Machtbewusstsein gehen soll, leuchtet nicht ganz ein, weshalb Vertreter einer Kritik der Macht nicht stärker berücksichtigt werden.
Das Kapitel „Machtanalyse konkret“ schließlich macht sehr neugierig, geht es hier doch um konkrete wissenschaftsorientierte Anwendungszusammenhänge. Sehr logisch erscheint, dass in den vier Fallanalysen (Klient, Team, Verein, Sozialpolitik) die in Kapitel 3 eingeführten Reflexionsebenen von Subjekt, Interaktion, Organisation und Gesellschaft explizit wiederverwendet werden sollen (S. 183). Diese Systematik wird aber nur in den Fallbeschreibungen Team und Sozialpolitik eingehalten. Die Fälle Klient und Verein werden davon sehr abweichend durchdekliniert. Das schafft Verwirrung und sollte in einer späteren Auflage geklärt werden.
Abschließend ein Hinweis zum Plädoyer, das die Autorinnen mit ihrem Lehrbuch für die Beschäftigung mit der Machthematik durchgängig halten. Bei aller Passion für das Thema wäre zu wünschen, nicht nur der Unterscheidung von guter Macht/schlechter Macht zu folgen. Auch sollte es darum gehen, die im Machtmedium verborgene Ambivalenz – oder besser: Paradoxie – in den Blick zu nehmen. Wir erkennen sie z.B. daran, dass positive, machtbewusste Eigenschaften, die zu Machtgewinn führen, meist verloren gehen, sobald die errungene machtvolle Position unumstritten oder unabweisbar wird. Die Reflexion von Macht als eine Universale gesellschaftlicher Existenz (Luhmann) kommt daher um die Konfrontation mit sich selbst nicht herum. Die Thematisierung nicht nur der Stärke, sondern auch der Schwäche der Macht wäre der Weiterentwicklung des Lehrbuches zu wünschen.
Fazit
Es macht Freude, das Buch zu lesen. Sie stellt sich selbst dann ein, wenn man nicht mit allem einverstanden ist, was darin vertreten wird. Studierende dürften mit dem Lehrbuch eine einladende und gewinnbringende Lektüre in den Händen halten. Das liegt nicht nur an der verständlichen Übersetzung sozial- und gesellschaftstheoretischer Abstraktionsakrobatik, sondern vor allem an dem überzeugend positiven und fröhlichen Sprachduktus der Autorinnen, die mit unaufdringlichem Pathos daher kommen und dabei niemals ins Oberflächliche abdriften. Es ist ein Gewinn für die Wissenschaft der Sozialen Arbeit, dass das Thema Macht nicht nur in der Theorieentwicklung reflektiert wird, sondern dass mit dem vorliegenden Lehrbuch jetzt ein verständliches, einladendes, neugierig machendes Einführungswerk für die Studierenden vorliegt. Für sie lauert in der Tat nicht selten die Machtthematik in der Schmuddelecke gesellschaftlicher Wirklichkeit. Das Lehrbuch wird sicher dazu beitragen können, sich Irritationen aussetzen und Reflexionsgewinne in die eigenen Sinnerzeugungen einbauen zu können. Dem Buch ist eine weite Verbreitung in der Lehre zu wünschen.
Rezension von
Prof. Dr. Helmut Lambers
Dipl.Sozialpädagoge und Dipl.Pädagoge
Katholische Hochschule NRW, Abt. Münster
Lehrgebiet: Fachwissenschaft Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Helmut Lambers. Rezension vom 21.09.2016 zu:
Juliane Sagebiel, Sabine Pankofer: Soziale Arbeit und Machttheorien. Reflexionen und Handlungsansätze. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2015.
ISBN 978-3-7841-2616-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21149.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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