Birgit Papke: Das bildungstheoretische Potenzial inklusiver Pädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 12.05.2017
Birgit Papke: Das bildungstheoretische Potenzial inklusiver Pädagogik. Meilensteine der Konstruktion von Bildung und Behinderung am Beispiel von Kindern mit Lernschwierigkeiten. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2016. 210 Seiten. ISBN 978-3-7815-2111-7. D: 39,00 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema
Inklusive Pädagogik kann nach Auffassung der Autorin den Diskurs um (Allgemein-) Bildung weiter voran bringen. Darin drückt sich ihr zukunftweisendes (bildungstheoretisches) Potenzial aus. Inklusive Pädagogik kann und muss sich aber auch des logisch- historischen Gehalts des Bildungsbegriffs und der allgemeinen Pädagogik vergewissern und sich mit diesem „kritisch konstruktiv“ auseinandersetzen. Wie das gelingen könnte, davon handelt die vorliegende Schrift. Diese „(…) thematisiert den Wandel sich verändernder Vorstellungen über Bildung, Behinderung(en) und Gerechtigkeit im Bildungssystem und die damit verbundenen kontroversen Debatten und teils gegenläufigen Entwicklungen der Sonder- und Regelpädagogik (…)“, wobei sie den Versuch unternimmt, „(…) die Beitrage integrations- und inklusionspädagogischer Theorien zu einem gemeinsamen Bildungsverständnis für alle Kinder zusammenzufassen. Dabei werden die Potenziale integrations- und inklusionspädagogischer Theoriebildung deutlich und auf die aktuellen Debatten um Inklusion und Bildung als Menschenrecht bezogen“ (Klappentext hinten).
Aufbau und Inhalt
Nachdem die Autorin Bildung und das Verhältnis von Bildung und Behinderung begrifflich geklärt und methodisch begründet hat, entfaltet sie das exemplarische Moment einer westdeutschen und gesamtdeutschen Historie der Einbeziehung von Kindern mit Lernschwierigkeiten in (vor allem schulische) Bildungs- und Erziehungsprozesse.
In einem ersten Schritt wird dem Leser vor Augen geführt, wie sich traditionellen Muster in den heil- und sonderpädagogische Bildungsvorstellungen der Nachkriegsjahre insbesondere mit Blick auf die Hilfsschule und deren Selbstverständnis verfestigten. Das Verhältnis und die Interaktion dreier Akteure: Kultusministerkonferenz (KMK), Verband Deutscher Hilfsschulen (VDH) und Eltern wird dabei einer differenzierten Untersuchung und Darstellung unterzogen. Besonders plastisch erscheinen in diesem Zusammenhang die von der Autorin zitierten Aussagen des Dortmunder Sonderschullehrers Max Wittmann, der mit seiner vermeintlich „wissenschaftlichen Argumentation“ sowohl die Hilfsschulkinder (vgl. dessen Rede vom „unbegabten Stammhirntyp“ (S. 67f.), als auch deren („sich über den Zustand ihrer Kinder selbst täuschende“) Eltern herabwürdigte und damit, wie andere Verbandsvertreter auch, ein sonderpädagogisches Verantwortungspathos (erziehliche Gewährleistung des Kindeswohls, Entlastung der „normalen Schule“) kreierte, das jedoch immer dann versagte, wenn es sich mit Kindern konfrontiert sah, die als „bildungsunfähig“ eingestuft und damit ausgeschult wurden.
Die Bildungsvorstellungen der 60er und 70er Jahren hingegen waren, so die Autorin weiter, vom Gedanken der „praktischen Bildbarkeit“ geprägt. Unter den Ausgeschulten und den Leistungsanforderungen der Hilfsschulen nicht genügenden Kindern seien nicht wenige, die mit „Erziehbarkeitsresten und -reserven“ ausgestattet seien und mit dieser Welt vertraut gemacht werden könnten…und zwar in einer Weise, wie das in Analogie mit Klein- und Kindergartenkindern betrieben würde. Die (disziplinäre) Grenze geistiger Behinderung im „Reich der Bildung“ wurde folgerichtig beim Erwerb der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben und Rechnen) und „abstrakter Lerninhalte“ (S. 89f.) gezogen. Die „Schule für praktisch Bildbare“ sollte jedoch, mit Unterstützung der Elternvereinigung „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“, das Recht auf Bildung (in Überschreitung bloßer Pflege und Beschäftigung) für die geistig behinderten Kinder durchsetzen und pädagogisch ausgestalten. Wie das konkret aussah: Erziehung zur Umgänglichkeit, Selbstständigkeit, Anstelligkeit, Wahrnehmungstüchtigkeit, Darstellungs- und Handfertigkeit, Sprachtüchtigkeit, einfacher Denkfähigkeit und Fähigkeit zu gemüthafter Teilhabe, wird dem/der Leser/-in mit Auszügen aus den Schriften des Nestors der bundesrepublikanischen Geistigbehindertenpädagogik, Heinz Bach, eindrücklich vor Augen geführt (S. 94f.). Wie die Autorin schreibt, entstand im Ergebnis eine Schule, die doch gar keine war: „Die Erziehungsziele spiegeln ein restriktives, auf Nachahmung reduziertes Lern- und Bildungsverständnis. Aspekte wie Eigenaktivität, die grundsätzliche Offenheit von Entwicklungs- und Bildungsprozessen finden fast gar keinen Platz (…). Auch für diese Schulform gelten bereits in ihren Anfängen besondere Teilnahmevoraussetzungen. Sprachfähigkeit, sinnvolle Tätigkeit und ausreichende Einordnung stellen die unterrichtsorganisatorischen Minimalkriterien dar“ (S. 102). Doch: „Mit der Durchsetzung des Bildungsrechts für Kinder mit Lernschwierigkeiten wird unzweifelhaft ein wichtiger Durchbruch hinsichtlich der Zuständigkeit des Erziehungs- und Bildungssystems für diese Kinder und Jugendlichen erzielt“ (S.103).
Im Zentrum der nächsten Etappe auf dem Wege zu einem inklusiven Bildungsverständnis (auch) im Zusammenhang mit (geistiger) Behinderung stehen Reformbestrebungen, wie sie u.a. vom Deutschen Bildungsrat, insbesondere von dessen Bildungskommission, in der Diskussion um den Begabungsbegriff vorangetrieben wurden. Begabung sei nicht mehr bloß Voraussetzung für das Lernen, sondern auch deren Ergebnis. In den Fokus gehörten daher Momente, wie, „die kumulative Wirkung früher Lernerfahrungen“, „die Entwicklung effektiver Lernstrategien“ und damit „die Abhängigkeit der Begabung von Lern-, Sozialisations- und Lehrprozessen“ (vgl. S.112). Die mit der Diskussion um den Begabungsbegriff frei gewordenen Potenziale, wie „das veränderte Verständnis von Lernen und Bildung als komplexer Prozess, die Kritik der frühen Selektion entlang der Bildungswege und Schultypen, die Forderung nach individueller Förderung, nach Einbezug des Umfeldes“ (S. 121) seien allerdings von der Sonderpädagogik nicht genutzt worden.
Gegenläufige Zielvorstellungen bestimmten auch die bildungspolitischen Bestrebungen um die gemeinsame Erziehung und Bildung, wie sie in den 70er Jahren in der Bundesrepublik aufkamen. So gingen die Experten des Ausschusses Sonderpädagogik der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates unter Leitung des Regelpädagogen Jakob Muth mit ihren „Empfehlungen zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ (1973) über die „Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens“ durch die Kultusministerkonferenz der Länder hinaus, die auf „Integration durch Separation“ setzte. Erziehung in der Schule für geistig Behinderte sollte zunächst einmal die Integrationsfähigkeit der Kinder her- und unter Beweis stellen, bevor es zu einer Kontaktaufnahme mit nichtbehinderten Kinder kommen könne: „Kindliche Bildungsprozesse werden verstanden als geplante Reaktionen auf gezielte Methoden und ausgewählte Inhalte. Sie werden nicht verstanden als eigenaktives Lernen in sozialen und lebensweltlichen Bezügen“ (S.130). Und an anderer Stelle formuliert die Autorin: „Die Vorstellungen über Lernen und Bildung sind verschieden. Auch was unter Integration verstanden wird, ist nicht das Geleiche. Entsprechend sind die Wege strittig, die Positionen gegenläufig, häufig unvereinbar. Bezüglich der Teilhabe an der Gesellschaft besteht Uneinigkeit darin, ob es ausreicht, sie als Ziel für einen nachschulischen Zeitpunkt zu formulieren oder ob sie als Weg gelebt werden muss“ (S.132).
Im Kapitel 9 schließlich wird der Beitrag der Inklusionspädagogik zu einem veränderten (allgemeinen) Bildungsverständnis herausgearbeitet. Dabei wird zwischen einer „Theorie integrativer Prozesse“ mit den Referenztheorien Jean Piagets, Alfred Lorenzers, Ruth Cohns und Martin Bubers und der Theorie des Gemeinsamen Gegenstand (Georg Feuser) mit ihrem Bezug zur kulturhistorischen Pädagogik L.S. Vygotkijs und A.N. Leontjews unterschieden, die beide Anschluss und Fortentwicklung in der „Pädagogik der Vielfalt“ (Annedore Prengel), der „Theorie gemeinsamer Lernsituationen“ (Hans Wocken) gefunden hätten. „Neuere konstruktivistische Zugänge“ (Kersten Reich) greifen das Thema der Heterogenität in der allgemeinen Pädagogik auf (vgl. S. 171f.) und versuchen es, in kritischer Auseinandersetzung mit den PISA Vergleichsstudien im Sinne von „Bildungsgerechtigkeit als Chancengerechtigkeit“ auszugestalten. Bildung für alle werde dabei in einer Prozessperspektive betrachtet, die „auf eine Irritation von Selbst- und Weltsichten angewiesen ist“ (S. 16).
Kapitel 10 und 11 fassen zum einen die „Bildungsvorstellungen für Kinder mit Lernschwierigkeiten im Wandel“, d.h., Bildung als Prozess (der Veränderung individueller Selbst- und Weltbezüge); Bildung als Konstruktion von Wissen und Weltdeutung; Bildung als Transformation von Selbst- und Weltsichten; Bildung als Brücke zwischen Individualität und Gemeinschaftlichkeit; Inklusion als Aufforderung zum Systemwechsel und zum anderen die Beiträge und Grunderkenntnisse integrations- und inklusionspädagogischer Theorien für die Weiterentwicklung eben dieser allgemein pädagogischen Bildungsvorstellungen zusammen, wobei in verdichteter Form auch auf offene Baustellen bei der Inklusionsdebatte hingewiesen wird. Eine davon findet sich in der Forderung der Autorin: „Die Inklusionspädagogik muss ihre relative Exklusion aus der allgemeinen Pädagogik überwinden und einen stärkeren Anschluss an eine gemeinsam zu führende erziehungswissenschaftliche Debatte finden (…), auch über das schulische Feld hinaus“ (S. 196).
Diskussion
Die Einrichtung von „Schulen für praktisch Bildbare“, mit der Kindern mit zugeschriebener „geistiger Behinderung“ die Fähigkeit zum Erwerb der „Techniken“ des Lesens, Schreibens und Rechnens zumeist abgesprochen wird, zeigt, wie zutreffend doch der vom „Forum behinderter Juristinnen“ formulierte Behinderungsbegriff ist. Tatsächlich: Maßnahmen, Strukturen und Verhaltensweisen können Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten Lern- und Lebensmöglichkeiten nehmen, beschränken oder erschweren…und schaffen, „konstruieren“ damit Behinderung. Dass dies nicht so sein und bleiben muss, zeigt neben den von der Autorin reflektierten integrations- und inklusionspädagogischen Theorien auch die pädagogische Erfahrung mit einem nichtlinearen, entwicklungsbezogenen Unterricht für alle Kinder in der „Einheit von Handlung, Symbol und Zeichen“, wie er von Christel Manske seit Jahren entwickelt und erprobt wird. Anknüpfend an Galperins Theorie der „etappenweise Ausbildung geistiger Handlungen und Begriffe“ wird deutlich, wie „kulturelle Umwege der (geistigen) Entwicklung“ gegangen werden können. Leichte Sprache zeigt zudem, dass Vereinfachung ohne Komplexitätsreduktion für alle bekömmlich sein kann. Alles, was gesagt und geschrieben werden kann, sollte klar gesagt und geschrieben werden. Auf diese Weise, auf diesem Wege, werden Denk- und Handlungsbarrieren erfolgreich abgebaut.
Zielgruppen
Lehrende und Studierende erziehungs- und sozialwissenschftlicher Studiengänge, an Inklusionsforschung Interessierte
Fazit
„…eine scharfsinnige, differenzierte Analyse der Konstruktionen und Interdependenzen von Konzepten der Bildung und Behinderung und ihrer schulorganisatorischen Umsetzung, eingebettet in den zeitlichen Kontext- ein wichtiger und spannender Beitrag im pädagogischen, inklusionstheoretischen Diskurs“ (Marian Kron im Vorwort zum Buch, S.11).
Und: Nicht nur aus historischen Interesse könnte es reizvoll sein, sich mit den (produktiven) Aus- und Wechselwirkungen zu beschäftigen, die in den Jahren 1949- 90 im Kontext der Systemauseinandersetzungen zwischen BRD und DDR bezüglich der „Konstruktion von Bildung und Behinderung“ Raum griffen.
Literatur
- Friedrich Albrecht, Manfred Jödecke, Norbert Störmer (Hrsg.) (2006): Bildung. Lernen und Entwicklung. Dimensionen professioneller (Selbst-) Vergewisserung. Klinkhardt, Bad Heilbrunn
- Wolfgang Jantzen (Hrsg.), (2004): Die Schule Gal´perins. Tätigkeitstheoretische Beiträge zum Begriffserwerb im Vorschul- und Schulalter. Lehmanns Media (LOB.de)
- Manske, Christel (2004): Entwicklungsorientierter Lese- und Schreibunterricht für alle Kinder. Die nichtlineare Didaktik nach Vygotskij. Beltz, Weinheim und Basel (1. Auflage)
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 12.05.2017 zu:
Birgit Papke: Das bildungstheoretische Potenzial inklusiver Pädagogik. Meilensteine der Konstruktion von Bildung und Behinderung am Beispiel von Kindern mit Lernschwierigkeiten. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2016.
ISBN 978-3-7815-2111-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21151.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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