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Christiane Lutz (Hrsg.): Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen

Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 11.11.2016

Cover Christiane Lutz (Hrsg.): Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen ISBN 978-3-17-030157-3

Christiane Lutz (Hrsg.): Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2016. 190 Seiten. ISBN 978-3-17-030157-3. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.
Reihe: Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, hrsg. von Hans Hopf und Arne Burchartz.

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Thema

Das Buch beschäftigt sich mit der psychoanalytischen Deutung von Mythen und Märchen als Narrativen menschlicher Urerfahrungen und Konflikte, mit ihrer entwicklungsfördernden und heilenden Wirkung und ihrer Anwendung in der psychodynamischen Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen.

Autor

Christiane Lutz ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Dozentin am C.G.Jung-Institut in Stuttgart. Neben Publikationen über Mythen und ihre Bedeutung erschienen von ihr Fachveröffentlichungen u.a. zur Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen und zum Thema Adoption sowie Kinderbücher zu einschlägigen Themen.

Aufbau und Inhalt

Ausgangspunkt des Buches ist die Annahme, dass in Mythen und Märchen menschliche Urerfahrungen von überzeitlicher Bedeutung gespiegelt und in bildhafter Weise wiedergegeben werden. Dadurch erhält die Beschäftigung mit ihnen auch heute noch psychodynamische Wirkung. Sie geben symbolisch Antworten auf „Lebensrätsel“ (Lutz 2016, 11) und dadurch Orientierung und Hilfestellung in schwierigen Lebenssituationen und Entwicklungsphasen. Diese entwicklungsunterstützende und (selbst-)heilende Potenz kann auch therapeutisch genutzt werden. „Indem man miteinander in die geheimnisvolle Welt voller Wunder und Magie eintaucht, setzen sich Therapeut und Kind gemeinsam den Wirkmächten kollektiver menschlicher Erfahrungen aus. Grausamkeit und auftauchende Ängste, Hilflosigkeit und Rettung, Verwicklung und wundersame Errettung, all diese polaren Situationen finden in einer von Vertrauen getragenen Beziehung Spannung und Lösung.“ (Lutz 2016, 11f)

Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Begriff des Mythos und der Funktion, die Mythen für die Menschen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, haben. In weiteren Abschnitten werden Beispiele aus der ägyptischen, griechischen, etruksischen und germanischen Mythologie und ihre zentralen Themen dargestellt. Ausführlich beschreibt die Autorin etwa die in den ägyptischen Mythen des „Amduat“ enthaltene Vorstellung über den Kreislauf des Lebens. Dabei greift sie immer wieder auf Deutungsmuster aus der Analytischen Psychologie C.G. Jungs zurück.

Im zweiten Teil geht es um Märchen. Wie auch im ersten Teil werden verschiedene typische Themen und Konflikte, die in Märchen zu finden sind, aufgezeigt, anhand von Beispielen aus einzelnen Märchen veranschaulicht und anschließend durch kurze Fallvignetten aus der Praxis der Autorin ergänzt. Diese Vignetten stammen aus Einzel- oder Gruppentherapien mit Heranwachsenden, aber auch aus Elterngesprächen. Besondere Bedeutung wird bestimmten familiären Beziehungskonstellationen zwischen Kind und Eltern oder auf der Geschwisterebene geschenkt, die in Märchen vorkommen, aber auch im Leben vieler Heranwachsender eine Rolle spielen. Die Autorin behandelt nicht nur die klassischen Märchen der Brüder Grimm, sondern greift auch auf weniger bekannte Märchen aus dem skandinavischen Raum zurück. In einem letzten Kapitel wird die entwicklungsförderliche Bedeutung von Märchen und Mythen hervorgehoben, etwa für die Bewältigung von Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühlen oder bei der Bewältigung der Weitergabe transgenerationaler familiärer Belastungen und Familiengeheimnisse.

Jedes Kapitel wird durch eine kurze Zusammenfassung und weiterführende Fragen, die dazu anregen, sich tiefer mit dem Gelesenen auseinanderzusetzen, abgeschlossen.

Diskussion

Christiane Lutz schließt mit ihrem Buch an eine lange Tradition der psychoanalytischen Befassung mit Märchen an. Die bekannten Werke von Bruno Bettelheim, Eugen Drewermann, Verena Kast und anderen ergänzt sie, indem sie nicht nur die Bedeutung von Märchen, sondern auch jene mythologischer Narrative aus verschiedenen Kulturen und Epochen darstellt. Das Buch gibt Einblick in eine Vielfalt unterschiedlicher Erzählungen und Geschichten – und in eine Vielzahl möglicher Interpretationszugänge und Deutungen. So gelingt es ihr, sogar dem psychoanalytisch wohl am gründlichst interpretierten Mythos, dem Drama des Ödipus, noch weniger bekannte Aspekte abzugewinnen. Dieser Einblick in das weite Land der Mythologie wird durch den durchstrukturierten Aufbau des Buches und die übersichtliche, oft auf wenige Aspekte reduzierte Darstellung der Inhalte erleichtert – allerdings geht das Gefühl für diese „geheimnisvolle Welt voller Wunder und Magie“ dabei mitunter ein wenig verloren.

Die Darstellung der mythologischen und auch der psychotherapeutischen Narrative ist bereichernd und regt zum Nachdenken an, vieles bleibt allerdings auch offen. Etwa, wenn postuliert wird, Kinder würden bei der Beschäftigung mit Märchen „verstehen, dass hinter der äußeren Dramatik innere Entwicklungsprozesse veranschaulicht und in Bilder gebracht werden“ (Lutz 2016, 177). Wie kann man sich dieses „Verstehen“ vorstellen? Ist es tatsächlich möglich, dass Kinder in affektiver, unbewusster Weise den komplexen Gehalt dieser Erzählungen erfassen – oder ist diese Aussage lediglich als Versuch zu verstehen, Erklärungen dafür zu finden, was Kinder an Mythen und Märchen so berührt und bewegt? Offen bleibt bei manchen Fallvignetten auch, wie die Autorin diese Erzählungen als Material in den psychotherapeutischen Prozess einführt und integriert. Werden bestimmte Märchen oder Sagen direktiv von der Therapeutin vorgegeben oder stehen sie als Spielfiguren oder Bücher zur Verfügung, und die Therapeutin wartet ab, wie Kinder dieses Angebot aufgreifen und nützen und welcher Prozess sich daraus entwickelt? Oder sind die Märchen und Mythen Denkfiguren, mit denen die Therapeutin vorrangig in ihrer Gegenübertragung (und vielleicht weniger unmittelbar in der therapeutischen Interaktion) arbeitet? Hier wären einige methodische Überlegungen zur Verwendung dieser Narrative im psychotherapeutischen Prozess hilfreich gewesen.

Die Autorin merkt mehrfach an, dass Mythen und Märchen immer vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund entstanden sind und weitergegeben wurden, aber auch, dass sie menschliche Urerfahrungen ansprechen, die universell geteilt und nachempfunden werden. Dies regt zur Frage an, ob „unsere“ Märchen auch Gültigkeit für all jene Heranwachsenden aus anderen Kulturen haben, für die unsere Kultur fremd ist und die aber in unseren Bildungs- und Therapieeinrichtungen betreut werden. Wir wissen noch wenig darüber, wie die Märchen und Erzählungen aussehen, die Kinder aus anderen Kulturen mit ihren kulturellen Wurzeln verbinden und die für sie entwicklungsfördernde Wirkung haben könnten.

Das Vorhaben der Autorin, mit der Lektüre des Buches zur weiterführenden Auseinandersetzung anzuregen, kann als erfolgreich betrachtet werden. Das Buch macht Lust, sich wieder mehr mit den alten Sagen und Märchen auseinanderzusetzen, aber auch mit den Klassikern der psychoanalytischen Interpretation dieser Narrative wie etwa Bettelheims „Kinder brauchen Märchen“, in denen die das Unbewusste ansprechende Dynamik dieser Geschichten noch stärker spürbar wird.

Dem Verlag Kohlhammer schließlich möchte man – nicht zum ersten Mal – ans Herz legen, in ein anständiges Lektorat zu investieren, damit die wertvollen Texte seiner Autorinnen und Autoren einen angemessenen Rahmen erhalten, indem sie fehlerfrei gedruckt werden.

Fazit

Ein interessantes, kurzweilig zu lesendes Buch, mit dem man sich gut einen Überblick über Mythen, Märchen und die in ihnen anklingenden Symboliken und Themen verschaffen kann und das Lust macht, sich wieder mehr mit diesen machtvollen Narrativen auseinanderzusetzen.

Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Neudecker.

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Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 11.11.2016 zu: Christiane Lutz (Hrsg.): Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2016. ISBN 978-3-17-030157-3. Reihe: Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, hrsg. von Hans Hopf und Arne Burchartz. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21166.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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