Helga Rohra: Ja zum Leben trotz Demenz!
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 19.01.2017

Helga Rohra: Ja zum Leben trotz Demenz! Warum ich kämpfe. medhochzwei Verlag GmbH (Heidelberg) 2016. 99 Seiten. ISBN 978-3-86216-283-3. D: 18,99 EUR, A: 19,60 EUR.
Thema
Seit mehreren Jahren ist in einigen Ländern zu beobachten, dass Demenzkranke im frühen Stadium der Erkrankung sich an die Öffentlichkeit wenden. Sie halten Vorträge auf Fachtagungen und Kongressen, nehmen an Gesprächsrunden im Fernsehen teil, geben Interviews und veröffentlichen Bücher. Meist geht es ihnen hierbei um die Darstellung der eigenen Befindlichkeit und die Reaktionen ihres Umfeldes auf ihre Erkrankung. Darüber hinaus artikulieren sie auch ihre Erwartungen an die Gesellschaft und üben Kritik an bestimmten Umgangsweisen mit ihnen. Sie möchten als vollwertige Personen wahrgenommen werden und nicht als hilfebedürftige Kranke. Hierdurch drückt sich ein gesellschaftlich recht neues Dilemma aus, indem die Selbstwahrnehmung der Demenzkranken mit den herkömmlichen Formen der Hilfe und Unterstützung des sozialen Umfeldes nicht in Deckung gelangt. Die vorliegende Veröffentlichung thematisiert dieses Problemfeld.
Autorin
Helga Rohra, ehemalige Konferenzdolmetscherin, ist seit acht Jahren an der Lewy-Body Demenz erkrankt. Sie engagiert sich seit vielen Jahren sehr medienwirksam als so genannte „Demenzaktivistin“ für die Belange der Demenzerkrankten im frühen Stadium und mittleren Lebensalter.
Ulrike Bez, eine Münchener Autorin und Filmemacherin, hat der Autorin bei der Erstellung des vorliegenden Textes geholfen und zusätzlich ein Vor- und Nachwort verfasst.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in 14 Kapitel untergliedert. Eine Vielzahl von Gedichten, überwiegend von der Autorin selbst, ist zwischen den Texten verteilt. Diese Gedichte haben meist die Befindlichkeit der Autorin in der Auseinandersetzung mit ihrer Erkrankung zum Inhalt.
Zu Beginn wird kurz Biografisches berichtet: die Ankunft in Deutschland als Spätaussiedlerin aus Rumänien 1972, das dortige Leben auf dem Hofe mit vielen Tieren, ihre Leselust bereits in der Kindheit, als sie bereits in der 4. Klasse Thomas Mann und später die antiken Dichter las. Es folgen kurze Verweise auf die Lebensumstände: eine kleine Erwerbsunfähigkeitsrente, das Zusammenwohnen mit dem Sohn, der an dem Asperger-Syndrom erkrankt ist, jedoch einer Beschäftigung nachgehen kann.
Auf die Gestaltung des Alltags mit vielen Merkhinweisen (Zettel, Fotogalerien im Handy u. a.), das Einkaufen eines Kleidungsstückes mit Fotomaterial der vorhandenen Kleidung auf dem Handy, das Meiden der großen Kaufhäuser in der Innenstadt, der Verbleib im Viertel mit den vertrauten Geschäften, wo sie mit Ihrer Erkrankung bekannt ist, all dies wird sachlich beschrieben. Enttäuscht ist sie von den vielen Alzheimer Gesellschaften im In- und Ausland, die ihr zwar die Reise- und Übernachtungskosten erstatten, ihr jedoch kein Honorar für die Referententätigkeit anbieten. Sie betrachtet sich diesbezüglich als eine „Expertin“ der eigenen Erkrankung und zugleich auch als eine „Demenzaktivistin“, der eine entsprechende Honorierung eigentlich zustehen sollte.
Des Weiteren wird auf den Verein „Trotzdemenz e. V.“ verwiesen, der von der Autorin zusammen mit einer Musiktherapeutin und einigen Medienexperten mit dem Ziel der Integration Demenzkranker jenseits von Hartz IV und Frührente in die Gesellschaft gegründet wurde. Eine „potentialorientierte Integration“ wird gefordert, das heißt, eine berufliche Eingliederung auf der Grundlage der noch vorhandenen Fähigkeiten. Demenz sollte als eine Behinderung definiert werden mit allen damit verbundenen Anrechten auf Inklusion.
Eingehend berichtet Rohra, wie akribisch sie sich auf ihre Vorträge vorbereitet: mehrmaliges Schreiben des Textes mit der Hand, versehen mit Eselsbrücken (u. a. die Seitenzahl ihres Buches für den Vortragsbeginn in die Hand schreiben). Auch die Reisen selbst mit den Vorbereitungen (Fahrkartenkauf, Absprache bezüglich des Abholens vom Bahnsteig bei der Ankunft), die Erlebnisse mit Mitreisenden in der Bahn, die oft hilfsbereit beim Umsteigen zur Hand gehen. Stolz verweist die Autorin auf ihre europa- und weltweiten Einladungen auf Kongresse und Tagungen u. a. in London, Paris, Amsterdam, Malta, Bukarest, Thessaloniki, Glasgow, Sydney und Toronto.
Nur kurz geht die Autorin auf das von ihr erlebte zentrale Krankheitssymptom Halluzinationen der Lewy-Body Demenz ein. So beschreibt sie, wie ähnlich in einem Stummfilm visuelle Erinnerungen teils aus frühester Kindheit präsent sind. „Am Anfang kamen sie ein- bis zweimal pro Tag. Seit fünf Jahren sind sie mein ständiger Begleiter. Die Halluzinationen kommen und gehen ohne die geringste Vorwarnung. Ganz gleich, was ich tue, beim Essen, Lesen, während ich mich unterhalte.“ (Seite 47).
In den folgenden Kapiteln wiederholt die Autorin ihre Forderungen, durch verschiedene Unterstützungsmaßnahmen als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft eingebunden zu werden.
Diskussion
Das Selbstzeugnis einer früh an der Lewy-Body Demenz Erkrankten wird hier offeriert. Es ist jedoch ein außergewöhnlicher Fall, denn diese Patientin geht wohl ihrem Naturell gemäß in die Offensive. Sie stellt Forderungen, wird eine so genannte „Demenzaktivistin“, die sich in allen Sphären der Öffentlichkeit Präsenz und Gehör verschafft. Auf Fachkongressen, in Talkshows und auch in Büchern trägt sie ihr Anliegen vor: „Hört auf uns“, „bleibt auf Augenhöhe“ und verändert die dafür erforderlichen Strukturen in der Gesellschaft. Dieses Wirken kann als beachtenswert eingeschätzt werden.
Ein wichtiger Impuls aus der Sicht der Rezensenten für ihren ständigen Kampf um der Verbesserung der Rahmenbedingungen für früh Erkrankte im mittleren Lebensalter ist auch die Erfahrung der materiellen Einbußen: „Früher war ich wohlhabend und gut situiert. Durch die Demenz bin ich sozial abgestiegen.“ (Seite 81).
Tragisch erscheint der Sachverhalt, dass sich die Autorin als eine „Expertin“ bezeichnet, obwohl sie den Unterschied zu den wahren Experten deutlich wahrnimmt. Denn diese erhalten immense Honorare für ihre Beiträge, während ihr hingegen in der Regel nur die Reise- und Übernachtungskosten erstattet werden. Doch diese Selbsteinschätzung ist angesichts der permanenten Präsenz in der Öffentlichkeit mehr als verständlich.
Die vielen eingestreuten Gedichte der Autorin können als Verarbeitung der Erkrankung verstanden werden, denn hier öffnet sich die Erkrankte mit ihren Befürchtungen, Ängsten und Unsicherheiten. Sie stehen krass im Gegensatz zu den forschen Forderungen und der ostentativ gezeigten Selbstgewissheit. Es hat den Eindruck, als ob hier zwei nicht miteinander verbundene Wahrnehmungs- und Empfindungsebenen der Autorin zum Ausdruck kommen. Dies kann als Indiz für die innere Zerrissenheit angesichts dieser schweren unheilbaren und progredient verlaufenden Krankheit gedeutet werden.
Fazit
Das vorliegende Buch kann als ein Beispiel für die Auseinandersetzung einer Demenzkranken im frühen Stadium mit den inneren und äußeren Konflikten und Belastungen aufgefasst werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 19.01.2017 zu:
Helga Rohra: Ja zum Leben trotz Demenz! Warum ich kämpfe. medhochzwei Verlag GmbH
(Heidelberg) 2016.
ISBN 978-3-86216-283-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21178.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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