Guy Standing: Eine Charta des Prekariats
Rezensiert von Arnold Schmieder, 12.10.2016

Guy Standing: Eine Charta des Prekariats. Von der ausgeschlossenen zur gestaltenden Klasse. Unrast Verlag (Münster) 2016. 335 Seiten. ISBN 978-3-89771-213-3. D: 19,80 EUR, A: 20,40 EUR.
Thema
Unter Prekariat versteht Standing nicht mehr nur jene inhomogenen Gruppen überflüssiger und ausgemusterter Menschen in hauptsächlich den Metropolen, die nach den Regularien der Arbeitsgesellschaft kaum integrierbar sind und durch die Maschen immer weniger absichernder Sozialsysteme fallen, um am Rande zur Exklusion ein kärgliches bis menschenunwürdiges Dasein zu fristen. Unter Prekariat fasst der Autor all diejenigen zusammen, die überall auf der Welt unter höchst fragwürdigen Bedingungen arbeiten und dies in der Regel in kurzfristigen und permanent riskierten Beschäftigungsverhältnissen, wenn sie denn überhaupt in Lohn und Brot stehen. Persönliche Zukunftsperspektiven eröffnen sich dabei höchst vage und Projekte der Lebensplanung zerschellen sehr schnell, wenn sie überhaupt entworfen werden. Ohne nennenswerte soziale Absicherung, ohne politische oder ernst zu nehmende gewerkschaftliche Interessenvertretung ist das Prekariat gleichwohl nicht mehr zu marginalisieren oder zu leugnen und meldet sich in sozialen Eruptionen, die sich mehren und in denen Frustrationen zum Ausdruck kommen, für die keine kommodifizierenden Auffangmechanismen zur Verfügung stehen. Diese Frustrationen, wie sie sich an verschiedenen Missständen bis handfesten Notsituationen festmachen können und oft jenseits der gesetzlichen Rahmenbedingungen artikuliert werden, sind auch insoweit laut Standing gefährlich, weil sie für populistische, meist rechtslastige bis -extreme Parolen empfänglich machen.
Autor und Entstehungshintergrund
Guy Standing ist Wirtschaftswissenschaftler und er zeigt, wie sozialdemokratische Konzepte und Maßnahmen durch Utilitarismus und Neoliberalismus unterhöhlt bis zu Fall gebracht wurden.
Im vorliegenden Band verarbeitet der Autor Einlassungen auf frühere Arbeiten, in denen er wie hier für ein Grundeinkommen plädiert, wobei er die geläufigen Gegenargumente aufnimmt und widerlegt. Da sich angesichts der nunmehr herrschenden Produktions- und vor allem Verteilungsverhältnisse das Prekariat als Klasse abzeichnet, ist ein auf Solidarität zu gründendes Gesellschaftsmodell zu entwerfen und durchzusetzen, das auf allen Ebenen gesellschaftlicher Organisation der Prekarisierung der Weltgesellschaft entgegenwirkt bzw. deren Entstehungsbedingungen aushebelt. So ist der größte Teil seines Buches eben jener ‚Charta‘ gewidmet, mit der die wesentlichen neuralgischen Punkte benannt und mit Möglichkeiten einer progressiven Politik konfrontiert werden.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sieben Kapitel nebst Vorwort und Anhang untergliedert, wobei die Kapitel fünf und sechs als Kern zu betrachten sind, da in ihnen der Weg zu einer Charta des Prekariats beschrieben und in neunundzwanzig Artikeln die Charta selbst vorgestellt wird. Davor konturiert Standing zentrale Charakteristika des Prekariats und von „Unterbüger_innen“, um zu verschiedenen Formen des Prekariats zu kommen und argumentativ auszuweisen, warum das „Prekariat eine ‚gefährliche Klasse‘ ist“.
Es folgt eine Auseinandersetzung mit dem „Zeitalter der Austerität“, Grundlage und Ursache weltweit massenhafter Hervorbringung von vorab inhomogenen Menschengruppen, die unter dem Sammelbegriff Prekariat zusammenzufassen sind. Dass und warum es wächst, wird in der Spannbreite von (u.a.) Verarmung und Wohnungslosigkeit, Verschuldung, Kommodifizierung von Bildung, Crowd-Arbeit bis Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit sowie summa summarum einer Talfahrt der Löhne und Fragmentierung staatlicher Leistungen pointiert dargelegt, um zu dem Schluss zu kommen: „Wir brauchen eine Gegenstrategie, die den Bedürfnissen, Wünschen und Unsicherheiten des Prekariats entspricht. Was blockiert die Verwirklichung einer solchen Strategie?“ (S. 88)
Der Beantwortung dieser Frage ist das folgende Kapitel gewidmet, wobei der Autor auf das fokussiert, was er den „utilitaristischen Konsens“ nennt und wo er auch auf den „Teufelspakt der Sozialdemokratie“ abhebt.
Im Schlusskapitel fordert er auf, die Geschichte fortzuschreiben. Gegen alle Unkenrufe, „die Zukunft sei in den 70er Jahren gestorben und die Welt deswegen jetzt zu endlosem Konsum verdammt, der auf ständigem Wachstum basiert“, hält er: „Das ‚Ende der Geschichte‘ scheint in der Endphase jeder Epoche immer wiederzukehren, bevor die nächste Transformation beginnt. Es kam im späten Mittelalter auf, vor der Renaissance; es wiederholte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert, vor dem Aufschwung der Romantik; und es kam im späten 19. Jahrhundert auf, vor dem Aufstieg des Sozialismus. Aus dem gescheiterten neoliberalen Projekt entsteht gerade eine neue Zukunft.“ (S. 316) Diese Zukunft ist als „Vision von einer Harmonischen Gesellschaft“ zu imaginieren und seine Charta des Prekariats stellt den Versuch dar, als „Grundlage einer politischen Bewegung“ zu dienen, die „nicht auf einer utilitaristischen Anziehungskraft für die Mehrheit der Bevölkerung basiert“.
Dabei hält Standing daran fest, dass nur „eine gesellschaftliche Klasse mit gemeinsamen oder einander vereinbaren Zielen“ zu handeln vermag. Darauf fußt seine zentrale These: „Das Prekariat ist eine Klasse im Entstehen, die erst noch in ausreichendem Maße zu einer eigenen Klasse werden muss, damit sie sich schließlich selbst wieder abschaffen kann. Letzteres macht sie zu etwas Wandelbarem, im Gegensatz zu anderen bestehenden Klassen, die nur immer stabilere Nachbildungen von sich selbst reproduzieren wollen.“ (S. 10)
Die von Standing vorgestellte Charta vereint Punkte des Anstoßes, wie sie von links orientierten Gruppierungen und Protestbewegungen zumindest europaweit auch zum Thema gemacht wurden und werden, wobei eine Neudefinition von Arbeit, die Eindämmung von Arbeiterexportsystemen, das Beenden klassenbezogener Migrationspolitik und der Diskriminierung von SozialhilfeempfängerInnen, die Beseitigung von Armuts- und anderen prekären Fallen, Rechtssicherheit für alle, eine Dekommodifizierung der Bildung und eine Wiederbelebung bewusster Demokratie wesentliche Trittsteine sind. Wie seine Forderung, „Schritte zu einem bedingungslosen Grundeinkommen“ zu machen und dass Regierungen zur „Einführung eines Grundeinkommens als Bürgerrecht übergehen“ sollten (S. 262), stehen auch alle anderen, in seinen Artikel über Kritik zur Sprache gebrachten Desiderate quer zu gegenwärtiger Ökonomie und Politik. Beispielsweise das Workfare-System sofort zu stoppen, wodurch das Prekariat besonders benachteiligt wird, Subventionen, da regressiv, aus der Welt zu schaffen, weil sie „die Märkte (verzerren) und (…) eine Ursache für wirtschaftliche Ineffizienz (sind)“ (S. 251), fallen darunter, wie auch der Vorschlag, „Wohltätigkeit (…) auf ein Minimum“ zu reduzieren, weil sie „kein Ersatz für eine auf Rechte gegründete Staatspolitik“ sein sollte – getreu dem Wort des Augustinus: „Wohltätigkeit ist kein Ersatz für vorenthaltene Gerechtigkeit“. (S. 307) Das ist auch angezeigt, weil, so nach David Hume, „die Schwester des Mitleids Verachtung“ ist und „Verlierer (…) als Gescheiterte dargestellt (werden), denen Hilfe entgegengebracht werden sollte, solange sie Dankbarkeit und ernsthafte Bemühungen zeigen.“ (S. 91)
Was den breiten Bereich des Beruflichen betrifft, der beruflichen Organisationen, der Berufsregeln, der beruflichen Lizenzvergabe und deren politischer Steuerung, hält er neoliberal orientierten, auf „ernsthafte Bemühungen“ setzenden Regierungen vor, sie hätten die „Zerstörung interner sozialer Mobilitäts- und Aufstiegsmechanismen vorangetrieben“ und dabei „zahlreiche Berufsgruppen, darunter angesehene Professionen“, nach „Methoden der Klassenspaltung“ verändert und dabei ein „kostbares“ und zu reklamierendes „wirtschaftliches Recht“ ausgehöhlt, nämlich das „eigene Können einzusetzen und eigene Qualifikationen zu nutzen“. (S. 165)
In allen Artikeln Standings stecken markante (Kritik-)Punkte von Arbeits- und insgesamt Lebensverhältnissen, vermittels derer sie prekär werden; zugleich stellen sie Herausforderungen dar, denen der Verfasser eine Zielrichtung gibt. Da ein „Bewusstsein prekärer Lebensverhältnisse (…) jedoch nicht so leicht in ein Bewusstsein von einer gemeinsamen Zugehörigkeit“ mündet, war es (nach dem Crash von 2007/2008) „erforderlich, dass man sich gegenseitig von den gemeinsamen Herausforderungen erzählte, was dann zu einem gemeinsamen Narrativ gerinnen würde. Man erkannte immer mehr andere Menschen in seinem eigenen Spiegelbild wieder.“ Diese Situation währt fort, hat sich zugespitzt. Zwar möge der „progressive Teil des Prekariats“ seine „gegenwärtige Situation ja beseitigen wollen“, doch sei es eine „transformative Klasse“, die allerdings „weder an einer fiktiven noch an einer realen Vergangenheit“ festhalte (S. 124 f.), und so gehe es erst einmal darum, „sich in anderen wiederzuerkennen, darum, aus einem Zusammengehörigkeitsgefühl eine Identität zu entwickeln, um die Unsicherheit zu überwinden, von der eine neuentstehende Klasse durchdrungen ist. Es geht darum, die Existenz einer eigenen sozialen Gruppe anzuerkennen, um das Gefühl, ihr mit einigem Stolz und ohne Scham anzugehören.“ (S. 123) Jene „rasant wachsenden Form des Prekariats“, gemeint sind jüngere „Gebildete“ mit „Statusfrustration“, die vor der Aufgabe stehen, „die anderen Teile des Prekariats für eine gemeinsame Vision zu gewinnen“ (wie sie in den Artikel der Charta Konturen erhält), kann oder könnte dafür sorgen, dass auf Grund der als gemeinsam erkannten „Klasseninteressen den Vorhaben des politischen Mainstream im 21. Jahrhundert“ widersprochen wird – „dem Neoliberalismus der populären ‚Rechten‘ wie auch der Lohnarbeitsbefürwortung der Sozialdemokratie.“ Dann, meint Standing, wird es nicht mehr lange dauernd und das Prekariat „wird die Losung des Jahres 1968 wieder von Neuem erklingen lassen: ‚Ça suffit!‘“ (S. 37 ff.)
Diskussion
Es reicht, und es reicht vielen und dies schon länger. Sie rebellieren oder randalieren gar europaweit und gehören nicht zur Gruppe der neuen Bürgerprotestler, zumeist Angehörige der Mittelschicht, die allerdings nach der Analyse von Butzlaff auch den Eindruck erwecken, sie würden sich „von den gedanklichen Fundamenten und Voraussetzungen einer repräsentativen Parteiendemokratie wegentwickeln.“ Standing meint aber nicht diese in der Regel materiell relativ gut gestellten Opponenten, die das System zu seiner nur besser integrierenden Verteidigung anhalten, sondern er meint solche Menschen, die „im Globalisierungszeitalter immer mehr (.) zu Unterbürger_innen gemacht werden, weil sie Rechte verlieren“ (S. 15), „von der Willkür anderer abhängig“, als „Bittsteller_in (.) auf Wohltätigkeit und bürokratische Güte angewiesen“. (S. 30) Ähnlich wie man vor Zeiten von ‚Klassenfraktionen‘ sprach, unterscheidet der Autor diese „Unterbürger_innen“ in „drei Formen des Prekariats“, nämlich in Leute, die „verhältnismäßig ungebildet“ sind, (vermeintlich) bessere Zeiten erlebt haben und durch ihre Rück- und Nackenschläge so disponiert sind, dass sie „eher Populist_innen Gehör“ schenken, „die mit neofaschistischen Absichten werben.“ Die zweite Form stellen all diejenigen autochthonen wie ethnischen Minderheiten dar, die „nicht selten vom politischen und gesellschaftlichen Mainstream abgeschnitten“ sind und „den Kopf gesenkt“ halten, deren „Ärger (.) sie zu harter Schufterei veranlassen“ kann, was der Grund dafür ist, „warum die erste Form des Prekariats so leicht gegen die zweite ausgespielt werden kann.“ (S. 36 f.) Kaum jemand aus diesen Kohorten wird in dem Sinne opponieren, dass er oder sie „mit einigem Stolz und ohne Scham“ (s.o.) auftreten und sagen wird: Ich bin Prekarier – wobei ja nicht unbedingt die geballte Faust zum Gruß erhoben werden muss, die ja auch als Tisch- oder Schrankzier im Müll gelandet ist. Was aber klammheimlich aufzuscheinen scheint, ist das arg ramponierte Speerspitzen-Theorem, das auf die dritte Form entfällt, „Gebildete, die in eine prekäre Existenz gedrängt werden“, deren bevorstehende „größte Aufgabe“ es ist oder werden wird, „die anderen Teile des Prekariats für eine gemeinsame Vision zu gewinnen“, ähnlich wie „gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts (.) Handwerker_innen und Intellektuelle die ‚Arbeiterklasse‘“ gebildet und geführt hätten. (S. 37 f.) Diese „Vorhut des Prekariats“ (Standing nennt sie „progressiv“), ihre „prometheische Tatkraft“ (S. 317), soll es richten.
Wenn schon solche historischen und sozialhistorischen Rückbezüge, die auch andere Assoziationen aufdrängen, dann scheint es darum eben angezeigt, die darauf aufsattelnden Spekulationen auch da, wo sie überfälligen Visionen auf die Sprünge helfen wollen, etwas vorsichtiger bis differenzierter zu entwerfen, zumal Standing an späteren Stellen unter Bezugnahme auf die Sozialdemokratie und Gewerkschaften recht deutliche, kritische Worte spricht. Töne aus vormaligen Debatten um Verelendungstheorien mit dem Hinweis, dass Verelendung auch eine solche des Bewusstseins der Arbeiterklasse sei bzw. werde, klingen an, wo es heißt, es „könnte vielleicht tatsächlich die Einkommensarmut sein, die eine klassenübergreifende Allianz entstehen lässt“ (S. 314), und es „um den Wiederaufbau einer Mentalität (geht), die sich auf den großen Prinzipien des Mitgefühls und der Empathie gründet.“ (S. 317) Solche „Allianz“ für den Zweck weltweiter Reklamation in der Tat hehrer moralischer Werte als Grundlage allen menschlichen Handelns, vor allem des ökonomischen, wollen gestiftet sein und brauchen das, was unter dem Begriff des ‚revolutionären Subjekts‘ lang und breit diskutiert wurde und wird. Dass hier dem Prekariat nicht eine prominente Rolle zugewiesen wird, liege am „Widerwille von Marxist_innen, auf die Dichotomie von Arbeit und Kapital zu verzichten“, was laut Standing „nachvollziehbar“ ist; vor allem aber liege es daran, dass „sie die Vorstellung einer neuen Klasse zurückweisen“ und bestrebt sind, „das Prekariat in die alten Vorstellungen der ‚Arbeiterklasse‘ und des ‚Proletariats‘ hineinzupressen“. (S. 38) Es braucht neue Klassifikationen und Standing selbst schlägt u.a., natürlich am Ende der Hierarchie, „Prekariat, Arbeitslose und das ‚Lumpenprekariat‘ (die ‚Unterschicht‘)“ vor (S. 23), wie gesagt in toto eine „‚gefährliche Klasse‘“ (S. 38), eine „transformative Klasse“, was an Thompsons Studien erinnert, bei der wie bei den Proletariern im ‚Werden‘ „eine gewisse Subjektivität entstehen“ muss, „die Erkenntnis, dass man eine strukturbedingte Position innerhalb eines sozioökonomischen Systems innehatte und andere unterstützen musste, die in ähnlichen Lagen waren.“ (S. 123 ff.) Da nun der Proletarier und seine sozialdemokratisch wie gewerkschaftlich vereinnahmten Nachfolger weitestgehend von der Bildfläche verschwunden sind, muss das Prekariat und eben auch das Lumpenprekariat dessen – leider verfehlte – ‚historische Mission‘ übernehmen.
Auch da stellt sich eine Reminiszenz ein, nicht gänzlich eine Fausse reconnaissance, immerhin aber eine Elle, die anzulegen ist. Das „Lumpenprekariat“ erinnert nicht nur als Wort an das „Lumpenproletariat“ bei Marx, von dem er meinte, es sei „diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“ und würde „durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.“ Auch wenn Marx sie an anderer Stelle als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“ abtut, koinzidiert seine Annahme tendenziell mit den ‚Erwartungen‘ Standings: Da das Prekariat „stark gespalten (ist), dass man es als Klasse im Krieg mit sich selbst bezeichnen könnte“, was sich jedoch rasch „ändern“ könnte (S. 36), besteht die Gefährlichkeit auch zur der Seite, sich von „reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen“, was auch Standing festgestellt hat und als Damoklesschwert sieht: „Wenn die populistische Demagogie die Oberhand gewönne, würde die erste Prekariatsform der zweiten feindselig gegenüberstehen, wie es in Griechenland, Ungarn und Italien geschehen ist.“ (S. 39) Prekärer noch wird die Sache mit dieser ersten Prekariatsform, liest man bei Rosa Luxemburg nach und schielt auf die Gegenwart, nicht nur die bundesdeutsche: „Das lumpenproletarische Element haftet tief der bürgerlichen Gesellschaft an, nicht nur als besondere Schicht, als sozialer Abfall, der namentlich in Zeiten riesig wächst, wo die Mauern der Gesellschaftsordnung zusammenstürzen, sondern als integrierendes Element der gesamten Gesellschaft.“ Luxemburg spricht da von „Verlumpung“ und zählt u.a. Abstufungen von „kaufmännischem Preiswucher“, „fiktiven Gelegenheitsgeschäften“, „Beamtenunterschlagung, Diebstahl, Einbruch und Raub“ auf, was alles ineinander flösse. Ob und inwieweit mit solchem Begriff der „Verlumpung“ auch in heutiger Zeit eine herrschende Mentalität zu etikettieren ist, darüber mag man sinnieren – insbesondere hinsichtlich der Quantität der dritten Prekariatsform, die laut Standing allererst „wünscht, eine progressive Vision einer ‚Befreiung von der Lohnarbeit‘ wiederzubeleben und so ein sinnvolles Recht auf Arbeit einzuführen“ (S. 27), natürlich unter der Prämisse eines bedingungslosen Grundeinkommens. Diese meist jüngeren Gebildeten, die „Vorhut des Prekariats“ (s.o.), darf natürlich nicht von dem durchseucht sein, was bei Luxemburg unter „Verlumpung“ firmierte, ist aber von einem anderen Hemmnis für seine emanzipatorische Aufgabe nicht frei, nämlich jener „Prekarisierung des Verstandes“ (S. 65), die Standing nicht entgangen ist und die er geißelt. Es ist das, was die Kritiker des (nicht nur) deutschen Hochschulwesens facettenreich beklagen und anprangern – zu diesen Kritikern gehören auch Studierende, eine allerdings nur schmale Kohorte. Doch Standing erwartet ‚Verelendungs-Wachstum‘, d.h. eine drastische quantitative Zunahme des Prekariats insgesamt und prognostiziert: „Das Pflichtbewusstsein des ‚öffentlichen Dieners‘ wird zusammenbrechen. Whistleblower werden zahlreicher und wagemutiger werden, wenn sie sich moralisch kompromittiert fühlen und ein unliberales System unterstützen müssen, das sich ebenso gut gegen sie selbst, gegen ihre Verwandten und Freund_innen richten könnte. Der Widerstand innerhalb des Systems könnte genauso stark werden wie der Widerstand des Prekariats und alliierter Gruppen. Je eher der Widerstand kommt, desto besser.“ (S. 312)
Da wäre sie dann oder zumindest ist man daran erinnert, an die Multitude, laut Hardt/Negri „Singularitäten, die gemeinsam handeln“, ein offenes Beziehungsgeflecht, explizit kein neues revolutionäres Subjekt, doch ein Netzwerk von Leuten, die für eine Demokratisierung der Weltgesellschaft kämpfen. Ob die ‚Prekarier‘ als ‚Klasse im Werden‘ und schließlich auch die Widerständler „im System“ oder gemeinsam emanzipatorisch handelnde Singularitäten „ahnen, bewußt oder dumpf, dass ihr Leben gar nicht wirklich von der Staatspolitik, sondern von den gleichsam elementaren Vorgängen abhängt, die unterhalb der staatlichen Organisationsform im Kern der Gesellschaft selbst sich abspielen“ (Adorno), kann man als Frage ummünzen und linker Politik als Aufgabe stellen – nämlich wie auf ein sich änderndes Meinungsklima sinnvoll Einfluss zu nehmen ist, ohne (fundierte) Kapitalismuskritik unter den Tisch fallen zu lassen, auch da nicht, wo sie höchst missliche ökonomische und politische Entwicklungen richtig benennt und aufzeigt, dass und wie etwa massenhafte Prekarisierung diese oder jene Folgen haben kann. Auch wenn man eher die Möglichkeit emanzipatorischer Folgen ins Auge fasst und wie Standing mit seinen Artikeln einen scheint´s nach der Logik des Systems nur schwerlich einzulösenden Forderungskatalog als gleichsam Agitationsorientierung für links orientierte oder radikaldemokratische Aktivisten vorlegt, bleibt das eigentliche Problem unberührt, nämlich die Fähigkeit zum Bestandserhalt durch entschärfende Integration. Sicher braucht die so genannte Linke Deutungsangebote und muss Ideen vom Sozialen entwickeln, doch unter dieser Perspektive gilt es, im nicht nur theoretischen Sinne ‚unversöhnt‘ zu bleiben. Das aber zeichnet sich im ‚Werden‘ des Prekariats nicht ab – wie es sich auch bei den ‚Levellers‘ und anderen Rebellen bis organisierten Oppositionellen nicht gezeigt hat, wenngleich sie im Nachhinein doch eine sozialhistorisch nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.
Fazit
Diese skizzenhaften Bemerkungen zur möglichen Diskussion des Buches von Standing sind als Empfehlung zu verstehen, sich nicht nur mit dem theoretischen Ansatz, sondern vor allem auch den Artikeln, der „Charta des Prekariats“, auseinanderzusetzen und dort womöglich Anknüpfungspunkte für Aufklärung, umfassende, und Kritik wie Selbstkritik zu finden und zu entwickeln, um die es – derzeit – ganz ersichtlich Not tut.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 12.10.2016 zu:
Guy Standing: Eine Charta des Prekariats. Von der ausgeschlossenen zur gestaltenden Klasse. Unrast Verlag
(Münster) 2016.
ISBN 978-3-89771-213-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21202.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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