Ludger Pries: Migration und Ankommen
Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Jost, 11.01.2017

Ludger Pries: Migration und Ankommen. Die Chancen der Flüchtlingsbewegung. Campus Verlag (Frankfurt) 2016. 208 Seiten. ISBN 978-3-593-50638-8. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 31,60 sFr.
Thema
Die gegenständliche Publikation greift die aktuelle Flüchtlings- und Migrationsbewegung („Flüchtlingskrise“) auf, die für mittel- und westeuropäische Länder im September 2015 begann und in eingedämmter Form bis heute anhält. Der Autor, Ludger Pries, Inhaber des Lehrstuhls Soziologie/Organisation, Migration, Mitbestimmung an der Ruhr-Universität Bochum, reflektiert in diesem Buch die sozialen und politischen Prozesse.
Grundlegende Überlegungen
Seine Analyse baut auf drei grundsätzlichen Gedanken auf:
Erstens hinterfragt der Autor Denkweisen weiter Kreise in der Bevölkerung, welche das „Leben“ im Rahmen nationalstaatlicher „Container-Gesellschaften“ verorten. In abnehmender Wichtigkeit würde man sein Selbstverständnis zunächst lokal einbetten, dann national und letztlich global. Die Nationalgesellschaft wird als der zentrale Rahmen für die Identität, Lebenschancen und -lagen herangezogen. Das Modell „nationaler Container“ müsse jedoch – so Pries – angesichts der Globalisierung, „Glokalisierung“ und Transnationalisierung erweitert werden. Die Flüchtlingsbewegung sei insgesamt nur vor dem Hintergrund einer neuen transnationalen sozialen Frage zu verstehen. Im Gegensatz zur sozialen Frage im Kontext der Industrialisierung des 19., Jahrhunderts, mit der Pries die jetzige Flüchtlingsbewegung vergleicht, steht diese (transnationale) soziale Frage im Kontext bewaffneter Konflikte und Gewalt. In vielen Ländern des Nahen Ostens und Afrikas fehlt es an öffentlicher Sicherheit und an Berechenbarkeit des Lebens, z.B. fehlender Erwerbsmöglichkeiten und staatliche Regulierungen. Lösungen sind in der Regel nur grenzüberschreitend zu finden, führen beim Weiterbestehen oftmals zur Emigration bzw. zu Flucht.
Ein zweiter Hauptgedanke des Buches ist, dass die jüngsten Fluchtbewegungen „im Zusammenhang von Netzwerken flüchtlings- und asylbezogener Organisationen und einer entsprechenden transnationalen sozialen Bewegung gesehen werden“ müssen (S. 13).Flüchtlinge sind – so führt Ludger Pries weiter aus – in breitere transnationale Kommunikations- und Unterstützungsstrukturen eingebettet, die auf der Basis menschenrechtlicher und humanitärer Forderungen und Protestaktionen als soziale Bewegungen anzusehen sind. Es wird von einer zivilgesellschaftlichen und transnationalen Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl gesprochen, welche als loses Kooperationsnetzwerk fungiert. Verstärkt wird mit dieser Bewegung versucht, die legalen Einreisemöglichkeiten für Migranten zu erweitern, faire Asylverfahren und angemessene Unterbringung zu erreichen. Dieses als „Flüchtlingsbewegung“ bezeichnete Veränderungsgebilde legitimiert sich durch transnationale Fluchtursachen. Dabei verweist der Autor durchaus auf die widersprüchlichen Rollenerwartungen von Flüchtlingen, die vor Verfolgung und Gewalt im eigenen Land fliehen und (eigentlich) nicht auf Veränderung bestehender Verhältnisse im Aufnahmeland abzielen sollten.
Drittens wird die These aufgestellt, dass die Flüchtlingsbewegungen in einer Lücke zwischen einem bereits ausdifferenzierten normativen Rahmen eines europäischen Flüchtlings(aufnahme)systems und dem tatsächlichen Verhalten einer dominierenden „organisierten Nicht-Verantwortung“ von politischen Akteuren stand. In den Regulativen des GEAS („Gemeinsames Europäisches Asylsystem“) ist zwar ein verbesserter Flüchtlingsschutz festzustellen, der sich allerdings trotz des Drucks durch flüchtlingsnahe NGOs nicht als kognitive Säule europäischer Deutungsmuster etabliert hat. So wäre die Institutionalisierung des Systems noch nicht stabil genug gewesen, um die „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 gesamteuropäisch zu bewältigen.
Aufbau
Im ersten Teil wird zunächst auf die Ereignisse im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“ eingegangen. Dabei vergleicht Ludger Pries die nationalen Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts mit den Migrationsbewegungen im 21.Jahrhundert und verweist darauf, dass Ungerechtigkeit über langen Zeitraum nicht haltbar sei: „Sie zwingt die reichen, früh industrialisierten Länder des Nordens, einen jahrzehntelangen Selbstbetrug aufzugeben, der sich nationalstaatlich wie global als Problem der sozialen Ungleichheit präsentiert“ (S.23). Der Autor versteht folglich die Migrations- und Flüchtlingsbewegungen als aufgeschobene und verdrängte Strukturprobleme und Gerechtigkeitsherausforderungen. Er verweist auf drei Schübe von Konflikten, die zu verstärkten Migrationsbewegungen in Europa führten, zunächst im Westen (Spanien), dann in der Mitte (Italien) und schließlich im Südosten der EU (Griechenland). Einzelne Länder sowie die EU als Ganzes versuchte durch vermehrte Abschottung und Abkommen (z.B. mit Libyen) das Problem des zunehmenden Migrationsdrucks einzudämmen. Insgesamt wurde aber andauernd verdrängt – so Pries –, sich mit den Entwicklungen und den Fluchtursachen der seit 2008 steigenden Asylzahlen in Europa auseinanderzusetzen. Der Autor zeichnet dabei detailliert die (Migrations-)Entwicklungen in den Ländern des Mittelmeers nach, verweist auf die Bedeutung der Destabilisierung Libyens für die Flüchtlingsbewegung 2010 und auf den Beginn des Scheiterns der Dublin-Regelung im Jahr 2011. Dass die Dublin-Regelung nicht funktionierte war 2015 nicht neu, aber die starke Betroffenheit nördlicherer Länder. Die EU selbst betrieb über Jahre eine Politik der Nicht-Verantwortung für das Problem der Migration aus Afrika und dem Nahen Osten, wie sie auch die besondere Betroffenheit (wie z.B. Italien) nicht weiter in den Mittelpunkt stellte. Die Ereignisse, die 2015 begannen, waren daher in gewisser Weise vorangekündigt. Pries verweist nun darauf, dass die Flüchtlingsbewegung „aus informierten Akteuren, die über soziale Netzwerke und andere Kanäle miteinander verbunden (…) waren“ (S. 35), bestand und meint, dass Flüchtlinge und Flüchtlingsorganisationen vernetzt agierten. Der Autor geht danach auf Muster und Typen der Fluchtbewegung ein, auf die Gründe für die Dominanz der Männer, die Bedeutung der Genfer Flüchtlingskonvention, um schließlich die Fluchtkontexte in verschiedenen Regionen genauer zu besprechen. Von Bedeutung erscheint dem Autor die transnationale Dimension der Fluchtursachen, sodass eine Mitverantwortung diagnostiziert wird. Schließlich verweist der Autor auf die Problematik, dass zunehmende Grenzkontrollen die Flüchtlingsbewegungen nur temporär stoppen, sich Flüchtlinge andere (und teils mit höheren Preisen versehene) Routen suchen.
Der zweite Teil widmet sich den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, die mit der Politik und dem staatlichen Handeln einher- bzw. vorausging. Esbeginnt mit der Feststellung, dass die „Flüchtlingskrise“ ein „Ausdruck der jahrzehntlangen Verdrängung von strukturellen Herausforderungen der neuen und transnationalen sozialen Frage“ ist: „Es herrscht die Selbstgenügsamkeit des methodologischen Nationalismus vor, demzufolge nationalstaatlich verfasste Gemeinwesen die gleichsam naturwüchsige Bezugseinheit für gesellschaftliche Problemdefinitionen und -lösungen seien“ (S.57). Man wollte – so der Tenor – zwar die Globalisierung (von Wirtschaft), sie aber nicht auf Bereiche der Sozialpolitik gleichermaßen ausdehnen. Der Autor vertritt die Auffassung, dass sich die reichen Länder der neuen sozialen Frage verschließen, wodurch „diese zu ihnen“ kommt (S.59): die Zivilgesellschaft (und Teile der Flüchtlingsbewegung) hat dagegen die Notwendigkeit der Behandlung der (neuen) transnationalen Frage und die Ausmaße globaler sozialer Ungleichheit bereits seit langem erkannt. Pries verweist auf die Problematiken einer unkalkulierbaren „stop-and-go“-Bewegung von Regierungen europäischer Länder im Sommer 2015, wo sich bereits die Problematik der Grenzkontrollen und Einhaltung nationalstaatlicher Souveränität abzeichnete. Nach einer Chronologie der Ereignisse, beginnend im August, wird näher auf das „Wunder des Septembers 2015“ eingegangen und auf das offensichtliche Versagen des EU-Asylsystems verwiesen: es erfolgte eine „Massenwanderung“ und Transportierung von Menschen über die „Balkanroute“, in großem Ausmaß nach Österreich, Deutschland und Schweden. Nicht nur die politische Überzeugung, sondern das Engagement der Bevölkerung und die vielfältigen Formen von Unterstützungsleistungen, sei es an den Grenzen, Bahnhöfen oder in Gemeinden, waren zu beobachten. Der Autor konstatiert bis zum Ende 2015 eine Willkommenskultur, die weitaus ausgeprägter war als zu Beginn der 90er Jahre bei der Jugoslawienkrise. In der Frage nach den Motivlagen für die Hilfeleistungen werden verschiedene geortet: Bedürfnis nach Sinnerfüllung, christliche Nächstenliebe oder Hilfe als eigene Lebensstabilisierung. Pries schlägt jedenfalls – wie schon erwähnt – vor, von einer zivilgesellschaftlich-sozialen Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl zu sprechen und charakterisiert die Bewegung in mehreren Punkten. Unter anderem sind Flüchtlinge nicht nur Adressaten dieser Bewegung, sondern aktiver Teil. Als den Kern der Bewegung konstatiert der Autor den Imperativ: „Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz“. Danach geht Pries auf die organisationsbasierte Flüchtlingshilfe in Spanien und Italien sowie auf andere transnational europäische Netzwerke der Flüchtlingsbewegung ein, die auf eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse abzielen. Nach dieser Phase setzte eine Renationalisierung von Flüchtlings- und Asylpolitik ein, die selbst die Binnenfreizügigkeit zwischen den europäischen Ländern in Frage stellte.
Im dritten Teil wird das Verhalten wichtiger Gruppen in der Politik und Verwaltung betrachtet und analysiert. In der Flüchtlings- und Asylpolitik ist eine Verflechtung zwischen lokalen, nationalen, supranationalen, transnationalen und globalen Ebenen zu berücksichtigen, allerdings konstatiert Pries – trotz einer gewissen Homogenisierung und Anhebung der Standards der Asylpolitik in verschiedenen Ländern der EU – eine „organisierte Nicht-Verantwortung durch Kompetenzverschiebung zwischen Nationalstaaten und EU“. Ausführlicher wird in diesem Kapitel zunächst auf die europäischen Regulierungen sowie die dazugehörigen Entwicklungsschritte eingegangen, darauf hingewiesen, dass der Schutz der EU-Außengrenzen stark externalisiert wurde, einerseits von der EU (z.B. durch Verträge mit der Türkei), andererseits durch einzelne Mitgliedsstaaten (z.B. Verträge von Spanien mit Marokko). Dies führt dazu, wie Pries meint, dass der Flüchtlingsschutz verschlechtert werden würde. Gleichzeitig zeigten sich bereits im Herbst durch verschiedene Länder nationale Egoismen, nahm das schwach institutionalisierte GEAS-System eher Schaden. So sind in den EU-Ländern sehr unterschiedliche Anerkennungsraten für Asylgesuche zu verzeichnen. Die Praxis der Schutzgewährung variiert selbst zwischen Ländern wie Schweden, Deutschland und Frankreich erheblich. Zwischen den EU-Mitgliedsstaaten spiegeln sich historisch akzentuierte unterschiedliche Zugänge zu Asylfragen, abhängig von der imperialen Tradition (z.B. Niederlande), der Bevölkerungsstruktur oder der Integrationsstrategie. Pries verweist dabei auf wichtige sozioökonomische Faktoren in der Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme, die er anhand der „Armutsrate“ in einzelnen Ländern verdeutlicht. Auch die Erfahrungen mit Migration, gemessen am Anteil der ersten und zweiten Einwanderungsgeneration in der Gesamtbevölkerung, wird als Faktor eingeführt. Schließlich geht Pries auf die Lage einzelner Länder ein, um die unterschiedlichen Reaktionsweisen in der „Flüchtlingskrise“ zu erklären. Die weitgehend national strukturierte Nicht-Verantwortung funktioniert in der Weise, dass sich Länder bei Übernahme von Verantwortung „einfach wegducken“, gleichzeitig die Übernahme von anderen Mitgliedstaaten fordern. Selbst die vereinbarte Verteilung von Asylwerbern auf diverse EU-Länder funktioniert aufgrund dieses Mechanismus nicht. Pries fordert folglich eine „nachhaltige Bekämpfung von Fluchtursachen und einen verbesserten Flüchtlingsschutz (..) als unverzichtbare Bestandteile des politischen Projektes europäischer Einigung“ (S. 129).
Im vierten Teil entwickelt Pries das Konzept des „Ankommens“, das dem Namen der von mehreren Institutionen der BRD entwickelten Handy-Applikation folgt. Der Autor umfasst damit die Vorstellung, einen Raum zur Selbstverortung zu ermöglichen, die Anerkennung findet. Es umfasst Dimensionen des „Aufgenommenseins“ und „Akzeptiertwerdens“. Mit Bezug auf die Ankunft der „Gastarbeitergeneration“ beklagt der Autor, dass die Verwobenheit von Zuwanderern mit dem Herkunftsland verdächtig erscheint und selbst das „assimilatorische Ankommen wurde und wird den Migrierenden fast unmöglich gemacht“ (S. 132). Formen des Ankommens hängen somit nicht nur von den Migranten, sondern von der Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft ab. Pries vertritt die Meinung, dass „Millionen von Menschen in Deutschland von einem Teil der Ankunftsgesellschaft am Ankommen gehindert werden – wenn sie zum Beispiel auch in der dritten und vierten Generation noch vorwiegend als ´Ausländer´ bezeichnet werden“ (S. 133). Sie könnten aber oft auch nicht mehr zurückkehren. Für Flüchtlinge ist die Lage und der Ausgangspunkt der Migration noch schwieriger, hatte man aufgrund der Verfolgung meist noch keine Möglichkeit, bei Ankunft im fremden Land schon an die weitere Lebensplanung zu denken. Dennoch weist Pries Vorstellungen zurück, Flüchtlinge nur als Leidende und nicht genauso als aktiv Handelnde zu betrachten. Man muss allerdings die Möglichkeit haben, anzukommen. Das Bieten einer Ankommens-Möglichkeit wird nicht nur als altruistische Motivlage betrachtet, sondern als Chance, um „latente Risikolagen und unbewältigte Probleme zu bearbeiten“ (S. 139). Sie bieten einen Anlass über Flucht und Folgen des „Vertriebenseins“ zu reflektieren. Zwei Drittel der Gesamtbevölkerung der BRD hatte nach dem zweiten Weltkrieg Erfahrungen mit Flucht oder Zwangsverschleppung gemacht. Auch der „integrationsfeindliche und kontrafaktische Slogan ´Deutschland ist kein Einwanderungsland´“, der sich auf „Generationen von Einwanderern“ (S. 140) negativ auswirkte, könnte in diesem neuen Kontext aufgearbeitet werden. Pries konstatiert sowohl bei „Gastarbeiter“ als auch bei „Spätaussiedler“ einen Assimilationsdruck im „Ankommensprozess“. Letztlich sei aber die Bevölkerung, weder die Zivilgesellschaft noch die Politik, gerade im Hinblick auf eine gemeinsame Asylpolitik ausreichend in der EU angekommen und präsentieren sich die europäischen Länder – so Pries – seit Frühjahr 2016 eher wieder als „Welt mit geschlossenen Grenzen“ (S. 153). Das Konzept des Ankommens impliziert nach Pries, dass es sich in der Diskussion um Multikulturalität und Integration „zwischen der Skylla des Nichtanerkennens und Ausblendens von Diversität und der Charybdis einer folgenlosen Beliebigkeit von Diversität“ positioniert. Wirtschaftliche, kulturelle, soziale und politische Teilhabe ohne (monistische) Anpassungs- und Assimiliationsanforderungen werden postuliert.
Im fünften Kapitel wird das Konzept von Ankommen und Integration als möglichst chancengleiche Teilhabe näher ausgeführt. Fünf wesentliche Merkmale kennzeichnen das Konzept: Es wird ein weltoffenes, verantwortliches Denken und Handeln als Grundlage eines solchen Verständnisses von Integration erwartet. Transnationale Mobilität sollte nicht national oder instrumentell beurteilt werden. Darüber hinaus soll die Anerkennung von kultureller Vielfalt auch damit verbunden sein, dass die Verortung von Loyalitäten und Lebensstilen ein permanenter und vieldimensionaler Prozess ist, der nicht darauf beschränkt sein soll, an einem unilokalen „Containerraum“ teilzuhaben. Einer unter vielen konkreteren Punkten ist, staatliche Institutionen als „Willkommensbehörden“ einzurichten.
Diskussion und Fazit
Pries legt eine Analyse der aktuellen Flüchtlingsbewegung vor, in der er zunächst die „transnationale soziale Frage“, globale soziale Ungleichheit und Fluchtursachen, als Ausgangspunkt heranzieht. Er sieht die Zivilgesellschaft und ihre (lose gekoppelten) Organisationen als Teil der Bewegung, konstatiert eine (mangelhaft) „organisierte Nicht-Verantwortung“ der EU und ihrer nationalstaatlich orientierten Mitgliedsländer. Schließlich verweist er darauf, dass Flüchtlingen ein „Ankommen“ ermöglicht werden soll, zielt damit auf die Verwirklichung eines Konzepts zwischen (derzeit praktizierter) Integration und eines multikulturellen Zusammenlebens. Die Flüchtlings- bzw. Einwanderungs- und Integrationspolitik werden dabei auf – nationalstaatlicher wie europäischer Ebene – kritisch beurteilt, die „Flüchtlingskrise“ als Chance gesehen, das europäische Projekt zu justieren.
Das Buch von Pries stellt die Diskussion von sozialen Folgen der Flüchtlingsbewegung für die Aufnahmeländer, des sozialen Wandels und von Problemen, die mit Migration einhergehen, zurück. Insofern lässt sich die Arbeit in Max Webers „verantwortungsethischer“ Ausrichtung kaum verorten (vgl. Ott 2016). Die Flüchtlings- bzw. Migrationspolitik wird daher auch anders thematisiert. Unter anderem verwies der an der Universität Oxford lehrende Entwicklungsökonom und Migrationsforscher Collier (2014) in einem Interview auf die Vermeidbarkeit der „Flüchtlingskrise“ durch Hilfsmaßnahmen und nahm auch zur (damaligen) deutschen Flüchtlingspolitik Stellung (vgl. zu Interviews mit Collier in: Die Zeit, Der Spiegel, Der Standard, Frankfurter Allgemeine Zeitung). In einer erst im Erscheinen befindlichen Bilanzierung der Flüchtlingspolitik dürfte er (gemeinsam mit Betts, 2017) seine bisherige Argumentation weiterentwickeln: keine „offenen Türen“, aber auch „keine Abschottung“ sowie neue Regeln und Institutionen empfehlen, die Flüchtlinge in die Lage versetzen, rasch wieder für sich selbst zu sorgen (laut Ankündigungstext des Buches). Milanovic (2016) – Ökonom und an einer New Yorker Universität lehrend, der für seinen Überblick über nationale und globale (transkontinentale) soziale Ungleichheit den Bruno-Kreisky-Preis als Politisches Buch im letzten Jahr erhielt – erwägt Anreizsysteme für ein liberaleres Einwanderungsrecht, und zwar durch (rechtliche) Einschränkungen von Zuwanderern, z.B. höhere Steuern oder auch befristete Aufenthaltsgenehmigungen. In einem neueren Bericht (Migrationsrat für Österreich 12/2016) wird mit Bezugnahme auf Folgewirkungen von Migration eine (nationale) Zuwanderungsstrategie diskutiert. Dabei wird die Frage erörtert, wie viele Zuwanderer eine Gesellschaft im Hinblick auf funktionierende (Teil-)Systeme (Bildung, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Sicherheit etc.) und auf die Erhaltung von Modellen sozialer Absicherung bewältigen kann, um auch die humanitäre Hilfe für Schutzbedürftige und die Unterstützung für die Herkunftsländer von Migranten zu erhalten.
Aus der Sicht des Rezensenten sollte man die Perspektive von Pries mit anderen vergleichen, um die Argumente zu reflektieren und um sich ein eigenes Urteil in der Flüchtlings- bzw. Zuwanderungsfrage zu bilden.
Literatur
- Paul Collier: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. München: Siedler Verlag 2014.
- Konrad Ott: Zuwanderung und Moral. Stuttgart: Reclam 2016.
- Migrationsrat für Österreich: Migration verstehen – Migration steuern. Bericht des Migrationsrats für Österreich. Wien. Dezember 2016 (www.bmi.gv.at/cms/BMI_Service/migration/Migrationsbericht.pdf)
- Alexander Betts/Paul Collier: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist. München: Siedler Verlag (erscheint im April 2017).
- Branko Milanovic: Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht. Berlin: Suhrkamp Verlag 2016.
Zeitungen/Zeitschriften:
- Der Spiegel vom 6. Oktober 2014. Christoph Scheuermann im Interview mit Paul Collier. „Wie viel Vielfalt ertragen wir“. (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-129568362.html)
- Die Zeit vom 9. Februar 2015. Philipp Faigle im Interview mit Paul Collier. „Wir reichen den Menschen den geladenen Revolver“. (www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/interview-collier-zuwanderung)
- Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Februar 2016. Lena Schipper im Interview mit Paul Collier. „Merkels Flüchtlingspolitik ist verwerflich“. (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/paul-collier-ueber-angela-merkels-fluechtlingspolitik-14068937.html)
- Die Zeit vom 11.Mai 2016. Gespräch mit Branko Milanovic. „Ökonom fordert höhere Steuern für Migranten“. (www.zeit.de/wirtschaft/2016-05/einwanderung-migrationspolitik-oekonom-branko-milanovic-interview)
- Die Zeit vom 29. Oktober 2016. Mark Schieritz im Interview mit Paul Collier. „Afrika kann sich nur selbst retten“. (www.zeit.de/2016/43/paul-collier-angela-merkel-afrika-fluechtlingspolitik)
- Der Standard vom 12. November 2016.Anna Giulia Fink im Interview mit Paul Collier. „Flüchtlingskrise wäre gänzlich vermeidbar gewesen“. (http://derstandard.at/2000047408913/Fluechtlingskrise-waere-gaenzlich-vermeidbar-gewesen)
Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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Es gibt 21 Rezensionen von Gerhard Jost.
Zitiervorschlag
Gerhard Jost. Rezension vom 11.01.2017 zu:
Ludger Pries: Migration und Ankommen. Die Chancen der Flüchtlingsbewegung. Campus Verlag
(Frankfurt) 2016.
ISBN 978-3-593-50638-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21207.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
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