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Valentin Beck: Eine Theorie der globalen Verantwortung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 06.09.2016

Cover Valentin Beck: Eine Theorie der globalen Verantwortung ISBN 978-3-518-29773-5

Valentin Beck: Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2016. 350 Seiten. ISBN 978-3-518-29773-5. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 25,90 sFr.

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Thema

Es geht um die Aufforderungen, angesichts der sich immer interdependenter, entgrenzender, sozial und materiell ungerechter und weltanschaulich und ideologisch unterschiedlich entwickelnden (Einen?) Welt, zu einer Aktualisierung unseres Selbst- und Weltverständnisses zu kommen und endlich den notwendigen Perspektivenwechsel einzuleiten, wie ihn Prognosen und Appelle seit Jahrzehnten empfehlen und eindringlich von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 zum Ausdruck kommt: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18). Die Lage der Welt wird von den einen, den Wohlhabenden und Erfolgreichen, mit dem Fortschritts- und Wachstumsantrieb eines „Immer-weiter-immer-schneller-immer-höher-immer-mehr“ analysiert, während die anderen, die Habenichtse und Armen, soziale Gerechtigkeit einfordern. Bereits 1987 hat die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung mit dem Brundtland-Bericht angemahnt, dass ökonomisches Handeln nicht mehr nach dem Prinzip eines „business as usual“ und eines „throughput growth“, einem „Durchflusswachstum“ erfolgen dürfe, sondern von einem Bewusstsein einer„sustainable development“, einer tragfähigen Entwicklung bestimmt sein müsse.(Volker Hauff, Hrsg., Unsere Gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, 421 S.). Die Diskrepanz artikuliert sich zum einen in egoistischen, ethnozentristischen und verharmlosenden Verhaltensweisen, zum anderen im Zweifel, ob der Mensch tatsächlich alles machen dürfe, was er zu können glaubt. Die optimistischen, hoffnungsvollen und aktiven Auffassungen, dass eine andere, bessere Eine Welt möglich ist, scheinen in den Sümpfen der wirklichen Ungerechtigkeiten und materiellen Ungleichheiten der Welt eher zu versinken.

Es ist die Konfrontation mit den vielfältigen Formen der Verantwortungsethiken, wie sie sich bei Max Weber als Folgen für die Welt ergeben, bei Sartre durch die existentielle Wahrnehmung, durch Hans Jonas´ Prinzip der Verantwortung, das sich auch auf zukünftige Generationen und die Natur als Ganzes erstreckt und in Albert Camus´ Interpretation zeigt, dass man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen könne. Es ist schließlich der Kantische kategorische Imperativ, wie er sich als sittliches und moralisches Denken und Handeln für Menschen anempfiehlt, die in der Lage sind und den Mut haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.

Entstehungshintergrund und Autor

Verantwortungsethik, wie sie als humaner und moralischer Wert in den Menschheitsgeboten zum Ausdruck kommt und als „globale Ethik“ in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 proklamiert wird – „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ – gilt es zu erreichen. Bewusstseinswandel allerdings fällt weder vom Himmel, noch darf er per Ordre Mufti verordnet werden. Es kommt vielmehr darauf an zu erkennen, dass jeder Einzelne in der Welt tagtäglich die Verantwortung für ein gerechtes, friedliches und humanes Leben aller Menschen in der Gegenwart und Zukunft mit sich trägt. Wenn wir also das Problem der ungerechten Verteilung der ideellen und materiellen Güter auf der Erde ansprechen und für deren Vermeidung eintreten, müssen wir nach Möglichkeiten suchen, wie es gelingen kann, dass möglichst alle Menschen über die Ursachen und Entwicklung von Armut in der Welt aufgeklärt werden. Es geht um die Sisyphos-Arbeit sich dafür stark zu machen, Menschen davon zu überzeugen, dass sie aufgeklärt sein wollen! Die Instrumente dafür sind: Information, Überzeugungskraft und Empathie, und zwar sowohl beim theoretischen Denken, als auch im praktischen Vollzug.

Schauen wir uns daraufhin die Situation an, dass die Habenichtse immer ärmer und die bereits Wohlhabenden immer reicher werden und sich dadurch auf der Erde eine Kluft auftut, die nicht nur Humanität verhindert oder unwirksam werden lässt, sondern auch zu einer Lawine wird, die ein humanes Leben für alle Menschen unmöglich macht. Die Bekämpfung der Weltarmut steht zwar auf der lokal- und globalorientierten Agenda; und es scheint sogar so zu sein, dass im individuellen und gesellschaftlichen Bewusstsein eine Ahnung darüber besteht, dass „die extremen Entbehrungen von in Armut lebenden Menschen in der Regel negativ beurteilt und moralisch nicht für tolerierbar gehalten werden“; sie bleiben jedoch eher „wirkungslos, weil sie niemanden konkret in die Verantwortung nehmen“.

Mit dieser Feststellung begründet der Philosoph von der Freien Universität Berlin, Valentin Beck, seine „Theorie der globalen Verantwortung“. Er plädiert dafür, den traditionellen Begriff der Verantwortung „im Angesicht der materiellen Lage eines Teils der Weltbevölkerung eine Korrektur und Ergänzung einiger gewöhnlicher Moralvorstellungen“ vorzunehmen; und zwar neben der Bedeutung des pflichtigen Denkens und Handelns den der Verantwortlichkeit in den Fokus der humanen Verantwortung zu stellen. Dabei geht er von vier Prämissen aus: Zum einen von der „Reichweite“, also den Geltungsbegründungen für die Wohlhabenden in der Welt, für Gerechtigkeit Sorge zu tragen ( vgl. dazu auch die Diskussionen um altruistisches Denken und Handeln: William MacAskill, Gutes besser machen. Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20648.php; Peter Singer, Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20649.php). Zum zweiten ist die Frage nach dem „Gehalt der Normen“ von Bedeutung, die extreme Armut in der Welt zulassen oder sogar schaffen ( siehe dazu auch: Jürgen Ritsert, Wert. Warum uns etwas lieb und teuer ist, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15972.php). Drittens kommt das „Gewicht“ ins Spiel, die Einschätzung nämlich, welche Aufmerksamkeit der Weltarmutsverantwortung im Vergleich mit anderen moralischen Werten erhält. Und schließlich viertens die wichtige Frage zum Verhältnis von individueller und kollektiver Verantwortung.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung gliedert der Autor seine Theorie der globalen Verantwortung in weitere sieben Kapitel. Der altruistischen Sichtweise, wie sie von Singer u.a. als „effektiver Altruismus“ ausgewiesen wird, widmet V. Beck einen gesonderten Exkurs.

  • Der Begriff der Verantwortung und sein Stellenwert für die normative Betrachtung der Weltarmut.
  • Der globale Kontext der Verantwortung.
  • Interpersonale und strukturelle Verantwortung im globalen Kontext.
  • Die globale Reichweite von struktureller Verantwortung.
  • Menschenrechte als begründungspluralistischer Standard von Weltarmutsverantwortung.
  • Die Objekte von Weltarmutsverantwortung.
  • Die Subjekte von Weltarmutsverantwortung.

Die historische, anthropologische und normative Herleitung der Verantwortungsbegrifflichkeiten klärt sowohl die unterschiedlichen, alltäglichen und philosophischen Gebräuche des Begriffs; sie verdeutlicht aber auch, dass „die allgegenwärtige Rede von ‚Verantwortung‘ ( ) sich .. als Indiz dafür deuten (lässt), dass dieses Wort innerhalb des normativen Vokabulars zunehmend die Stellung eines ‚Grundwortschatzes‘ einnimmt, in dem sich eine echte Welt- und Lebenserfahrung ausspricht“.

„Global denken und lokal handeln“, mit diesem Slogan kommt die „Welthaftigkeit“ des Menschen (Wolfgang Welsch: Homo mundanus) zum Ausdruck. Weltverantwortung im Sinne einer Theorie globaler Verantwortung muss demnach die Zusammenhänge und Verantwortlichkeiten von ethnischen und nationalstaatlichen Zugehörigkeiten berücksichtigen und diese in Beziehung zu den individuellen, allgemeinmenschlichen Werte- und Normenvorstellungen bringen. „Der Blick ist darüber hinaus auch auf Interaktionen grenzüberschreitender Natur sowie auf ein Netz von weltumspannenden sozialen Institutionen und die von diesen beeinflussten Hintergrundbedingungen sozialen Handelns zu richten, die potentiell als Quelle einer entgrenzten besonderen Verantwortung in Betracht kommen“.

Über die individuelle und personelle Verantwortung hinaus, zeigen sich interpersonale und strukturelle Wirkungen im globalen Zusammenhang. „Soziale Gerechtigkeit im nationalstaatlichen Rahmen erfordert … immer auch die Aufrechterhaltung gerechter Hintergrundstrukturen für verschiedene Interaktionen“. Es sind lokale und globale Fragen nach der „Reichweite“ menschlichen Handelns, die einen normativ-theoretischen Konsens über Weltarmutsverantwortung ermöglicht; dahingehend nämlich, „dass es eine moralisch begründete Verantwortung von globaler Reichweite gibt, soziale Strukturen so zu gestalten, dass bestimmte minimale normative Standards der würdevollen Behandlung von Menschen erfüllt sind“.

Die Bedeutung der allgemeingültigen, nicht relativierbaren Menschenrechte als „basale“ Grundlagen eines gerechten, gleichen, friedlichen und humanen Zusammenlebens der Menschen auf der Erde ist immanent und bedarf „einer pluralistischen Rechtfertigung von Menschenrechtsnormen im Sinne ihrer Vereinbarkeit mit verschiedenen moralischen, gerechtigkeitstheoretischen und weltanschaulichen Perspektiven.“ „Subjekte (tragen) eine gemeinsame Verantwortung dafür ( ), soziale Institutionen und Strukturen so zu gestalten, dass basale Menschenrechte weltweit geschützt sind“ (vgl. dazu auch: Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12425.php).

Die theoretischen Aufweise verlangen natürlich eine Antwort nach den Umsetzungs- und Realisierungsmöglichkeiten in der (Einen?) Welt. Es sind Fragen danach, wie Bürgerinnen und Bürger von wirtschaftlich und politisch einflussreichen Ländern ihre Weltarmutsverantwortung wahrnehmen können; und zwar in dreierlei Hinsicht: Zum einen dadurch, dass sie zu einer Reform der internationalen Institutionen im Sinne des Menschenrechtsschutzes beitragen; zum zweiten, innerstaatliche Reformen bewirken; und drittens, die von der Weltarmut direkt Betroffenen dialogisch einbeziehen.

Die Nachschau nach den individuellen und kollektiven Subjekten der Weltarmutsverantwortung ergibt, dass bei den Analysen und Ursachenforschungen ganz unterschiedliche, theoretische und praxisbezogene Erklärungsmuster angeboten werden. Sie nach ihren Wert- und Wirkungsgraden hin zu diskutieren und sie miteinander zu vergleichen, macht einen Gutteil der kontroversen Auseinandersetzungen aus. „Die Identifikation von handlungsfähigen Kollektiven (muss) generell der unverzichtbare erste Schritt sein ( ), weil sie die Vorbedingung für die gezielte Veränderung von sozialen Strukturen im Einklang mit Normen und damit auch die Vorbedingung für die Übernahme von struktureller Verantwortung darstellt“.

Fazit

„Was (also) sind die Bürgerinnen und Bürger wohlhabender Länder den Menschen in extremer Armut in moralischer Hinsicht schuldig?“. Darauf ließe sich erst einmal die einfache und logische Antwort geben, „dass mehr wird, wenn wir teilen“, wie dies 2009 die Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften, Elinor Ostrom, mit ihrer Vision von der „Welt als Gemeingut“ zum Ausdruck brachte (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php). Immerhin: Die Hoffnung lebt, dass es (eines Tages) gelingen könne, extreme Armut in der Welt abzuschaffen. Auch wenn die ersten Millenniumsentwicklungsziele von 2000 bis 2015, in denen die Reduzierung der Armut ganz oben auf der Agenda standen – und nur unzulänglich und unbefriedigend verwirklicht werden konnten, hat die Weltgemeinschaft mit den „Sustainable Development Goals“ beschlossen, bis zum Jahr 2030 „Armut in allen ihren Formen und überall (zu) beenden“.

Die in der „Theorie der globalen Verantwortung“ fokussierte Weltarmutsverantwortung gründet auf der Erkenntnis, dass „Armut ein multidimensionales Problem darstellt.., (das sich) nicht nur an den dringendsten materiellen Mitteln zur Subsistenzsicherung orientiert, sondern auch an der Gewährleistung von anderen Grundgütern, etwa Gesundheit und politischer Mitbestimmung“. Damit wird ausgesprochen, dass globale Verantwortung(sethik) jedes Individuum und jede Gesellschaft herausfordern muss, tatsächlich mit dem aufgeklärten Anspruch, dass jeder Mensch ein „zôon politikon“ (Aristoteles) ist, der mit seiner Vernunftfähigkeit, seiner Kompetenz, Gutes von Bösem unterscheiden zu können und darauf angewiesen ist, friedlich, gleich und gerecht mit den Mitmenschen lokal und global zusammen zu leben.

Valentin Beck legt mit seiner „Theorie der globalen Verantwortung“ einen wichtigen und notwendigen Baustein für die Baustelle EINE WELT vor.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245