Harlich H. Stavemann, Yvonne Hülsner: Integrative KVT bei Frustrationsintoleranz
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 02.02.2017
Harlich H. Stavemann, Yvonne Hülsner: Integrative KVT bei Frustrationsintoleranz. Ärgerstörungen und Prokrastination. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2016. 230 Seiten. ISBN 978-3-621-28357-1. 36,95 EUR.
Thema
Der Marshmallow-Test ist in letzter Zeit durch viele Veröffentlichungen wieder bekannter geworden. Mit diesem Untersuchungsparadigma aus den 1970er Jahren konnte der Psychologe Walter Mischel die Bedeutung der Selbstregulationsfähigkeiten von Kindern für ihren langfristigen schulischen und sozialen Erfolg zeigen. Bei dem Test setzt man vierjährige Kinder an einen Tisch mit einem Marshmellow darauf und stellt ihnen frei, entweder zu warten bis ein Untersuchungsleiter wieder hereinkommt und dafür den Marshmellow und einen zweiten dazu zu bekommen, oder den einen gleich zu verspeisen, sobald der Untersucher das Zimmer verlassen hat, natürlich bei Verlust des möglichen zweiten Marshmellows. Bei Nachuntersuchungen fand sich, dass die Fähigkeit warten zu können sehr eng mit dem langfristigen Erfolg der Kinder zusammenhing, weit enger als etwa ihre Intelligenz. Selbstregulatorische Fähigkeiten sind eine zentrale Persönlichkeitsdimension, ihre geringe Ausprägung ist ein psychologisches Defizit mit großen sozialen Konsequenzen. Von der psychotherapeutischen Behandlung dieses Defizits handelt das neue Buch von Stavemann und Hülsner, in ihrer Terminologie heißt es ‚Frustrationsintoleranz‘ (FIT).
Autor und Autorin
Harlich Stavemann ist ein bekannter Vertreter der kognitiven Verhaltenstherapie. Er hat die rational-emotive Therapie von Albert Ellis in Deutschland verbreitet und hat in drei Jahrzehnten als Leiter des Hamburger Ausbildungsinstituts für integrative Verhaltenstherapie eine große Zahl von psychologischen Psychotherapeuten geprägt.
Die Co-Autorin Yvonne Hülsner ist eine Schülerin von Stavemann, sie betreibt eine Praxis in Bielefeld.
Entstehungshintergrund
Stavemann hat dem verhaltenstherapeutischen Ethos gemäß seinen Ansatz immer für Patienten und Therapeuten transparent gemacht. Er tat dies zentral mit dem Therapie-Begleitbuch ‚Meine Gedanken machen mich krank‘ von 1982, das in mehreren Überarbeitungsstufen unter den Titeln ‚Emotionale Turbulenzen‘ und ‚Im Gefühlsdschungel‘ immer wieder aufgelegt wurde. Dazu kamen in den letzten Jahren verstärkt Bücher, die die Ausdifferenzierung des therapeutischen Ansatzes zeigen. Bei diesen geht es neben dem Einsatz der kognitiven Verhaltenstherapie bei den geläufigsten Problemen Angst und Depression um spezielle Anwendungsbereiche wie die forensische Therapie, die Therapie in der neuropsychologischen Rehabilitation oder die Kinder- und Jugendlichentherapie. In einer zweiten Richtung der Ausdifferenzierung sind Bücher von Stavemann zu den zentralen Ursachen für emotionale Turbulenzen erschienen. Er benennt hier als die drei Kernprobleme: Selbstwertprobleme, existenzielle Probleme und Probleme der Frustrationsintoleranz. Mit letzteren befasst sich das aktuelle Buch. Erforderlich wurde es, weil Stavemann eine ‚eklatante Zunahme‘ (p. 35) dieses Problemtyps bei Psychotherapiepatienten von 25 auf 70 Prozent in den letzten Jahrzehnten beobachtet hat.
Das Buch wendet sich an Ausbildungskandidaten der Psychotherapie. Ein Buch für Betroffene ist bereits 2013 unter dem schönen Titel ‚Frustkiller und Schweinehundbesieger: Geringe Frustrationstoleranz und Aufschieberitis loswerden‘ erschienen und wurde hier ebenfalls besprochen (www.socialnet.de/rezensionen/15312.php).
Aufbau
Das Buch folgt im Aufbau einer Zweiteilung.
- Im ersten Teil wird zunächst das Phänomen Frustrationsintoleranz beschrieben, die weiteren Abschnitte dieses Teils behandeln dann die Entstehung, Diagnose, Problemanalyse, Symptome und Konsequenzen sowie die Therapie und die häufigen Widerstände gegen eine Therapie in einer allgemeinen Weise.
- Im zweiten Teil wird die Behandlung der FIT in einzelnen Kapiteln konkretisiert, die einem achtschrittigen Therapieverlaufsmodell vom Erstkontakt bis zum Training neuer Konzepte folgen.
Im Anhang findet sich der Hinweis auf umfangreiches Arbeitsmaterial, das den Käufern auf der Internetseite des Verlags zur Verfügung steht, sowie ein Glossar zu den wichtigen Begriffen der kognitiven Verhaltenstherapie.
Inhalt
Im theoretischen Teil werden die beiden Erscheinungsweisen der Frustrationsintoleranz erklärt. Nicht nur die Aufschieberitis, die sogenannte Prokrastination, lässt sich auf FIT zurückführen; auch die von Stavemann so benannte Ärgerstörung beruht auf FIT. Für die Prokrastination ist ein depressiver Verarbeitungsmodus der FIT verantwortlich. Ist eine Person aber mehr zu einer offensiven und fordernden Grundhaltung disponiert, dann resultiert aus der FIT ein chronischer Ärgerzustand mit sozialen, psychischen und häufig auch psychosomatischen Folgen. Die Folgen des ewigen Aufschiebens sind hingegen das Nichterreichen von Zielen und Aufgaben, chronische Unzufriedenheit und Depression.
Als psychische Störungen im Sinne der ICD oder des DSM sind diese Störungen nicht kodifiziert. Hier sehen die Autoren ein Defizit, sie machen eine Reihe von Vorschlägen, wie im Rahmen einer Psychotherapie diese Störungen sinnvoll als Krankheiten verschlüsselt werden können. Auch in wissenschaftlicher Hinsicht konstatieren die Autoren ein Defizit in der Beschäftigung mit FIT. Größere Beiträge haben bislang vor allem Kanfer und Ellis geleistet. Für die Entstehung der FIT machen sie vier Faktoren verantwortlich. Sie benennen die natürliche Faulheit, die genetisch gesteuerte Energiesparneigung der Menschen und die damit verbundene Tendenz zu einem kurzfristigen Denken und Handeln. Weiter werden die permissive Erziehung verantwortlich gemacht, die den Belohnungsaufschub nur wenig trainiert und mit egalitären Idealen die Kinder nicht darauf vorbereitet, sich in hierarchische Strukturen einzufügen, sowie die Veränderungen der Familienstrukturen durch die weitgehend sanktionsfreien Möglichkeiten der Scheidung und Trennung, die heute das früher alternativlose Zusammenleben mit einer modellhaften Kompromissbildung in der Lebensführung ersetzt haben.
Zur Diagnostik der FIT-Syndrome werden die kognitiven Stile von Ellis/Stavemann herangezogen. Nach den Autoren (p. 39) sind es das ‚Null-Verzicht-Denken‘, das ‚absolute Fordern und Muss-Denken‘ sowie das ‚Gerechtigkeitsdenken‘, die als Stile eindeutig der FIT zuzuordnen sind. Zur weiteren Diagnostik (p. 41 ff.) werden Fragen der Abgrenzung von normalen und pathologischen Ausprägungen erörtert. Bei der ungenügenden Kodifizierung der Störungen ist es der subjektive Leidensdruck, der hier den Ausschlag gibt. Daneben werden differenzialdiagnostische Überlegungen angestellt sowie Subtypen der Ärgerstörung und der Prokrastination beschrieben und mit griffigen Benennungen belegt. Das für die Ärgerstörung zentrale Muster des rigiden Forderns wird in den Ausformungen der ‚Absoluten Forderer und Wutbrummer‘, der ‚einsamen Stars‘, der ‚Wunschdenker‘ und der Klienten ‚im Wartesaal bedingungsloser Liebe‘ beschrieben. Als Prokrastinierer fungieren die Varianten ‚Kurzfristige Lustmaximierer‘, ‚Carpe-diem-Fans‘, ‚Entscheidungsverweigerer‘ und ‚Null-Verzicht-Junkies‘. Als Therapieziele werden für alle gemeinsam der Aufbau von Frustrationstoleranz durch Akzeptanz und Commitment, die Entwicklung eines Langfrist-Hedonismus und die Förderung der Einsicht in die Ursachen der Problematik genannt (p. 45). Für die Behandlung der beiden Grundformen werden allgemeine Behandlungspläne vorgestellt. Dazu wird eine im Allgemeinen eher ungünstige Prognose gestellt. Die Therapie erfordert all das, was den Betroffenen fehlt oder sie vermeiden wollen (p. 57 f.). Weitere Themen sind dann der Umgang mit Widerständen und die Voraussetzungen auf Seiten der Therapeuten.
Im zweiten Teil werden die Besonderheiten des therapeutischen Vorgehens bei der Ärgerstörung und der Prokrastination phasenspezifisch behandelt. Für die Konkretisierung von Details werden durchgehend die exemplarischen Fälle von ‚Frau Trübsal‘ und ‚Herrn Hochdruck‘ dargestellt. Die Erarbeitung von einzelnen Schritten in den Therapien werden mit kommentierten Transkripten aus dem Dialog von Klient und Therapeut veranschaulicht. In dieser Weise werden die Phasen
- des Erstkontakts,
- der Exploration,
- der Lebenszielanalyse,
- der Wissensvermittlung,
- der Vermittlung eines kognitiven Modells zur Emotionsentstehung,
- der Rekonstruktion unbewusster Konzepte,
- ihrer Bearbeitung und
- der Bahnung neuer Konzepte behandelt.
Die Darstellung folgt für alle Phasen einem einheitlichen Schema. Erläutert werden dabei immer nur die für die Behandlung der FIT spezifischen Sachverhalte, während für das allgemeine Vorgehen bei einer kognitiven Verhaltenstherapie sensu Stavemann auf andere Veröffentlichungen verwiesen wird. Zu Schwierigkeiten werden mögliche Lösungswege vorgeschlagen, auf Arbeits- und Informationsblätter, die in den verschiedenen Abschnitten eingesetzt werden können, wird verwiesen.
Diskussion
Das Buch ist eine sehr konkrete Anleitung zur psychotherapeutischen Behandlung der FIT. Es will vor allem für angehende Professionals hilfreich sein und ist daher von einem sehr hohen Grad an Strukturierung gekennzeichnet. Wer schon mit Stavemanns Denkstilen und seiner ABC-Analyse vertraut ist, wird in dem Buch eine große Zahl von Wiederholungen aus anderen Veröffentlichungen finden. Dabei versuchen die Autoren aber auch, unnötige Wiederholungen zu vermeiden. Besonders hilfreich erscheint die von Stavemann entwickelte Form der Kommentierung von therapeutischen Gesprächsverläufen sowie die überaus reichhaltige Zusammenstellung von phasenspezifischen Widerständen und Problemen sowie der Umgang mit ihnen. Die Ergänzung durch Arbeitsblätter und die Markierung der Einsatzstellen für diese Hilfen ist ein weiterer Pluspunkt dieses sehr didaktischen Buches.
Eher kurz hält sich die Darstellung bei den Ursachen der FIT-Probleme auf. Hier wird im Wesentlichen nur knapp konstatiert. Der Verführung zu längeren kulturkritischen Betrachtungen widerstehen die Autoren in lässiger Weise. Das wird manche Leser vielleicht unbefriedigt lassen.
Fazit
Das Buch gibt eine knappe und präzise Einführung zu psychischen Störungen, die auf Frustrationsintoleranz zurückzuführen sind, nämlich die Ärgerstörung und die Prokrastination. Es erläutert detailliert und didaktisch reflektiert die Vorgehensweise zu ihrer Behandlung aus der Sicht der kognitiven Verhaltenstherapie in der Ausformung von Stavemann. Die Leser erhalten konkrete Anleitungen zur Behandlung der betroffenen Klienten. Viele der vorgestellten Strategien und Problemlösungen sind auch für den Umgang mit ähnlichen Klienten in Feldern wie der Berufsförderung, der Studienberatung, der Obdachlosen- oder der Familienhilfe ausgesprochen nützlich.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 02.02.2017 zu:
Harlich H. Stavemann, Yvonne Hülsner: Integrative KVT bei Frustrationsintoleranz. Ärgerstörungen und Prokrastination. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2016.
ISBN 978-3-621-28357-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21250.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
Urheberrecht
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