Gabriel Berger: Umgeben von Hass und Mitgefühl. Jüdische Autonomie in Polen (...)
Rezensiert von Prof. Dr. Gisbert Roloff, 29.11.2016

Gabriel Berger: Umgeben von Hass und Mitgefühl. Jüdische Autonomie in Polen nach der Shoah 1945-1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns. Lichtig-Verlag (Berlin) 2016. 197 Seiten. ISBN 978-3-929905-36-6. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR.
Thema
Was wenig bekannt ist: Schon drei Jahre vor der Gründung des Staates Israel siedelten sich zahlreiche Juden, meist Überlebende der Konzentrationslager, aber auch Rückkehrer aus der Sowjetunion, im niederschlesischen Reichenbach – polnisch Dzierzoniow – an. Sie wollten ihre jahrhundertealte polnisch-jüdische Tradition erhalten und damit eine Alternative zur Ansiedlung in Palästina bieten. Motor dieser Bewegung war Jakob Egit, Vorsitzender des Jüdischen Wojewodschaftskomitees Niederschlesien. Die sowjetischen Kommunisten unterstützten seinen Plan zunächst, indem sie eine Gruppe KZ-Überlebender dort ansiedelten. Nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 zogen sie jedoch ihre Unterstützung zurück und inhaftierten Jakob Egit. Die meisten jüdischen Bürger wanderten in der Folge nach Israel aus. Egit selbst wählte Kanada als Heimat. Im vorliegenden Buch beschreibt Gabriel Berger die kaum bekannte Geschichte dieses hoffnungsvollen Anfangs und dessen Scheitern.
Autor
Gabriel Berger lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Geboren 1944 in Valence/Frankreich, wuchs er in Belgien und Polen auf, seit 1957 lebte er in Leipzig und Dresden. Dort von 1962 bis 1967 Studium der Physik. 1968/69 Militärdienst in der Nationalen Volksarmee. 1969 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf. 1976/77 politischer Häftling in Dresden und Cottbus wegen „Staatsverleumdung“. Seit 1977 in der Bundesrepublik Deutschland, zunächst als Mitarbeiter am Institut für Kerntechnik der TU Berlin, von 1981 bis 1983 Studium der Philosophie an der TU Berlin und journalistische Tätigkeit. Seit 1984 IT-Trainer und freier Schriftsteller. Werke u.a.: Mir langt´s, ich gehe (Herder Verlag 1988); Ich protestiere also bin ich (trafo Verlag 2008); Von Helden und Versagern (trafo Verlag 2009); Josef und seine Kinder (trafo Verlag 2011); (www.gabriel-berger.de).
Entstehungshintergrund
Den Anstoß für das Buch erhielt Berger im Jahr 2010 bei einer Begegnung mit Lala Süsskind, damals Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins. Sie war 1947 mit den Eltern aus ihrer schlesischen Geburtsstadt Reichenbach/Dzierzoniów nach Berlin gekommen. Dass jemand so kurz nach dem Krieg Polen verlassen und ins ehemalige Nazideutschland ziehen konnte, überraschte Berger ziemlich, waren doch seine eigenen Eltern 1948 von Belgien nach Polen gezogen, wo der Vater sich am „Aufbau des Sozialismus“ beteiligen wollte. Welche Fluchtgründe aus dem Nachkriegspolen konnte es also für Juden geben? Denn eigentlich wollte Jakob Egit ja eine Bleibe für Juden in Polen als Alternative zum zionistischen Projekt der Ansiedlung von Juden in Palästina schaffen, und zwar vor der Gründung des Staates Israel. Wie kam es, dass sein Projekt scheiterte? Antworten dazu liefert nunmehr Bergers Buch.
Aufbau
Ein Vorwort, ein Nachwort und 26 Kapitel bilden die Struktur des Werkes. Alle Kapitelüberschriften sind beschreibend, so dass dem Leser eine inhaltliche Zusammenfassung des ganzen Buches geboten wird. Ein Anhang informiert über polnische Parteien und jüdische Organisationen im Nachkriegspolen. Ein Quellenverzeichnis dokumentiert die verarbeitete Literatur aus Büchern, Zeitschriften, Internet und Radiosendungen. 459 Fußnoten mit Literaturverweisen bieten reichhaltige Möglichkeiten, sich an den zugrundeliegenden Quellen zu informieren.
Ausgewählte Inhalte
Die hier gebotene Darstellung gehorcht nicht der Kapitelfolge, sondern hebt inhaltliche Schwerpunkte hervor. Wie der Titel verrät, gab es nach der Schoah in Polen von 1945-1949 eine kurze Phase jüdischer Autonomie, die bis heute weithin unbekannt geblieben ist. Zentrum war die Kleinstadt Reichenbach/Dzierzoniow in Niederschlesien. Von Kriegszerstörungen fast gänzlich verschont, konnte sie daher vielen Verstreuten aus den umliegenden Konzentrationslagern und aus der Sowjetunion Zuflucht bieten.
Jakob Egit, Motor des Traums einer jiddischen Siedlung in Niederschlesien
In der Nachkriegsgeschichte der Juden in Polen steht als herausragende Figur Jakob Egit (1908-1996), der Gründer der Allgemeinen Jüdischen Arbeiterpartei (AJAB, 1931). Er hatte den Traum, eine jiddische Siedlung, einen Jischuv, im ehemals deutschen Gebiet zu errichten. Er sah darin eine gerechte Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht und unermessliche Verbrechen während der Naziherrschaft. So betrieb er ab 1945 in Reichenbach/Dzierzoniow ein Projekt der Umsiedlung von >50.000 Juden in die vormals deutsche Stadt. Damit wurde die Stadt nach dem Wegzug der Deutschen zu einem Zentrum der jüdischen Wiedergeburt. Von 1945 bis 1948 gab es auf dem Stadtgebiet eine polnische jüdische Kommune unter Egits Führung und sein Traum schien Wirklichkeit geworden zu sein (https://de.wikipedia.org/wiki/Jakub_Egit). Anfangs unterstützten die polnischen Kommunisten das Projekt, worauf sich Tausende von KZ-Überlebenden und Ukrainer in der Stadt ansiedelten – eine Alternative zur Emigration nach Israel. Mit großem Elan gründete er jüdische Schulen, Krankenhäuser und Waisenhäuser in Reichenbach, dazu noch ein Verlagshaus in Wrocław/Breslau.
Das jähe Ende des Traums
1948 folgte die Staatsgründung Israels durch Ben Gurion, der sich jedoch zum Westen hin orientierte und nicht, wie von Stalin erhofft, zur Sowjetunion. Daraufhin und infolge der einsetzenden stalinistischen Gleichschaltung zogen die polnischen Kommunisten ihre anfangs gegebene Unterstützung zurück. Egit wurde zur unerwünschten Person und obendrein zum Staatsfeind erklärt. Polen heuerten einen russischen Offizier an und beauftragten ihn, Egit zu töten. Dessen Frau Clara jedoch packte den Arm des Häschers und schlug auf ihn ein, so dass seine Waffe zu Boden fiel und er überwältigt werden konnte. 1949 verlor Egit sein Amt in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und – auf Druck der Staatssicherheit – auch im polnischen Zentralkomitee der Juden. Ihm wurde vorgeworfen, in Niederschlesien eine nationalistische jüdische Siedlung zu planen, so als lebe er in Israel und nicht in Polen. In dieser Situation ohne Amt und Einkommen erhalf ihm ein alter Freund und Verleger, Dawid Sfard, zur Leitung des Verlags Jiddish Buch.
Erfolgreich führte Egit dieses Unternehmen, bis er 1953 verhaftet wurde. Es folgten drei Monate in Einzelhaft mit wochenlangen Verhören. Man warf ihm vor, mithilfe amerikanisch-jüdischer Organisationen Niederschlesien von Polen abtrennen zu wollen, um es in einen jüdischnationalistischen Staat zu verwandeln. Außerdem sollte er eine jüdische Armee aufgebaut haben, um Israel zu helfen. Er wurde psychisch gefoltert (zum Beispiel durch Scheinerschießungen und durch die Lüge, seine Frau habe belastende Aussagen gemacht). Diese Torturen endeten nach Stalins Tod, als er, wie die meisten anderen „Staatsfeinde“, entlassen wurde. In der Haft hatte Egit den Entschluss gefasst auszuwandern, und zwar nach Kanada. Dort veröffentlichte er seine Autobiographie „Grand Illusion“. Darin beschreibt er seine anfangs erfolgreichen, dann aber gescheiterten Bemühungen um jüdisches Leben in Niederschlesien. Zwar hatte er sein ursprüngliches Ziel nicht erreicht, 50.000 Juden in Reichenbach anzusiedeln, aber immerhin lebten 1946 rund 18.000 jüdische Einwohner vorübergehend in der kleinen Stadt.
Was hätte werden können?
Reichenbach/Dzierzoniow war so gut wie nicht zerstört, selbst die Synagoge war erhalten eblieben. Egit arbeitete unermüdlich daran, in dieser Stadt ein Zentrum jüdischen Lebens zu schaffen. 1946 lebten rund 18.000 jüdische Einwohner in der Stadt, die vor der Zeit des Nationalsozialismus gerade mal eine Gemeinde von 70 Mitgliedern hatte.
Außer den befreiten KZ-Häftlingen waren Tausende Juden aus der Ukraine, Weißrussland, Litauen und aus Zentralpolen dazugekommen. Eine Selbstverwaltung wurde aufgebaut, jüdische Schulen entstanden, ebenso Krankenhäuser und Waisenhäuser. Landwirtschaftliche Kibbuzim wurden gegründet, außerdem jüdische Schulen, Handwerksgenossenschaften, Theater, Zeitungen und ein Buchverlag. Die Synagoge diente erneut als Gebetshaus, die traditionelle Textilindustrie blühte wieder auf, als neue Branche etablierte sich die Elektronik. Straßen wurden erneuert, Häuser gebaut, Parks angelegt. Drei Jahre existierte eine autonome jüdische Siedlung mit Vorbildcharakter.
Kaum zu glauben, aber wahr: es gibt dazu einen Film, mit dem Titel „The Jewish Settlement InLower Silesia, 1947 – yiddish film“; zu finden unter www.youtube.com
Woran scheiterte das Projekt?
Nachdem die kommunistisch orientierten Behörden das Projekt anfangs unterstützt hatten, änderte sich deren Haltung, als sie begriffen, dass die weitgehende jüdische Autonomie von Reichenbach/Dzierzoniow ihr eigenes Streben nach totaler Macht konterkarierte und ihre staatliche Autorität untergrub. Sie entzogen Eg it ihren Beistand, zumal Stalin seine Unterstützung des jüdischen Staates aufgab. Entsetzen breitete sich aus, als im Sommer 1946 eine antisemitische Welle über Zentral- und Ostpolen rollte. Den Höhepunkt erreichte sie am 4. Juli mit einem Pogrom in Kielce, bei dem vierzig polnische Juden ermordet wurden. Bei den Überlebenden des Holocaust brach Panik aus. Innerhalb von drei Monaten flüchteten etwa 60.000 Juden aus Polen; insgesamt flohen zwischen 1946 und 1947 rund 170.000.
Was außerdem thematisiert wird
Berger stellt das Aufblühen und Scheitern des Jischuv in den historischen Zusammenhang des polnischen Antisemitismus, manifestiert in den Pogromen von 1941 in Lemberg/Lwów und 1946 in Kielce. Er weist außerdem auf polnische Helfer beim Holocaust hin, so auf die Tatsache, dass nach dem deutschen Einmarsch in der Westukraine in bis zu 140 Orten Pogrome stattfanden, und zwar nicht auf Anordnung der deutschen Besatzer, sondern mit deren Duldung, verübt von Polen und Ukrainern. Hass, Verachtung und Hohn gegenüber Juden sei auch in Polen weit verbreitet gewesen. Ein Großteil der Polen habe die Vernichtung ihrer jüdischen Nachbarn mit Genugtuung zur Kenntnis genommen.
Diskussion
Nur mit Wehmut kann man das Buch lesen, wird doch deutlich, was nach dem Krieg in Polen möglich gewesen wäre: Eine nicht zerstörte, von den Deutschen verlassene Stadt (Reichenbach), ein tatkräftiger Visionär (Jakob Egit) und jüdische Heimkehrer boten einzigartige Voraussetzungen, außerhalb Palästinas. Sie kamen aus Konzentrationslagern (Groß-Rosen), aus der Ukraine, aus Weißrussland, aus Litauen sowie aus Zentralpolen. Sie alle zogen ein Leben in Polen der Auswanderung nach Palästina vor und begeisterten sich für das Projekt eines Jiddischen Jischuv.
Berger schreibt die weithin unbekannte Geschichte einer für drei Jahre autonomen jüdischen Gemeinde in Niederschlesien und setzt damit zugleich ein Denkmal für den bis heute kaum bekannten Initiator Jakob Egit. Der Autor zeigt, wie das Scheitern von außen verursacht wurde: durch pogromartige antisemitische Ausschreitungen, die darauf folgende panikartige Flucht von Juden aus Polen, durch die kommunistische Gleichschaltung der Gesellschaft, durch den antisemitisch aufgeladenen polnischen Nationalismus und nicht zuletzt durch die von der stalinistischen Politik ausgelöste antisemitische Welle überall im Ostblock.
Bis auf wenige Ausnahmen scheint das hoffnungsvolle Projekt vergessen zu sein, aber Berger setzt ihm durch sein Buch ein würdiges Denkmal. Durch seine akribische Quellendokumentation liefert er den Lesern eine ausgezeichnete Grundlage für eigene Forschungen. Nicht zuletzt durch den Hinweis auf den Film bei YouTube wird darüber hinaus anschaulich erlebbar, wovon im Buch die Rede ist.
Fazit
Berger setzt mit seinem Buch jenen Pionieren ein Denkmal, die für jiddisches Leben nach dem Holocaust außerhalb Palästinas kämpften und litten. Dass ein solcher Plan für wenige Jahre real wurde und trotzdem scheiterte, wird nicht nur Zeithistoriker interessieren, sonder auch all diejenigen, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Niederschlesien siedelten. Außerdem ist Bergers Buch all denen zur Lektüre zu empfehlen, die sich mit der Ambivalenz menschlicher Einstellungen/Interessen befassen (müssen), sei es in Schulen oder Hochschulen, bei der Flüchtlingsarbeit oder ähnlichen Tätigkeiten/Projekten.
Rezension von
Prof. Dr. Gisbert Roloff
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