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Anna Goppel, Corinna Mieth u.a. (Hrsg.): Handbuch Gerechtigkeit

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 09.08.2017

Cover Anna Goppel, Corinna Mieth u.a. (Hrsg.): Handbuch Gerechtigkeit ISBN 978-3-476-02463-3

Anna Goppel, Corinna Mieth, Christian Neuhäuser (Hrsg.): Handbuch Gerechtigkeit. J.B. Metzler Verlag (Stuttgart) 2016. 450 Seiten. ISBN 978-3-476-02463-3. D: 69,95 EUR, A: 72,00 EUR, CH: 94,00 sFr.

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Thema

Gerechtigkeit – ein Grundwert moderner Gesellschaften, ein Grundwert mit vielen Facetten. Erstmals liegt nun auf Deutsch ein Handbuch vor, das aus philosophischer Perspektive etwas Ordnung in die kaum mehr überblickbare Vielfalt der Aspekte und Debatten bringt.

Herausgeberinnen und Herausgeber

  • Anna Goppel ist Assistenzprofessorin für Praktische Philosophie an der Universität Bern.
  • Corinna Mieth ist Professorin für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum.
  • Christian Neuhäuser ist Professor für Praktische Philosophie an der TU Dortmund.

Aufbau und Einleitung

Das Handbuch ist in fünf Teile gegliedert:

  1. Begriff der Gerechtigkeit
  2. Gerechtigkeitstypen und Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs
  3. Gerechtigkeitskonzeptionen
  4. Gerechtigkeit im Kontext
  5. Anwendungsfragen

Am Schluss folgt ein Anhang mit einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie einem Personenregister. Ein Sachregister fehlt.

In ihrer Einleitung stellen die beiden Herausgeberinnen und der Herausgeber fest, dass sich in den vielfältigen Debatten über Gerechtigkeit keine Einigkeit finden lässt, und sie erklären sich dies so: „Für diese Uneinigkeit lassen sich mindestens zwei Gründe anführen. Vor allem alltagssprachliche Vorstellungen von Gerechtigkeit basieren häufig auf ganz unterschiedlichen historischen und religiösen Wurzeln. Und im gegenwärtigen philosophischen Diskurs existieren (…) darüber hinaus sehr verschiedene Ausarbeitungen der Gerechtigkeitsidee, die die Vielfalt vor allem gegenwärtiger westlicher Gerechtigkeitsvorstellungen in unseren Gesellschaften widerspiegeln“ (S. 3).

Zu 1.

Diese Mehrdeutigkeit macht sich schon im ersten Kapitel bemerkbar, wie der historische Vergleich einerseits und der Vergleich zwischen den Religionen andererseits zeigt. Was Letztere betrifft, werden Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und Konfuzianismus abgehandelt. Nicht aber der Hinduismus, der angesichts des Kastenwesens von besonderem Interesse wäre. Der Rückblick auf die Antike macht deutlich, dass der gerechte, gute Staat viel enger als in unseren Zeiten mit dem gerechten, guten Menschen verknüpft war. Gerechtigkeit wurde zudem weniger institutionell, sondern vor allem personal aufgefasst. Ein Unterkapitel über Ungerechtigkeit rundet das erste Kapitel ebenso ab wie schliesslich eines zur Kritik am Gerechtigkeitsbegriff (S. 60 ff.).

„So konzentriert sich eine Kritik auf die rationalitätstheoretische Annahme, Gerechtigkeit lohne sich nicht; ein anderer Typ der Kritik wirft den gängigen Theoriemodellen vor, Gerechtigkeitsfragen zu sehr an normativen Prinzipien zu orientieren und damit unabhängig von den konkreten sozioökonomischen Umständen zu thematisieren, auf die diese Prinzipien angewendet werden sollen. Weniger radikale Modelle der Kritik akzeptieren Gerechtigkeit als zentrale, individuelle und soziale Tugend, zweifeln aber am Sinn der Orientierung an Fragen der Distribution oder verweisen auf Konflikte zwischen dem Wert der Gerechtigkeit und anderen Werten wie Liebe, Freiheit, Anstand oder Fürsorge, die, so die Annahme, durch eine einseitige Ausrichtung an Gerechtigkeit in ihrem Eigenwert aus dem Blick geraten. In dieser Perspektive gibt es erstrebenswerte Formen des sozialen Zusammenlebens jenseits der Gerechtigkeit, so dass der Wert der Gerechtigkeit relativiert wird“ (S. 60). Solche Kritikpunkte lassen sich indes weniger historisch, als systematisch erschliessen. Thrasymachos in Platons „Der Staat“ verkörpert eine erste Position: „Der glücklich Ungerechte zehrt parasitär von der Gerechtigkeit anderer, auf die er angewiesen ist, um selbst ungerecht zu sein“ (S. 60). Hier stellt sich die Frage nach den eudämonistischen Folgen der (Nicht-)Einhaltung geltender Gerechtigkeitsprinzipien. Ähnlich dann Glaukon im zweiten Buch, wenn er mutmasst, Menschen zögen es ursprünglich vor, ungerecht ihre Interessen zu verfolgen, sofern keine Strafe droht, und nur die Schwachen, jene, die unter dem Unrechttun litten, strebten nach Gesetzen und Verträgen. Gerechtigkeit fesselt die Starken, bedeutet dies. Platon weist dann aber auf, wie Gerechtigkeit mit Glückseligkeit vereinbar ist. Sie appelliere nicht an den begehrlichen, sondern den vernünftigen Teil der Seele, an dem es liege, innerhalb so zu herrschen wie Philosophenkönige ausserhalb. Der Gedanke der von Schwachen ausgeheckten Moral wirkt in Nietzsches „Genealogie der Moral“ nach. Er warnt allerdings davor, Gerechtigkeit vom Ressentiment der Schwachen herzuleiten. Gerechtigkeit einzuschätzen, verlange nach einem „freien Auge“. Mehr traut er denn den „Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven“ zu. Auch in Aristoteles´ „Nikomachischer Ethik“ wird Thrasymachos´ und Glaukons egozentrische Position überwunden. Gerechtigkeit meint hier zunächst, die Gesetze zu achten, welchen die Aufgabe zukommt, das Glück für das Gemeinwesen hervorzubringen. Auch erntet der ungerechte Mensch mit Blick auf die Güterverteilung Tadel, was dessen Glück trübt. Aristoteles formuliert nicht wirklich eine Kritik an der Gerechtigkeit, aber er sieht wie schon Platon Grenzen dessen, was er Gesetzesgerechtigkeit nennt: Gesetze vermöchten infolge ihres allgemeinen Charakters nie allen Einzelfällen gerecht zu werden.

In Thrasymachos´ Sicht kollidiert Gerechtigkeit mit Glück. Ein anderer Wert mit solchem Konfliktpotenzial ist Liebe. Sie folgt, so Paul Riceur in „Liebe und Gerechtigkeit“ von 1990, einer „Logik der Überfülle“, Gerechtigkeit dahingegen einer „Logik der Entsprechung“. Letztere verbindet sich, etwa in der ethischen Goldenen Regel, mit Gegenseitigkeit, während Erstere eher dem Gebot der Gabe ähnlich ist. Zum reziproken Eigennutz gesellt sich so Uneigennützigkeit. Gerechtigkeit enthält so, richtig verstanden, Elemente von Liebe. Einer anderen Kritik ist die Anbindung an Recht zu eng. In „Poetic Justice“ von 1995 legt Martha Nussbaum literarische Imagination nahe, um für die juristische Perspektive mehr Rücksicht gegenüber persönlichen Situationen zu gewinnen. Jacques Derrida will Platz für Gerechtigkeit jenseits von Recht und Gesetz schaffen. Auch hier die Einschätzung, Recht verletze das Besondere des Einzelfalls, während wahre Gerechtigkeit sich gerade darum bemühe – als nicht abschliessbare Bewegung ist sie „unendliche Gerechtigkeit“. Solche Gerechtigkeit verweist auf Grenzen des Rechts. Neben Glück und Liebe wird auch Freiheit als Gegenspielerin von Gerechtigkeit genannt, dies besonders in Varianten des Liberalismus. Friedrich A. Hayek zum Beispiel hält ein Recht für nötig, das die Freiheiten aller sichert, jedoch mitnichten soziale Gerechtigkeit, die nach Umverteilungen verlangt. Ungleichheiten infolge des freien Markts könnten nicht ungerecht sein, da niemand sie beabsichtige.

All dies verlässt den Boden der Gerechtigkeit jedoch nicht entschieden. Es finden sich im philosophischen Diskurs indessen auch Positionen, die sich gesellschaftliche Verhältnisse vorstellen, in denen Gerechtigkeit gar nicht nötig wäre, oder die andere Tugenden als überlegen erachten. David Hume etwa vermutete Mitte des 18. Jahrhunderts in „Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral“, die Tugend der Gerechtigkeit sei lediglich unter Verhältnissen nötig, in denen menschliches Wohlwollen sowie die Verfügung über Güter begrenzt seien. Sie ist für ihn eine „vorsichtige“, „argwöhnische“ Tugend. „Wo Güter in Überfülle vorhanden sind oder wo die Menschen voller Wohlwollen gegenüber allen anderen sind, da ist Gerechtigkeit fehl am Platz“ (S. 63). Ganz im Gegenteil findet Gerechtigkeit auch keinen Platz, wo Habgier und Bosheit aufgrund existenzieller Not dominieren. Gerechtigkeit wird denn, so Hume, gleichsam in der Mitte möglich, unter Bedingungen also von Güterknappheit und begrenztem Wohlwollen, und dieser Mitte entspricht auch die für Menschen übliche Situation. Die feministische Fürsorgeethik hält die Orientierung an Gerechtigkeit für einseitig. Hier anerbieten sich die Optionen, Fürsorge und Gerechtigkeit einander unversöhnlich gegenüberzustellen, die eine in die andere zu integrieren oder eine Moral zu entwerfen, die beiden Tugenden umfasst. Avishai Margalit findet in „Politik der Würde“ von 1997, heutigen Gesellschaften mangle es nicht primär an Gerechtigkeit, sondern an Anständigkeit (engl. decency). In anderer Form wird Kritik an Gerechtigkeit laut, wenn zum Beispiel die Verengung auf das Verteilungsparadigma bemängelt wird. So etwa, wenn Iris Marion Young einwirft, viele Güter hätten keinen materiellen Charakter, oder Axel Honneth ähnlich auf Anerkennung hinweist. Vielleicht stammt die radikalste Kritik von Marx, der selber weder Gerechtigkeitstheoretiker noch -kritiker war. Dies deshalb, da das Gerechtigkeitsdenken selber den materiellen Lebensverhältnissen entstammt. Gerechtigkeitskonzeptionen widerspiegeln in dieser Sichtweise den Stand der Produktionsverhältnisse. Ob es nun Liebe, Wohlwollen, Fürsorge oder Anstand sei, mit der bzw. dem Gerechtigkeit konfrontiert wird, es empfiehlt sich nicht, Differenzen zu diesen alternativen Werten oder Tugenden vorschnell einzuebnen.

Zu 2.

Das Handbuch widmet sich nicht ausschliesslich normativen Konzeptionen. So setzt das zweite Kapitel mit empirischer Gerechtigkeitsforschung ein (S. 68 ff.). Diese beschreibt und erklärt tatsächlich vorhandene Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Diesen Vorstellungen liegen weniger rationale Argumente als viel mehr persönliche Dispositionen, soziale Herkunft, wirtschaftliche und politische Interessen sowie kulturelle Zugehörigkeit zugrunde. Dieser Forschungszweig untersucht auch, welche Bedeutung diesen Vorstellungen im Alltagsleben zukommt und wie wahrgenommene (Un-)Gerechtigkeiten das Handeln prägen. In methodischer Hinsicht werden ganz unterschiedliche Methoden verwendet wie Befragung, Beobachtung, Inhaltsanalyse, Laborexperimente, ökonometrische Verfahren usw. Aus der deutschen soziologischen Forschung über Gerechtigkeit ragt das Buch „Bedingte Gerechtigkeit“ von Volker H. Schmidt aus dem Jahre 2000 heraus, das an Jon Elsters Schrift „Local Justice“ anschliesst. Schmidt untersucht organisationale Entscheidungen und institutionalisierte Verteilprozesse. Einen anderen Weg schlagen Bernd Wegener und Stefan Liebig ein. Mit Liebig verbinden sich Buchtitel wie „Soziale Gerechtigkeitsforschung und Gerechtigkeit in Unternehmen“ (1997), „Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung“ (2002) oder „Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften“ (2004). Die Forschung der beiden Autoren ist mit dem International Social Justice Project verbunden, das zwischen 1991 und 2006 viermal Vergleiche von dreizehn Ländern anstellte. Erforscht wurden hier mit standardisierten Fragebögen Gerechtigkeitseinstellungen. Ein Ergebnis ist zum Beispiel, dass gesellschaftlich besser Gestellte eher das Kriterium der Leistungsgerechtigkeit befürworten. Liebig hebt im ISGF-Arbeitsbericht Nr. 41 mit dem Titel „Empirische Gerechtigkeitsforschung“ (2004, S. 5 f.) drei empirische Befunde hervor: Erstens beziehen sich Gerechtigkeitsurteile auf Verteilungs- und auf Verfahrensgerechtigkeit, das heisst sowohl auf die Ergebnisse als auch die Regeln einer Güterverteilung. Zweitens variieren ergebnisbezogene Gerechtigkeitsvorstellungen abhängig von der sozialen Position, es finden sich demnach sozialstrukturelle Gemeinsamkeiten, dies entgegen der verbreiteten philosophischen Universalitätsannahme. Und drittens finden sich vier Gerechtigkeitsideologien, die über die Länder unterschiedlich verteilt sind und Verteilungen einschätzen lassen: individualistische (z.B. USA), egalitaristische (z.B. Schweden, Dänemark), askriptivistische (erwünschte Ungleichverteilung aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten) und fatalistische (Ungleichverteilung transzendental bedingt).

Von dieser empirisch-soziologischen Gerechtigkeitsforschung unterscheidet sich die wohlfahrtsstaatliche Akzeptanzforschung aus der Politikwissenschaft. Das Interesse gilt hier der bürgerlichen Zustimmung zu Wohlfahrtsstaaten. Dieser Ansatz wurde ursprünglich von Edeltraut Roller geprägt und wird heute besonders von Carsten G. Ulrich vertreten, beispielsweise in „Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates“ von 2008. Einstellungen wie subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen beeinflussen diese Akzeptanz, so der grundlegende Gedanke. Erfragt werden inhaltlich konkrete Einstellungen, zum Beispiel zu Massnahmen und Angeboten. Vier Befunde ragen heraus: Erstens wird sozialpolitischen Zielen und Sicherungssystemen in hohem Mass zugestimmt. Zweitens fällt diese Zustimmung in Europa höher aus als in den USA. Drittens wird einzelnen Aspekten unterschiedlich zugestimmt; beispielsweise ist die Alterssicherung weitgehend unbestritten, während Regelungen für Arbeitslose und Arme mehr Widerstand erfahren. Und viertens unterstützt die Systeme eher, wer selber Leistungen empfängt; darüber hinaus ist der Einfluss von Einkommen, Alter und Geschlecht nicht eindeutig. Aus der Umfrageforschung ist zudem mit Blick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts „eine deutliche Zunahme der Gerechtigkeits- und Gleichheitspräferenzen im Zeitablauf“ (S. 71) im Vergleich zum Wert der Freiheit bekannt.

Wie die Soziologie und die Politikwissenschaft leuchtet auch die Sozialpsychologie das Gerechtigkeitsthema aus. „Distributive Justice“ von Morton Deutsch aus dem Jahre 1985 ist dabei eine wichtige Veröffentlichung. Er stellt fest, dass die Diskussion bis dahin im Anschluss an Aristoteles zu sehr auf proportionale Gleichheit (engl. equity) abstellt, das heisst auf Verhältnisse von Output (z.B. Lohn) und Input (z.B. Menge oder Qualität des Arbeitsaufwands). Er ergänzt diese Perspektive deshalb um absolute Gleichheit (engl. equality) und Bedürftigkeit (engl. need). Deutsch erkennt nebenbei, dass, entgegen intuitiver Vermutung, grössere Aufwandsentschädigung Leistungen nicht (immer) fördert – extrinsische Motivation nämlich kann intrinsische Motivation zerstören. Und die anderen werden zur Konkurrenz, was die Kooperation behindert. Wo aber von vornherein wenig intrinsische Motivation erwartet werden kann, können monetäre Anreize demgegenüber leistungssteigernd wirken. Die Sozialpsychologie interessiert sich auch nicht nur für die sich ergebende Verteilung, sondern auch für deren Zustandekommen und damit für die Möglichkeiten von Individuen, darauf einzuwirken. Wichtig ist, Informationen einbringen und Entscheidungen mitbestimmen zu können. Dies erhöht die empfundene Legitimität eines Ergebnisses. Mit „Interaktionsgerechtigkeit“ oder „informeller Gerechtigkeit“ wird überdies bezeichnet, ob Beteiligte sich ernst genommen und berücksichtigt fühlen. Auch dies erhöht die empfundene Legitimität. An einem guten Verfahren sind alle relevanten Stakeholders beteiligt, und dabei ist eben über die formale Seite hinaus auch die informelle bedeutsam. Verfahrens- und Interaktionsgerechtigkeit überlappen sich, sind aber nicht deckungsgleich: „Prozedurale Gerechtigkeit verlangt ein Mindestmaß an formal definierten Handlungen unabhängig von Personen, interaktionale Gerechtigkeit stellt das Individuum als solches in den Vordergrund und betont die Notwendigkeit eines menschlichen Umgangs miteinander“ (S. 73).

Empirische Aspekte bleiben aber im Handbuch ansonsten marginal. Es beleuchtet im zweiten Kapitel überdies zentrale und bekannte Vorstellungen wie Verteilungsgerechtigkeit, Tauschgerechtigkeit, Strafgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit, Ergebnisgerechtigkeit sowie personale Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, ferner bevölkerungsgruppen-orientiert feministische Gerechtigkeit und Generationengerechtigkeit, zeitlich orientiert historische Gerechtigkeit oder räumlich orientiert internationale, transnationale und globale Gerechtigkeit. Zudem werden Rawls´ Differenzprinzip, Chancengleichheit, Fairness und Gleichheit je in einem eigenen Unterkapitel erörtert.

„Personale Gerechtigkeit wird Individuen im Gegensatz zu Institutionen, Normen usw. zugesprochen. Sie kann a) als eine regelrechte Tugend oder b) als eine einfache Einstellung angesehen werden. Im Fall a) handelt es sich (…) um den ständigen und bewussten Willen, im Einklang mit schon gegebenen Gerechtigkeitskriterien zu handeln. (…) Im Fall b) handelt es sich um die Tendenz, gerechte Handlungen durchzuführen oder (besonders im Fall von Richtern jeder Art) gerechte Urteile zu fällen“ (S. 154). Im ersten Fall geht es um gerechte Individuen und im zweiten um gerechte Normen und Urteile. Beides ist indes gekennzeichnet durch gerechte Handlungen, sie sind entscheidend. Personale Gerechtigkeit wird seit der Antike diskutiert. Sie zählt zu den Kardinaltugenden. In modernen Gerechtigkeitskonzeptionen scheint sie vernachlässigt. „Genügt die punktuelle Durchführung von gerechten Handlungen, damit jemand als gerechter Mensch gelten kann? Oder muss es dafür eine Übereinstimmung von inneren Motiven und äußeren Gründen geben? Worin besteht Gerechtigkeit als Tugend? In der Verinnerlichung äußerer Gerechtigkeitsgründe, so dass deren Übernahme als Orientierung beim Handeln zu einer Art zweiten Natur wird? Im dauerhaften und bewussten Willen, gerechte Handlungen durchzuführen bzw. gerechte Institutionen zu fördern und zu stützen? Oder einfach in der zum Habitus gewordenen Wiederholung von Handlungen, die als gerecht gelten? Eine endgültige Antwort auf diese Fragen hängt von der Bedeutung ab, die man dem Wort ‚Tugend‘ gibt – d.h. davon, ob man sie als zweite Natur, als dauerhaften und bewussten Willen oder als einfachen Habitus begreift“ (S. 157). Der Erhalt gerechter Institutionen jedenfalls scheint auf solche Tugend angewiesen zu sein.

Peter Koller verantwortet das Unterkapitel zu sozialer Gerechtigkeit (S. 118 ff.). Er geht davon aus, dass der Begriff „die ganze Grundordnung staatlich organisierter Gesellschaften zum Gegenstand hat und alle darauf Anwendung findenden Gerechtigkeitserfordernisse umfasst“ (S. 118), während das Alltagsverständnis auf die gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie Steuerlasten fokussiert. Die Frage sozialer Gerechtigkeit beginnt sich im Zusammenhang der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert zu stellen und verbreitet sich nach 1900 dank zweier grundlegender Entwicklungen: der Ausbreitung der kapitalistischen Marktwirtschaft einerseits und des modernen Staates andererseits. Koller definiert soziale Gerechtigkeit zunächst formal als „die Gesamtheit der Gerechtigkeitserfordernisse, die für die institutionelle Grundordnung einer Gesellschaft gelten“ (S. 118). Damit verbinden sich die Fragen, welche Erfordernisse es gibt und inwiefern diese beachtet werden. „Die Erfordernisse der Gerechtigkeit sind moralische Standards, die dazu dienen, soziale Beziehungen und Ordnungen im Hinblick auf ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit für alle betroffenen Personen aus unparteiischer Sicht zu bewerten und entsprechende Richtlinien für ihre Gestaltung bereitzustellen“ (S. 118 f.). Sie zielen auf bestimmte Handlungsbereiche und daran Beteiligte. Koller nimmt vier grundlegende Arten an:

„1. distributive Gerechtigkeit betreffend die Verteilung gemeinschaftlicher Güter und Lasten zwischen Personen, denen diese Güter oder Lasten gemeinsam zukommen;

2. Tauschgerechtigkeit für freiwillige Tauschbeziehungen und vertragliche Transaktionen zwischen einzelnen Personen;

3. politische Gerechtigkeit in Hinsicht auf die Ausübung autoritativer Herrschaft von Menschen über andere mittels zwangsbewehrter Normen, und

4. korrektive Gerechtigkeit bezüglich der Berichtigung begangenen Unrechts durch Wiedergutmachung oder Strafe“ (S. 119).

Ins Zentrum rückt Koller dabei die Verteilungsgerechtigkeit, die sich sowohl auf „ein Anrecht auf bestimmte Güter“ als auch auf „eine Obliegenheit zur Übernahme gewisser Lasten“ (S. 119) bezieht. Gerecht zu verteilen sind also Güter wie Lasten. In unterschiedlichen Bereichen variieren nicht nur die relevanten Güter und Lasten, sondern auch die Verteilungsmassstäbe. Die Moral gleicher Achtung verlangt zunächst, alles gleich zu verteilen, es sei denn, gute Gründe sprechen dagegen. Das bedeutet, dass die Ungleichverteilung im vernünftigen Interesse aller zu liegen hat. Zu berücksichtigen sind insbesondere ungleiche Leistungen, Handlungsergebnisse und Befähigungen. So „ist eine gesellschaftliche Ordnung jeder der diversen Arten der Gerechtigkeit unterworfen, insoweit sie deren Anwendungsbedingungen erfüllt: der distributiven Gerechtigkeit, insoweit sie die Verteilung sozialer Güter und Lasten regelt, die allen Mitgliedern gemeinsam zukommen; der Tauschgerechtigkeit, insoweit sie die Allokation privater Güter und Leistungen im Wege vertraglicher Transaktionen reguliert; der politischen Gerechtigkeit, insoweit sie zur Sicherung eines friedlichen und gedeihlichen sozialen Lebens Herrschaft braucht; und der korrektiven Gerechtigkeit, insoweit sie die Berichtigung begangenen Unrechts durch Wiedergutmachung oder Strafe regelt. Dass dies jedenfalls für die Tausch-, die politische und die korrektive Gerechtigkeit gilt, ist unbestritten. Kontrovers ist dagegen, ob und inwieweit eine gesellschaftliche Ordnung auch Forderungen der distributiven Gerechtigkeit unterliegt“ (S. 119). Letztere, sie bezieht sich auf die „Ausgangsverteilung privater Rechte und Besitztümer“ (S. 120), ist dabei prioritär, sie ist „der Kern der sozialen Gerechtigkeit“, da sie die Rahmenbedingung der anderen darstellt. Koller räumt allerdings ein, dass die Verteilung selber auch durch vorangegangene Tauschakte zustande kommt.

Koller hält drei Komponenten von Gerechtigkeitskonzeptionen für zentral: die Gesellschaftsauffassung, die Arten zu verteilender Güter und die Rechtfertigungsgründe für Ungleichheiten. Jeder Gerechtigkeitskonzeption liegt, zum Ersten, eine spezifische Auffassung von Gesellschaft zugrunde liegt. Das Spektrum reicht von individualistisch-libertären zu kollektivistisch-kommunitären Positionen. In den heutigen westlichen Nationen dominiert eine Vorstellung, die zwischen diesen Polen liegt: „Dieser Auffassung zufolge ist eine Gesellschaft weder ein Marktplatz, auf dem lauter unabhängige Individuen zufällig zusammentreffen, noch eine Kommune, deren Mitglieder alles teilen, sondern ein politisches Gemeinwesen, das zwar jedem Mitglied entsprechende Grundfreiheiten für eine selbstbestimmte Lebensführung garantiert, aber auch eine Reihe von Gemeinschaftsbelangen inkludiert, deren Güter und Lasten allen Mitgliedern zukommen“ (S. 120). Schon in einem Aufsatz von 1994 über „Gesellschaftsauffassung und soziale Gerechtigkeit“ (dort S. 132-138) nennt Koller dazu drei Aspekte. Gesellschaft ist demnach erstens eine Besitzgemeinschaft – ihre Mitglieder teilen natürliche Ressourcen und das kulturelle Erbe; zweitens eine Kooperationsgemeinschaft – ihre Mitglieder unterwerfen sich Normen, um friedlich und zweckmässig miteinander leben zu können; und eine Solidaritätsgemeinschaft – ihre Mitglieder unterstützen einander, wenn sich jemand in einer Notlage nicht selber zu helfen weiss. Koller macht im Weiteren eine doppelte Reduktion: Gütern und Lasten entsprächen im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung Rechte und Pflichten; und Rechten von Personen entsprächen Pflichten anderer Personen. Diese Reduktionen lassen ihn nur mehr auf Rechte fokussieren.

Fragt sich zum Zweiten, welche Güter dabei in Betracht kommen sollen. Koller räumt ein, dazu gebe es viele Vorschläge in der Fachliteratur. Selber kombiniert er Elemente der Konzeptionen von John Rawls, Amartya Sen und Ronald Dworkin. Das sind

„1. die allgemeinen Rechte, die den einzelnen Mitgliedern unabhängig von deren besonderen Lebensumständen und Aktivitäten allein aufgrund ihrer Gesellschaftszugehörigkeit zukommen;

2. die individuellen Freiheiten, wozu neben den bekannten Grundfreiheiten auch ein grundsätzliches Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit gehört;

3. die politischen Teilhabemöglichkeiten, nämlich die Rechte der Mitglieder auf Teilnahme an der politischen Meinungs- und Willensbildung über kollektive Entscheidungen;

4. die sozialen Stellungen, d.h. die öffentlichen Funktionen und beruflichen Positionen, die mit mehr oder weniger Verantwortung, Einkommen, Vermögen, Macht, Einfluss und Ansehen einhergehen; und

5. die ökonomischen Ressourcen, wozu vor allem die wesentlichen Bedingungen des wirtschaftlichen Wohlergehens der Mitglieder gehören, wie ihre sozialisations- und ausbildungsabhängigen Fähigkeiten, ihre Grundausstattung mit materiellen Mitteln, ihre Zugangsmöglichkeiten zur Arbeitswelt und zum Einkommenserwerb, ihre Anrechte auf Leistungen des sozialen Sicherungssystems und ihre Gelegenheiten zur Nutzung öffentlicher Güter“ (S. 122).

Zum Dritten schliesslich erachtet Koller drei Argumente, die für gewisse Ungleichheiten sprechen, als wenig umstritten. Er bezieht sich dabei auf „Sovereign Virtue“ von Ronald Dworkin (2000) und „Principles of Social Justice“ von David Miller (1999): „Das Leistungsargument besagt, dass gewisse Ungleichheiten zulässig, ja geboten sind, um den ungleichen Leistungen oder Beiträgen der Gesellschaftsmitglieder zur sozialen Kooperation zu entsprechen, sofern deren Erträge bei unparteiischer Erwägung allen zum Vorteil gereichen (Miller 1999, 131-155). Mit dem Freiheitsargument werden auch solche Ungleichheiten legitimiert, die sich unvermeidlich aus dem selbständigen Handeln der Einzelnen im Rahmen der ihnen durch die soziale Ordnung eingeräumten Rechte und Freiheiten ergeben, sofern diese Ordnung bei unparteiischer Erwägung im Interesse aller liegt (Dworkin 2000, 120-134). Und das Bedürfnisargument wird angeführt, um ungleiche soziale Leistungen für Personen, die Unterstützung brauchen, mit Berufung auf deren ungleiche Bedürfnislagen zu rechtfertigen (Miller 1999, 203-229)“ (S. 122). Mit diesen Argumenten lässt sich nun die Güterverteilung prüfen. Kollers Befund ist gemischt: „Was die allgemeinen Rechte, die individuellen Freiheiten und die politischen Teilhaberechte betrifft, gibt es offensichtlich keine annehmbaren Gründe für ihre Ungleichverteilung. Anders liegt der Fall bei den sozialen Stellungen und den ökonomischen Ressourcen“ (S. 122).

Koller sieht denn auch rechtliche Gleichheit, bürgerliche Freiheit und demokratische Teilhabe in den Verfassungen moderner Rechtsstaaten verankert, während soziale Chancengleichheit und ökonomische Ausgewogenheit nur politisch-philosophisch weitgehend anerkannt sind. Formelle Chancengleichheit meint dabei faire Auswahlverfahren bei der Besetzung von Positionen, materielle Chancengleichheit dagegen eine gewisse Gleichheit der Ausgangspositionen. Und wirtschaftliche Ausgewogenheit bezieht sich auf das, was Rawls mit seinem Differenzprinzip gerecht zu regeln sucht. Demnach soll aus Ungleichheiten eine bessere Besserstellung insbesondere der am schlechtesten Gestellten erfolgen als ohne solche Ungleichheiten.

Zu 3.

Im Detail gibt es zu all dem sehr unterschiedliche Ansichten und Begründungsstrategien. Das Handbuch dokumentiert denn im dritten Kapitel elf Richtungen des Denkens über Gerechtigkeit, sogenannte Gerechtigkeitskonzeptionen. Mit der Lektüre dieses Kapitels lässt sich der grösste Teil des Terrains erschliessen, auf dem sich die heutigen Debatten über Gerechtigkeit abspielen. Zur Darstellung gelangen folgende elf Konzeptionen:

  1. Gerechtigkeit als Tugend
  2. Kontraktualistische Gerechtigkeit
  3. Liberale Gerechtigkeit
  4. Libertäre Gerechtigkeit
  5. Sozialistische Gerechtigkeit
  6. Utilitaristische Gerechtigkeit
  7. Kosmopolitische Gerechtigkeit
  8. Kommunitaristische Gerechtigkeit
  9. Gerechtigkeit in der Diskursethik
  10. Gerechtigkeit in der Kritischen Theorie
  11. Glücksegalitarismus

Der alles dominierende Ansatz in diesen Unterkapiteln ist natürlich John Rawls´ Schrift „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, zu dem sich nicht in Beziehung zu setzen sich kaum ein anderer Ansatz erlauben kann. Überblickt man diese Landschaft der Gerechtigkeitskonzeptionen, findet man weder zum Gegenstand noch zu den Beurteilungskriterien auch nur annähernd Übereinstimmung.

Zu 4.

Das vierte Kapitelist mit „Gerechtigkeit im Kontext“ überschrieben. Themen sind hier Menschenwürde, Moral, gutes Leben, Grundgüter und Fähigkeiten, moralische Rechte, Menschenrechte und Grundrechte, Verantwortung und Pflicht, positives Recht und Völkerrecht, Staat, Mensch – Bürger – moralische Person, Politik und Demokratie, Gesellschaft und Kultur, Anerkennung und Toleranz sowie Macht.

Der Autor von „Instrumentalisierung und Würde“ (2010), Peter Schaber, eröffnet das Kapitel mit dem Thema der Menschenwürde. Die Würde des Menschen sei unantastbar, heisst es im ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes. Nach Artikel 7 der Schweizer Bundesverfassung sei die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz erwähnt Würde hingegen nicht. In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bildet die Anerkennung der angeborenen Würde der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. „Alle Autorinnen, die der Würde einen eigenen Stellenwert zuschreiben, kommen darin überein, dass Gerechtigkeit den Schutz der Rechte fordert, die den Schutz der Würde garantieren. Um welche Rechte es sich dabei handelt, variiert jedoch, und es ist unklar, ob sämtliche Menschenrechte die Würde als Grundlage besitzen“ (S. 260). Allgemein lässt sich denn feststellen: „Was unter der Würde, von der in Verfassungskontexten die Rede ist, zu verstehen ist, ist umstritten. Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, was sie bedeutet und ob sie überhaupt etwas bedeutet“ (S. 256). Meilensteine im Diskurs über Würde sind Kants Werke „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) und „Metaphysik der Sitten“ (1794). Für ihn hat Würde, was keinen Preis hat, sei es ein Marktpreis oder ein, wie er es nennt, „Affektionspreis“. Wesen, die Würde haben, besitzen absoluten Wert, sie sind über allen Preis erhaben, es gibt kein Äquivalent. Der andere Mensch sei, wie es in seinem berühmten Instrumentalisierungsverbot aus der „Grundlegung“ (AA IV, 429) heisst, „zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel“ zu behandeln. Als Mittel wird behandelt, wer der Weise, wie er oder sie behandelt wird, aus normativer Perspektive unmöglich zustimmen kann. Schaber bringt diese Sichtweise so auf den Punkt: „Eine andere Person in ihrer Würde zu achten, bedeutet, sie in einer Weise zu behandeln, der sie vernünftigerweise zustimmen kann“ (S. 256).

In der neueren philosophischen Diskussion finden sich unterschiedliche Verständnisse: a) Würde ist das Ensemble von vier Grundrechten, nämlich des Rechts auf ein Existenzminimum, auf Freiheit von grossen und andauernden Schmerzen, auf minimale Freiheit und auf minimale Selbstachtung. Dieses Ensemble entzieht sich der Abwägung mit anderen Rechten. Es vereint Abwehr- und Anspruchsrechte: „Einen Menschen in seiner Würde zu achten heißt danach: ‚Füge ihm keine großen Schmerzen zu‘, ‚nimm ihm nicht seine Freiheit‘, gleichzeitig aber auch: ‚Sorge dafür, dass er über Güter verfügt, die ihm ein Leben sichern, in dem er sich achten kann‘“ (S. 257). b) Laut der Statustheorie der Menschenwürde meint Würde haben, moralische Rücksichtnahme zu verdienen. Nicht ein Rechte-Ensemble ist Würde, sondern die menschliche Eigenschaft, Rechte zu haben und geltend machen zu können. c) Einen Faden der Stoa, die Würde mit bestimmten menschlichen Eigenschaften verknüpft, spinnt Martha Nussbaum in „Die Grenzen der Gerechtigkeit“ (2010, S. 223 ff.) weiter. Ein Leben in Würde führen bedeutet, zentrale menschliche Fähigkeiten nutzen zu können. Würde kommt allen zu, die eine dieser Fähigkeiten besitzen. Die Beeinträchtigung der Möglichkeiten, diese Fähigkeiten zu nutzen, verletzt die Würde. d) Für andere ist, näher bei Kant, Autonomie diejenige menschliche Eigenschaft, die Würde verleiht. Das kann heissen, eigenes Handeln im Licht von Gründen zu bestimmen. Und die Würde der anderen missachten würde zum Beispiel bedeuten, sie zu täuschen, zu manipulieren oder zu Dingen zu verführen, die sie nicht wirklich wollen. e) Ähnlich kann auch die Fähigkeit, subjektiv wertvolle Ziele zu verfolgen, Würde zugrunde liegen. Aufgrund dieser Fähigkeit werden Menschen Rechte zugesprochen. Der Wert der Trägerin bzw. des Trägers solcher Rechte ist Würde. Würde ist hier die Grundlage von Rechten. f) Für Rawls ist eines der wichtigsten Grundgüter Selbstachtung, ja „vielleicht das wichtigste“. „Man kann die Selbstachtung so definieren, daß sie zwei Seiten hat. Einmal gehört zu ihr (…) das Selbstwertgefühl, die sichere Überzeugung, daß die eigene Vorstellung vom Guten, der eigene Lebensplan, wert ist, verwirklicht zu werden. Zweitens gehört zur Selbstachtung ein Vertrauen in die eigene Fähigkeit, seine Absichten, soweit es eben einem möglich ist, auszuführen“, wie er in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (S. 479) erläutert. Ohne Selbstachtung auch kein Engagement, vielmehr „Teilnahmslosigkeit und Zynismus“. Rawls selber spricht freilich nicht von Würde. Anders Avishai Margalit, der in „Politik der Würde“ von 1997 Selbstachtung und Würde miteinander verbindet. Demütigung ist demnach ein Angriff auf die Selbstachtung. Margalit differenziert in seinem Buch (S. 41) zwischen Selbstachtung und Selbstwertgefühl. Selbstachtung gründet nicht auf eigenen Taten, sondern auf dem Menschsein, während das Selbstwertgefühl der Bestätigung durch andere in Interaktionen bedarf. Für ihn ist eine Gesellschaft, in der alle Mitglieder ein Leben in Würde zu führen vermögen, eine „anständige Gesellschaft“ – nicht zwingend indes auch eine gerechte Gesellschaft. Das In-Würde-leben-Können aller ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Zusätzlich scheint aber das Rawlssche Differenzprinzip gelten zu müssen, das sich ja auf die Ärmsten bezieht. „Für die einen schließt ein menschenwürdiges Leben ein Leben in absoluter Armut, für andere ein Leben auch in relativer Armut aus“ (S. 261). Es lässt sich beispielsweise argumentieren, aus Armut folge Bedürftigkeit und damit Abhängigkeit, die nicht mit Selbstachtung vereinbar sei. Wer in relativer Armut lebt, hat so weit Zugang zu Grundgütern, um ein minimal gutes Leben zu führen, lebt jedoch am Rand der Gesellschaft, und das ist der Selbstachtung abträglich.

Moral ist Thema des zweiten Unterkapitels. Ludwig Siep, von dem ein Buch über „Konkrete Ethik“ (2004) stammt, eröffnet es mit folgender Einschätzung: „Versteht man Moral als richtiges Handeln nach Regeln und das Gerechte im Sinne des lat. rectum, des Richtigen, dann ist Moral nahezu bedeutungsgleich mit Gerechtigkeit. Wenn für Moral dagegen die richtige Einsicht und Absicht entscheidend ist, Gerechtigkeit (‚öffentliche Gerechtigkeit‘) dagegen ein System der richtigen oder gerechtfertigten Verteilung von Gütern ist, dann besteht eine erhebliche Differenz. Eine ‚gerechte Weltordnung‘ ist offenbar etwas Umfassenderes als eine Handlung aus richtiger oder pflichtgemäßer Gesinnung. Ist also Moral ein Teil der Gerechtigkeit oder umgekehrt?“ (S. 262). Ethik wird dabei meist verstanden als „Theorie, Begründung oder Rechtfertigung dieser Regeln“ (S. 262).

Allgemeinstes Kriterium für Moral ist, so heisst auch das ausführliche Buch von Kurt Baier von 1974 dazu, „Der Standpunkt der Moral“. Es ist jener des wohlwollenden unparteiischen Beobachters. Als Beteiligter geht es um die Erfüllung von Pflichten gegenüber den gleichen Rechten anderer. Das Wohlwollen, die Benevolenz verweist auf das Gute. Moralisch handelnde Menschen sind auch gute Menschen. Moralisch kann auch bedeuten: die Tugenden ausübend – so zumindest in der Tugendethik. Und hier zählt Gerechtigkeit zu den zentralen Tugenden oder ist gar die zentrale Tugend. Von Hobbes zu Kant und weiter über Rawls zu Habermas´ Diskurstheorie der Moral schliesslich führt eine Tradition, die demgegenüber das Rechte bzw. Gerechte und das Gute trennt. Wie Kant in der „Metaphysik der Sitten“ (AA VI, 219) zeigt, sind Moralität und Legalität zu differenzieren. „Wenn für die Moral Gewissens- und Überzeugungsfreiheit gilt, Gesetze aber von äußeren Instanzen erlassen und sanktioniert werden können, dann können gerechte Gesetze mit ‚falscher‘ (z.B. eigensüchtiger) Gesinnung befolgt werden. Umgekehrt kann eine richtige moralische Haltung sich von Gesetzen distanzieren, zumindest innerlich“ (S. 265). Hegel tritt dagegen in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von 1821 für die Sittlichkeit ein, die von historischen Lernprozessen und Problemlösungen geprägt ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Gerechtigkeit tangiert im Übrigen auch das Verständnis von Nah- und Fernpflichten.

Das Verhältnis von Gerechtigkeit und gutem Leben ist jenem zwischen Moral und Glück verwandt, und so folgt auf Moral als nächstes Unterkapitel eines über das gute Leben, zumal in der Antike beide Verhältnisse kaum unterscheidbar waren. „Je nach Perspektive kann man die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und dem guten Leben für grundsätzlich harmonisch oder spannungsvoll halten. Als harmonisch erscheint sie aus der Perspektive, dass Gerechtigkeit zum guten Leben aller beitragen sollte. Spannungsgeladen erscheint sie, wenn man bedenkt, dass Forderungen der Gerechtigkeit die Möglichkeiten eines guten Lebens für einzelne einschränken können. (…) Mit ‚Gerechtigkeit‘ ist die Idee gemeint, dass jedem das Angemessene zukommt, was ihm in Abhängigkeit der verantwortlichen Handlung eines anderen zusteht (…). Mit ‚gutem Leben‘ ist eines gemeint, das als ganzes oder doch zu wichtigen Teilen (in sich) gut ist für die Person, die es führt“ (S. 268).

Bei Platon und Aristoteles könnte auf den ersten Blick ein Spannungsverhältnis vermutet werden, denn das Glück, die Eudämonie, sei als höchstes Gut, anzustreben. Allerdings ist kein rein individuelles Glück gemeint, sondern eines in Gemeinschaft. Um dem Ausdruck zu verleihen, geben im 20. Jahrhundert immer mehr Begriffen wie „Wohlergehen“ oder „gutes Leben“ Eudämonie wieder. Vor allem mit Kant verstärkt sich die Spannung. Denn auf der einen Seite wird die Autonomie stärker betont, und auf der anderen Seite wächst die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, verallgemeinernd etwas über gutes Leben auszusagen. Glückseligkeit – ohne davon gutes Leben abzugrenzen – ist für Kant denn „Befriedigung aller unserer Neigungen“ (Kritik der reinen Vernunft, A 806) oder der „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem (…) alles nach Wunsch und Willen geht“ (Kritik der praktischen Vernunft, A 225).

Weitgehend durchgesetzt hat sich der Vorschlag von Derek Parfit in „Reasons and Persons“ (1984), hedonistische, Wunsch- und objektivistische Theorien des guten Lebens auseinanderzuhalten. Gut ist ein Leben demnach insofern, als es viele Erlebnisse von Lust und Freude bietet, subjektive Wünsche, Präferenzen, Ziele, Zwecke usw. in Erfüllung gehen lässt oder objektiven Standards des für alle Menschen Wertvollen gerecht wird. Probleme dieser Ansichten bestehen darin, dass oft gerade auch ein grosses Mass Anstrengung, nur die Erfüllung von Wünschen, die sich nach tatsächlich Wertvollem richten, oder umgekehrt bloss das, was auch persönlich als beglückend empfunden wird, ein Leben zu einem guten machen. Nahe liegt angesichts dessen eine hybride Auffassung, wie sie beispielsweise Holmer Steinfath, Autor von „Was ist ein gutes Leben?“ (1998) und „Orientierung am Guten“ (2001), vorschlägt: „So könnten wir ein Leben gut nennen, wenn die Person, die es führt, die Ziele, Ideale und Beziehungen, die ihr am Herzen liegen, auf eine sie emotional befriedigende Weise realisiert und das, was für sie zählt, auch wert- und sinnvoll ist“ (S. 271). Fragt sich, worauf solcher Wert und Sinn als Bezugspunkt gründet. Steinfath merkt dazu an, es reiche Offenheit für neue Erfahrungen. Die drei Positionen können für den Utilitarismus, Rawls´ Gerechtigkeitstheorie und den Kommunitarismus stehen. Rawls grenzt sich von der utilitaristischen Vorstellung der Lust der grösstmöglichen Zahl ab und betont in Anbetracht der modernen Vielfalt möglicher Lebensentwürfe den Vorrang des Rechten vor dem Guten. Der Kommunitarismus hält ihm seinerseits seinen Individualismus vor, Werte seien demgegenüber nur im Kontext des Zusammenlebens verständlich. Nussbaum wendet gegenüber Rawls ein, es komme nicht auf die Verteilung von Rechten, Chancen und Gütern an, sondern auf eine Verteilung, welche Grundfähigkeiten auszuüben ermögliche. Damit dies jedoch auch zu einem guten Leben führt, ist die richtige Erkenntnis von Wünschen vorausgesetzt, und gerade dies ist nicht allen Menschen gleich möglich, wie Nussbaum am Beispiel bildungsferner Frauen vom Lande in wenig entwickelten Ländern zeigt. In Differenz zur „Listentheorie“ im Rahmen des Capability Approachs genügt es nach der Ansicht, die Steinfath in „Was ist ein gutes Leben?“ (S. 91) vertritt, das eigene Leben selbstkritisch, fremde Kritik dabei einbeziehend, zu reflektieren und eigene Wünsche zu evaluieren. In solche Reflexionen gingen auch Gerechtigkeitsüberlegungen ein. Und neuerdings erhalten auch ökologische Fragen ihre Aufmerksamkeit. Auf einen solchen Geist stösst Thomas Fatheuer in Südamerika, wovon auch sein Buchtitel „Buen Vivir – Recht auf gutes Leben“ von 2011 zeugt. Desgleichen scheint das von zahlreichen Intellektuellen vor wenigen Jahren verfasste „konvivialistische Manifest“ diesen Geist zu repräsentieren.

Jan-Hendrik Heinrichs, der Verfasser des Buches „Grundbefähigungen“ von 2004, kommentiert sodann Grundgüter und Fähigkeiten (S. 274 ff.) – dies der letzte der Kontexte im vierten Handbuchkapitel, auf den hier noch näher eingegangen werden soll. Der jüngeren Bestimmung grundlegender Güter bzw. Fähigkeiten geht die Geschichte der sozialen Indikatoren voraus. Der von Mahbub ul-Haq entwickelt Human Development Index ist von den Arbeiten von Amartya Sen und Martha Nussbaum inspiriert. Nicht nur die Entwicklungshilfe, sondern auch die Sozialhilfepraxis in Deutschland fusst über Güter hinaus auf Fähigkeiten, die hier Verwirklichungschancen genannt werden. Ein Überblick über Konzeptionen grundlegender Güter und Fähigkeiten sowie von Grundbedürfnissen gibt Sabina Alkire in „Valuing Freedoms“ (2002).

In einem Aufsatz mit dem Titel „Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten“ von 1992 (S. 371) zählt Rawls zur Grundausstattung „dieselben Grundrechte, Grundfreiheiten und Chancen und allgemein dienlichen Mittel wie Einkommen und Besitz, die alle durch dieselben gesellschaftlichen Grundlagen der Selbstachtung gesichert werden. Wir sagen, daß die Bürger als freie und gleiche Personen diese Güter benötigen und daß Ansprüche auf diese Güter als angemessene Ansprüche gelten“. Dabei sind Grundrechte und -freiheiten sowie Chancen in einer gerechten Gesellschaft von Beginn weg gleich verteilt. Die allgemein dienlichen Mittel hingegen dienen mit Blick auf das Differenzprinzip der Bewertung von Verteilungsmassnahmen, und sie lassen eigene Vorstellungen des guten Lebens verfolgen. Rawls kennzeichnet seinen Zugang als „schwache Theorie des Guten“, da seine Liste von Grundgütern in jeder Theorie des guten Lebens begründet werden können sollte. Sie soll zwecks besserer Anwendbarkeit einfach sein. Gegen Rawls wird vor allem eingewandt, seine Grundgüter würden der tatsächlichen Verschiedenheit der Vorstellungen vom guten Leben nicht gerecht und vermöge auch nicht die Auswirkungen von Gütern auf die Lebensführung unter variierenden Bedingungen zu erfassen. Sen etwa zeigt am Beispiel Behinderung, dass Rawls´ Grundgüter zur Darstellung tatsächlicher Freiheiten nicht ausreichen. Einzubeziehen seien ebenso die Umstände, welche die Umsetzung von Grundgütern in Lebensweisen einschränken.

Diese Kritik führt zum Capability Approach, der auf Deutsch als Fähigkeitenansatz oder Befähigungsansatz wiedergegeben wird. Dessen aristotelische Bezüge machen Sen und Nussbaum in „The Quality of Life“ (1993) besonders deutlich. Diese werden bereits wieder schwächer in der ansonsten am meisten ausgearbeiteten Version, die Nussbaum mit „Women and Human Development“ (2000) vorlegt. Später interpretiert sie die Fähigkeiten immer weniger mit Bezug auf Aristoteles und immer mehr mit Blick auf Rawls. Ihre philosophischen Bezüge legt sie offen im siebten Kapitel von „Creating Capabilities“ (2013). „‚Capability‘ bezeichnet insgesamt die positive Freiheit, wertvolle Zustände und Aktivitäten (Funktionen) zu erlangen. Diese Freiheit basiert auf sozialen, psychologischen und materiellen Grundbedingungen, die es ermöglichen, diese Befähigungen zu entwickeln und auszuüben. Basic capabilities oder in Nussbaums Begriffsverwendung central capabilities sind die grundlegenden Ermöglichungsbedingungen eines guten Lebens – ‚die Fähigkeit bestimmte äußerst wichtige Funktionen zu einem gewissen minimalen Grad zu erfüllen‘ (Sen 1993). Nussbaum (1988) zufolge ergeben sich Befähigungen (combined capabilities) aus der Verbindung von natürlichen Dispositionen (basic capabilities) und gesellschaftlichen Möglichkeiten (external capabilities)“ (S. 276). Eine Grundbefähigungsliste lehnt Sen ausdrücklich ab, da sie stets auf gesellschaftlichen Entscheidungen beruhen. Andere, etwa die bereits erwähnten Alkire, Heinrichs oder Nussbaum, versuchten genau dies nachzuliefern. Am bekanntesten wurde Nussbaums Vorschlag von zehn Grundbefähigungen, den sie, sich zunächst von Rawls abgrenzend, als „starke vage Theorie des guten Lebens“ kennzeichnet. Später stützt sie sich stärker auf Rawls. Nun soll die Liste bloss noch eine partielle moralische Konzeption sein, die in einen Konsens eingehen könnte. Seit „Women and Human Development“ (2000) rechtfertigt sie die Liste nicht mehr neo-aristotelisch, sondern charakterisiert sie als die Bedingungen eines Lebens in Würde. Erst in „Creating Capabilities“ (2013) diskutiert sie indes den Würdebegriff. In dieser jüngeren Zeit überprüft sie die Geltung der Liste in interkulturellen Gesprächen und partizipatorischen Prozessen. Die Liste sei nun ergänzbar und im Übrigen auch so abstrakt, damit sie in deliberativen Prozessen konkret ausgestaltet werden könne. Kritisiert wird an Sen und Nussbaum, ihr Ansatz werde dem modernen Pluralismus von Lebensentwürfen nicht mehr gerecht und die Messung der vielen Fähigkeiten sei zu kompliziert, um noch Gerechtigkeitsurteile fällen zu können.

Eine weitere Konzeption präsentieren denn Len Doyal und Ian Gough in „A Theory of Human Need“ (1991). Sie gründet sich auf Kants Moralphilosophie. Grundbedürfnisse seien solche, deren Erfüllung die Bedingung der Möglichkeit individuellen Handelns sei. Nicht die Bedingungen voller Kooperationsfähigkeit wie bei Rawls oder die Bedingungen des guten Lebens wie bei Nussbaum, sondern jene der Handlungsfähigkeit bilden den Ausgangspunkt für die Bestimmung der Grundbedürfnisse und, auf dieser aufbauend, der Grundgüter. Die Suche gilt dem „kleinsten gemeinsamen Nenner“. Demnach gibt es individuelle Grundbedürfnisse (Überleben, Gesundheit, Autonomie, Lernen) und gesellschaftliche Grundbedürfnisse (Produktion, Reproduktion, Kommunikation, Autorität). Die Konkretion dieser Bedürfnisse hängt von der jeweiligen Kultur ab. Aus den Varianten lassen sich dennoch universelle Bedarfsdecker (engl. satisfiers) gewinnen. Sie entsprechen Grundgütern. Das sind insbesondere die Eigenschaften von Gütern, Dienstleistungen, Aktivitäten und Beziehungen, welche die körperliche Gesundheit und menschliche Autonomie in sämtlichen Kulturen steigern.

In methodischer Hinsicht gelangen diese Ansätze über deduktive Verfahren zu ihrer Ausgestaltung. Transzendentale Argumentation und internalistischer Essentialismus stehen sich hier gegenüber. „Das transzendentale Argument macht geltend, bestimmte Grundgüter oder Fähigkeiten seien die Bedingung der Möglichkeit von Tätigkeiten oder Zuständen menschlicher Wesen, die in der Perspektive der politischen Ethik als unverzichtbar gelten. Bei Rawls sind die Grundgüter, wie erwähnt, Bedingung der Möglichkeit einer eigenen Vorstellung des Guten; bei Sen machen Grundbefähigungen ‚gewisse elementare und entscheidend wichtige Fähigkeiten‘ (…) möglich; bei Doyal und Gough ermöglichen sie individuelles Handeln der Person; bei Peter A. Corning ermöglichen sie adaptive Fitness und damit langfristiges Überleben der Spezies. Jüngst haben Rutger Claassen und Marcus Düwell (2013) vorgeschlagen, Nussbaums Capability Approach mithilfe von Alan Gewirths Moralphilosophie so umzugestalten, dass capabilities als die Bedingung der Möglichkeit von Handlungen verstanden werden“ (S. 278). Diese Argumentation ist anfällig für die Widerlegung durch Gegenbeispiele. Nussbaums internalistischer Essentialismus hingegen kombiniert deduktive und empirische Momente. „Dieser Ansatz evaluiert aus der teilnehmenden Perspektive der menschlichen Lebensform, ob ein Leben als volles menschliches Leben erkannt werden kann“ (S. 278). Wichtig ist den Ansätzen auch Kontextsensitivität, weshalb sie auf partizipatorische Prozesse abstellen.

Zu 5.

Das fünfte Kapitel nimmt sich abschliessend Anwendungsfragen an, und zwar in knapp dreissig ganz unterschiedlichen thematischen Bereichen. Herausgegriffen seien aus dieser Vielfalt zwei Themen, Familie (S. 375 ff.) und Bildung (S. 363 ff.). Allen demographischen Veränderungen zum Trotz bildet die Frage, was eine Familie überhaupt sei (und wer eine zu bilden vermag), kaum Gegenstand gerechtigkeitsbezogener Debatten. Zudem wird zuweilen mit Hilfe der Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre ganz grundlegend eingewandt, Familie sei durch Liebe geregelt und daher nicht auf Recht und Gerechtigkeit zu beziehen. Die stärkere, kommunitaristisch bis konservativ gefärbte Lesart dieser Einschätzung, z.B. von Michael Sandel, sieht Gerechtigkeitsfragen die Familie, Verhandlung und Bewertung von Vor- und Nachteilen den liebenden Zusammenhalt aushöhlen. Die schwächere Lesart, z.B. von Axel Honneth, sieht sowohl das Rechts- wie das Gefühlsmodell in Familien anwesend sein, sie ständen jedoch in einer unauflöslichen Spannung zueinander.

Sodann lassen sich zwei Aspekte unterscheiden, die intrafamiliäre Gerechtigkeit und die interfamiliäre Gerechtigkeit. Für Erstere ist vor allem die feministische Kritik an den obigen Lesarten relevant. Familie sei weniger eine natürliche als eine soziale Institution, der Staat habe ein grosses Interesse an gelingender Sozialisation (z.B. der Entwicklung des Gerechtigkeitssinns), und die Arbeit in Familien werde grösstenteils von Frauen verrichtet. Familie sei demzufolge keine rein private Sphäre. Schon John Stuart Mill bemerkte freilich in seinem Essay „The Subjection of Women“ von 1869 (S. 294 f.), erst wenn Gleichheit und Respekt das Familienleben prägten, Familie also eine „Schule der Freiheitstugenden“ und nicht mehr eine „Schule des Despotismus“ sei, könne der Gerechtigkeitssinn gedeihen. Susan Moller Okin geht in „Justice, Gender, and the Family“ von 1989 noch weiter, indem sie über gegenseitigen Respekt und rechtliche Gleichstellung auch die gerechte Verteilung von Haus- und Familienarbeit fordert. Noch Rawls behandle Familie zu sehr als Privatsache. Ähnlich äussert sich auch Angelika Krebs in „Arbeit und Familie“ von 2002 über, wie ihr Buch im Untertitel heisst, „die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit“. In „Gerechtigkeit als Fairness“ von 2003 (§ 50 S. 253 f.) reagiert Rawls auf die Kritik. Familie zählt er zur Grundstruktur, für welche die drei schon in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von 1975 entworfenen drei Prinzipien gelten. Freilich seien für die Gleichheit der Frauen weitere Schritte erforderlich, „um entweder den Arbeitsanteil auszugleichen oder die Frauen für ihren größeren Anteil zu entschädigen“ (ebd., S. 257). Zurückhaltung übt hier dagegen, wer das Familienleben als bestimmte Auffassung des guten Lebens interpretiert, und in liberaler Sicht habe die resultierende Gestaltung respektiert zu werden. Die vermutete Spannung entkräften andere wiederum damit, dass das Gespräch über Gerechtigkeit in Familien zwischen Müttern und Vätern einerseits und zwischen Eltern und Kindern andererseits den familiären Zusammenhalt erst recht fördere. Letzteres, das Verhältnis zu Kindern, wird immer mehr beachtet. Menschenrechte gelten für Erwachsene wie Kinder. Überdies haben Eltern keine Rechte über, aber solche in Bezug auf ihre Kinder, die sich in Entscheidungsbefugnissen konkretisieren. Das Mitbestimmungsrecht der Kinder wächst mit ihrem Alter. Die „Erziehung zur Autonomie als Elternpflicht“ thematisiert beispielsweise Monika Betzler in einem Aufsatz.

Von intrafamiliärer Gerechtigkeit ist interfamiliäre Gerechtigkeit zu unterscheiden. „Die Familie als Institution einerseits und eine liberale Gesellschaft, welche die Chancengleichheit ihrer Bürger gesichert sehen möchte, andererseits scheinen schwer miteinander vereinbar zu sein. Selbst wenn die intrafamiliäre Gerechtigkeit gesichert sein sollte, erweist sich die Familie immer noch in interfamiliärer Hinsicht als eine Bedrohung der Gerechtigkeit. Kinder aus bildungsnahen und wohlhabenden Familien haben nämlich (…) deutlich bessere Chancen und Lebensperspektiven als Kinder aus ärmeren, bildungsfremden Familien“ (S. 377). Dabei dürfte soziale Herkunft nicht über Lebensaussichten entscheiden. Neben dem ökonomischen Kapital bedeutsam sind auch kulturelles und soziales Kapital. Dessen ist sich zum Beispiel Rawls in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ (1975, § 12 S. 94) sehr bewusst: „Außerdem lässt sich der Grundsatz der fairen Chancen nur unvollkommen durchführen, mindestens solange es die Familie in irgendeiner Form gibt“, stellt er unmissverständlich fest. „Ist also die Familie abzuschaffen“ (ebd., § 77 S. 555), fragt er sich sogar. Mit Verweis auf das mildernde Differenzprinzip und die Bedeutung der Familie gerade auch für die Entwicklung eines Gerechtigkeitssinns verneint er. Eltern wollen meistens „nur das Beste“ für ihre Kinder, und es findet sich in der Fachliteratur auch die Ansicht, gerade die parteiische familiäre Liebe wirke fördernd. Andere hegen jedoch mit Blick auf Bildung oder Gesundheit Bedenken und lehnen zum Beispiel Privatschulen oder Zusatzversicherungen ab. – Eine weitere Problematik stellt schliesslich die gerechte Aufteilung von Lasten zwischen Familien und Kinderlosen dar.

Mit Familie verknüpft ist Bildung. Dieses Thema wird von Kirsten Meyer erörtert, die auch schon ein Buch mit dem Titel „Bildung“ (2011) verfasst hat. Mit Blick auf diese lassen sich die Chancengleichheit durch Bildung und gleiche Chancen auf Bildung auseinander halten. Im ersten Fall ist Bildung vorrangig Mittel zum Zweck und lässt mehr oder weniger Wohlergehen, z.B. in Form beruflicher oder finanzieller Perspektiven, erwarten. Im zweiten Fall geht es um die Möglichkeiten, einen bestimmten Bildungsabschluss zu erreichen, und zwar unabhängig von der sozialen Herkunft (z.B. Eltern mit Migrationshintergrund, niedriger Bildung oder geringem Einkommen). Je weiter das Verständnis von Chancengleichheit gefasst wird, desto fragwürdiger werden auch Versuche, entsprechende Ungleichheiten verhindern zu wollen – wenn dies beispielsweise verlangte, dass alle Kinder eine staatliche Kindertagesstätte besuchen, oder wenn Bildungsangebote, die privilegierte Eltern ihren Kindern machen, eingeschränkt würden. In einer liberalen Sicht ist Chancengleichheit gewiss nicht vollumfänglich realisierbar, dennoch aber ein sinnvolles Ziel. Andere mögliche Ziele wären die Gleichheit von Bildungsressourcen oder die Gleichheit von Bildungsergebnissen. Gegen die Gleichheit der Ressourcen spricht, dass Kinder abhängig von ihren unterschiedlichen Fähigkeiten auch unterschiedlich viele Ressourcen benötigen. Und gegen die Ergebnisgleichheit spricht, dass sie einerseits infolge unterschiedlicher Begabungen und Fähigkeiten und andererseits aufgrund unterschiedlicher Anstrengungen nicht erreichbar ist. Wenn Chancengleichheit gemäss dieser Einschätzung sinnvollerweise anzustreben ist, fragt es sich, welche gleichen Bildungsmöglichkeiten im Vordergrund stehen. Aus egalitaristischer Sicht stören weniger die ungleichen Möglichkeiten, sich zu bilden, direkt als die ungleichen Folgen davon, besonders die ungleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Andere Bildungsmöglichkeiten, z.B. Musikunterricht, bereichern das Leben, und es ist unklar, wie solche Ungleichheiten einzubeziehen sind. Mit Rawls kann das Differenzprinzip in die Debatte eingebracht werden. So könnte zum Beispiel aus der Förderung Hochbegabter zwar die ungleiche Verteilung des Gutes Bildung resultieren, diese sich aber in der volkswirtschaftlichen Produktivität so auswirken, dass es letztlich auch den am wenigsten Gebildeten besser geht als ohne diese Bildungsungleichheit. Einzubeziehen ist in solche Überlegungen jedoch, dass der Bildungserfolg wesentlich auf sozialer Herkunft beruht, und dies beginnt bereits bei der Leistungsbereitschaft, das heisst der Motivation, sich beim Bildungserwerb anzustrengen. Fraglich ist zudem, ob sich diese Wirkungskette – Begabtenförderung, ungleiche Stellenbesetzungschancen, Einkommensungleichheit, Produktivitätssteigerung, erhöhte Teilhabe auch der Schlechtestgestellten – tatsächlich belegen lässt. Ohnehin gibt Rawls mit seiner lexikalischen Ordnung der Chancengleichheit gegenüber dem Differenzprinzip Priorität. Konkret betrifft dies die Qualität von Schulen, die demnach gleich zu sein hat. Gerade auch qualitative Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Schulen dürften in dieser Sicht nicht bestehen. Harry Brighouse und Adam Swift, Vertreter einer egalitaristischen Position in der Philosophie der Erziehung, sind allerdings nicht für einen lexikalischen Vorrang der Chancengleichheit.

Auch ein anderer Ansatz, der Adäquatheitsansatz, knüpft an Rawls an, allerdings mehr an jenen aus „Politischer Liberalismus“ (S. 298): Der Staat habe ein Interesse an der Erziehung der Kinder, da diese einmal Bürgerinnen und Bürger seien. In dieser Auffassung ist weniger Gleichheit als Adäquatheit wichtig. Nicht dass alle gleiche Bildung erhalten, sondern alle genug Bildung erhalten, ist letztlich das Ziel. Im Anschluss an Rawls findet auch Amy Gutmann in „Democratic Education“ (1987), staatliche Erziehung solle die Werte moderner Demokratie vermitteln. Kinder sollen die Fähigkeit lernen, sich an der bewussten Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen. Elizabeth S. Anderson betont zudem, dass Kinder als künftige Bürgerinnen und Bürger lernen sollten, allen Formen von Unterdrückung in sozialen Beziehungen entgegenzutreten.

Diskussion

Das Handbuch hat einen stimmigen Aufbau. Natürlich überlappen sich die Inhalte der verschiedenen Kapitel oft, aber das gereicht nicht zum Nachteil. Die Materie ist nämlich überaus komplex, und das wird fast in jedem Unterkapitel deutlich. So erlaubt der Aufbau, sich ein und demselben Aspekt der Gerechtigkeitsthematik auf unterschiedlichem Wege zu nähern. Die Inhalte haben somit immer auch wieder andere Kontexte und lassen sich deshalb mannigfaltig erschliessen. Die Texte sind dabei durchgehend auf hohem Niveau verfasst. Zuweilen setzen sie grössere Vorkenntnisse voraus.

Im zweiten Handbuchkapitel findet sich je ein Unterkapitel zu Gleichheit und Chancengleichheit. Und natürlich kreisen die Auseinandersetzungen zwischen Egalitarismus und Anti-Egalitarismus nicht nur um den Wert der Gleichheit, sondern auch um Freiheit. Leider wird Gerechtigkeit jedoch nicht systematisch in Beziehung zu weiteren Grundwerten gesetzt, allen voran Solidarität, aber auch Sicherheit, Toleranz oder Frieden.

Als grösserer Mangel erscheint auch, dass die Diskurse über Gerechtigkeit in anderen Disziplinen als der Philosophie nicht ausführlicher behandelt, sondern im Unterkapitel zur empirischen Gerechtigkeitsforschung zusammengedrängt werden. Interessant wären zum Beispiel psychologische Theorien zur Entwicklung des Gerechtigkeitssinns, sozialpsychologische Theorien des sozialen Vergleichs, die mit Leon Festinger einsetzen, oder soziologische Theorien, welche die Orte, Praxen und (Miss-)Erfolge der Versuche, Gerechtigkeit im sozialen Leben zu verwirklichen, analysieren.

Zuletzt ein Detail am Rande: Es wäre hilfreich, wenn in den Quellen jeweils konsequent die deutsche Übersetzung berücksichtigt würde, wenn denn eine vorliegt. Im Handbuch werden leider recht häufig die deutschen Übersetzungen verschwiegen. Wenn dann in solchen Fällen auf bestimmte Passagen verwiesen wird, so hat man diese in der Übersetzung erst noch zu suchen.

Fazit

Endlich liegt ein Handbuch zu Gerechtigkeit in deutscher Sprache vor. Es führt vor, wie vielfältig sich mittlerweile die philosophische Debatte des Themas annimmt. Der klare Aufbau ermöglicht die zielstrebige Suche ausgewählter thematischer Aspekte ebenso wie umfassende Überblickslektüren, etwa zu den Konzeptionen von Gerechtigkeit, die in elf Unterkapiteln dargelegt werden. Auch wenn man sich in der Sozialpolitik und Sozialen Arbeit hinsichtlich der Relevanz sozialer Gerechtigkeit weitgehend einig ist, so wird durch das Handbuch deutlich, dass dieser Grundwert und seine Verwirklichung auf sehr unterschiedliche Art und Weise aufgefasst werden können.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 09.08.2017 zu: Anna Goppel, Corinna Mieth, Christian Neuhäuser (Hrsg.): Handbuch Gerechtigkeit. J.B. Metzler Verlag (Stuttgart) 2016. ISBN 978-3-476-02463-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21263.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.


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