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Martina Koch: Arbeits­(un)fähigkeit herstellen

Rezensiert von Dr. Antje Ginnold, 05.04.2017

Cover Martina Koch: Arbeits­(un)fähigkeit herstellen ISBN 978-3-03777-155-6

Martina Koch: Arbeits(un)fähigkeit herstellen. Arbeitsintegration von gesundheitlich eingeschränkten Erwerbslosen aus ethnographischer Perspektive. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2016. 266 Seiten. ISBN 978-3-03777-155-6. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR, CH: 38,00 sFr.

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Thema

Durch die UN-Behindertenrechtskonvention verändern sich allmählich die politischen Zielsetzungen. Menschen mit Beeinträchtigungen sollen mehr Möglichkeiten der Teilhabe erhalten – auch im Arbeitsleben. Im Zuge von Sozialrechts- und Arbeitsmarktreformen rücken neben Menschen mit Behinderungen auch Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen stärker in den Fokus der zuständigen, öffentlichen Institutionen. Diese sollen für den genannten Personenkreis Strategien und Wege der beruflichen (Re-)Integration prüfen, finden und umsetzen. Dabei geht es zum einen um die Eröffnung neuer persönlicher und beruflicher Perspektiven für die Betroffenen. Zum anderen kann es auch ein Ziel der unterschiedlichen Institutionen sein, dass diese Menschen sich nicht mehr im Leistungsbezug befinden.

Martina Koch beschäftigt sich in ihrem Buch mit der Situation in der Schweiz. Sie untersucht, wie die Arbeitsfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit von gesundheitlich eingeschränkten, nicht erwerbstätigen Personen im Rahmen eines Beratungs- und Coachingprozesses festgestellt bzw. konstruiert wird. Diese Prozesse werden durch öffentliche Institutionen, so genannte Arbeitsintegrationsagenturen, durchgeführt. Ziel dieser Prozesse ist es zu prüfen, ob und wie auch Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen für eine Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wieder aktiviert und unterstützt werden können. Die Doppeldeutigkeit im Titel des Buches, die sich in der Wortkonstruktion „Arbeits(un)fähigkeit“ zeigt, verweist auf das Spannungsverhältnis, in dem diese Prozesse stattfinden. So entstehen für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder Behinderungen nicht nur neue Chancen, sondern wächst zunehmend der Druck, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Ihnen wurde bisher häufig eine Arbeitsunfähigkeit mit entsprechendem Anspruch auf existenzsichernde Sozialleistungen zugestanden.

Entstehungshintergrund

Martina Koch legt mit dieser Veröffentlichung ihre Dissertation vor. Sie entstand im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts in der Schweiz. Unter der Leitung von Eva Nadai forschte ein Team zum Thema „Working the interstices. Inter-institutional cooperation in the Swiss welfare and social insurance system“.

Martina Koch erhob Daten für ihre Forschungsfrage von 2008 bis 2010, konnte aber auch auf die anderen Daten aus dem Forschungsprojekt zurückgreifen. Derzeit arbeitet Martina Koch als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung an der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel.

Aufbau

Die Autorin gliedert ihre Veröffentlichung klar und übersichtlich. Nach einer Einleitung folgen drei große Teile.

  1. Sie führen zum Forschungsfeld hin,
  2. berichten aus dem Forschungsfeld
  3. und begleiten die Leser/-innen aus dem Forschungsfeld hinaus.

Zu den drei Teilen gibt es jeweils verschiedene Kapitel und Unterkapitel.

Martina Koch legt ihre Forschungsarbeit als qualitative Studie an. Sie möchte durch ethnografische Methoden herausarbeiten, „… wie Gesundheit und Arbeits(un)fähigkeit in Institutionen der Arbeitsintegration zugeschrieben, ausgehandelt und bearbeitet werden.“ (S. 13)

Zu Teil I

Im ersten Teil (Kapitel 2 bis 4) beschreibt Martina Koch ihren Annäherungsprozess an den Forschungsgegenstand „Arbeits(un)fähigkeit“.

Sie zeichnet im Kapitel 2 die sozialhistorische Geschichte der Wohlfahrtspflege nach. Die Veränderungen in den Zielgruppen, Handlungsstrategien und Zugängen zu sozialstaatlichen Leistungen werden dargestellt. Der Fokus liegt dabei immer auf dem Konstrukt „Arbeits(un)fähigkeit“, wie sie definiert war und welche Folgen und Ansprüche sich dadurch ergaben. Dabei wird der Wandel von der Armenfürsorge hin zum aktivierenden Sozialstaat deutlich.

Im Kapitel 3 widmet sich die Autorin dem forschungsmethodischen Vorgehen. Ihre Forschungsarbeit ist als ethnografische Studie angelegt, bezieht aber auch Elemente der Grounded Theory mit ein. Durch eine mehrjährige, punktuelle Beobachtung im Forschungsfeld können Fallverläufe dokumentiert, rekonstruiert und interpretiert werden.

Im Kapitel 4 stellt die Autorin die beiden kantonalen Arbeitsintegrationsagenturen in der Schweiz vor, deren Beratungs- und Coachingprozesse sie beobachten konnte. Diese arbeiten zwar nach unterschiedlichen Konzepten, verfolgen aber das gleiche Ziel: die Feststellung der „Arbeits(un)fähigkeit“ und die Prüfung beruflicher (Re-)Integrationsmöglichkeiten durch Beratung, Coaching, Arbeitserprobung, Begutachtung, Etikettierungsprozesse und die Bewilligung von Qualifizierungsmaßnahmen.

Zu Teil II

Im zweiten Teil (Kapitel 5 bis 8) berichtet Martina Koch den Leser/-innen direkt aus dem Forschungsfeld. Gegenstand sind die Praktiken und Logiken der Aushandlung von „Arbeits(un)fähigkeit“.

Im Kapitel 5 werden dazu drei exemplarische Fallverläufe präsentiert und analysiert. Die Autorin arbeitet heraus, wie durch die Beratungsprozesse der Arbeitsintegrationsagenturen eine doppelte Aktivierung der gesundheitlich eingeschränkten Menschen ohne Erwerbsarbeit erfolgt: als gesundheitlich eingeschränkte Personen und als erwerbslose Personen. Sie beschreibt unterschiedliche Strategien der Berater/-innen, durch welche sie die ihnen zugewiesenen „Fälle“ bearbeitbar machen und Chancen auf erfolgreiche Integrationen prüfen. Dabei geht es auch darum herauszufinden, ob sich eine finanzielle Investition in den „Fall“ (z. B. durch die Bewilligung von Qualifizierungsmaßnahmen) lohnt. Im Beratungs- und Coachingprozess wird zunächst die Zuständigkeit geprüft und geklärt. Dann wird versucht, gesundheitliche Einschränkungen sichtbar zu machen, zu objektivieren, zu quantifizieren und zu beurteilen. Die festgestellte „Arbeits(un)fähigkeit“ wird dabei in unterschiedlichen Kontexten durchaus flexibel definiert. Anschließend erfolgen ggf. Platzzuweisungen und die Übernahme der Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen. Wenn die „Fälle“ keine erfolgreiche (Re-)Integration versprechen, werden sie rasch abgeschlossen. Im Fokus der gesamten Beobachtungen steht insbesondere das Agieren der institutionellen Akteure. Dennoch geben die ethnografischen Fallstudien einen Einblick, welche Möglichkeiten und Grenzen die Betroffenen haben, aktiv an dem Aushandlungsprozess der Feststellung ihrer „Arbeits(un)fähigkeit“ mitzuwirken.

In den Kapiteln 6 bis 8 bearbeitet Martina Koch fallübergreifend verschiedene Fragestellungen. Sie bezieht sich dabei sowohl auf die selbst beobachteten Fallverläufe als auch auf die im größeren Forschungsprojekt erhobenen Daten und Verläufe.

Im Kapitel 6 geht die Autorin der Frage nach, wie die Institutionen und ihre Akteure versuchen, Gesundheit als (un)berechenbare Größe im Beratungsprozess zu objektivieren. Die ambivalente Rolle sowie die zugeschriebene (Un-)Glaubwürdigkeit von Ärzt/-innen und ihren Beurteilungen wird hierbei ebenfalls thematisiert.

Im Kapitel 7 legt die Autorin den Fokus auf die Strategie der Berater/-innen, Gesundheit als individuelle Aufgabe der Betroffenen zu definieren. Martina Koch zeigt zum einen, dass es eine Diskrepanz zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ „Arbeits(un)fähigkeit“ gibt. Zum anderen beschreibt sie, wie bei institutionell oder strukturell bedingten Unklarheiten auf die gesundheitlichen Einschränkungen der Person umgesteuert und fokussiert wird. Diese individuelle Problemlage sollen dann die Betroffenen verantwortlich angehen und positiv verändern.

Im Kapitel 8 arbeitet die Autorin heraus, wie Gesundheit zum Selektionskriterium für den beruflichen (Re-)Integrationsprozess wird. Dokumentierte oder seitens der Berater/-innen vermutete gesundheitliche Einschränkungen führen zum Ausschluss beruflicher Optionen und Unterstützungsmöglichkeiten für die Betroffenen. Cooling out-Prozesse werden seitens der Berater/-innen forciert. Aufgrund ihrer Mitwirkungspflicht sollen die Betroffenen sich den Gegebenheiten anpassen.

Zu Teil III

Im dritten Teil ihres Buches (Kapitel 9) fasst Martina Koch ihre Forschungsergebnisse zusammen. Sie diskutiert sie in Bezug auf verschiedene soziologische Theorieansätze. Insbesondere das Konstrukt der „symbolischen Gewalt“ von Bourdieu zieht sie für die Einordnung ihre herausgearbeiteten Ergebnisse heran.

Diskussion

Das Buch von Martina Koch ist sehr aufschlussreich, sehr gut strukturiert und sehr verständlich geschrieben. Die Autorin hat treffende Überschriften für die einzelnen Kapitel gewählt, die den roten Faden gut erkennen lassen. Sie nimmt die Leser/-innen mit auf eine Reise – zum Feld hin, in das Feld hinein und auch wieder hinaus. Sie lässt uns Eintauchen in das Zustandekommen und die Logiken von Verwaltungshandeln. Es ist äußerst spannend mitzuverfolgen, wie sich die dokumentierten Fallverläufe entwickeln, welche Wendungen es gibt und wie diese von den Akteuren und der Autorin interpretiert und bewertet werden. Martina Koch hat mit der ethnografischen Methode eine geeignete Wahl getroffen. Und obwohl die Autorin die Situation in zwei Schweizer Kantonen exemplarisch untersucht, finden sich viele Erkenntnisse, die auch auf die deutsche Situation übertragbar scheinen.

Martina Koch legt den Schwerpunkt ihrer Studie darauf, wie in dem untersuchten Setting die „Arbeits(un)fähigkeit“ der betroffenen Personen fest- und hergestellt wird. Die Feststellung, Aushandlung und Flexibilisierung von „Arbeits(un)fähigkeit“ führen in den untersuchten Arbeitsintegrationsagenturen zur doppelten Aktivierung von gesundheitlich eingeschränkten Personen ohne Erwerbsarbeit. Ehemals arbeitsunfähige Personen werden im Beratungsprozess teilweise zu arbeitsfähigen Personen gewandelt und zur Erwerbsarbeit verpflichtet. Auch in Deutschland gilt: Reha vor Rente. Das bedeutet, dass zunächst eine medizinische und berufliche Rehabilitation zu versuchen ist, bevor eine Erwerbsminderungsrente zugesprochen wird. Leistungen aus der Schweizer Invalidenversicherung (in Deutschland ist dies i. d. R. die Deutsche Rentenversicherung) können mit der Begründung verweigert werden, dass eine Restarbeitsfähigkeit festgestellt wurde.

Zunächst versuchen die Akteure, eigentlich nicht bearbeitbare bzw. integrierbare „Fälle“ (z. B. weil sie bisher eine anerkannte Arbeitsunfähigkeit hatten), durch Abklärungsprozesse bearbeitbar zu machen. Die „Arbeits(un)fähigkeit“ soll in dem neuen Setting der Arbeitsintegrationsagenturen objektiv festgestellt werden. Auf dieser Grundlage werden dann Entscheidungen für oder gegen eine weitere Förderung und Integrationsunterstützung legitimiert. Die institutionellen Akteure unterliegen einem systemeigenen Erfolgs- und Kostendruck. Finanzielle Investitionen in die Förderung gesundheitlich eingeschränkter Personen müssen sich lohnen – die Personen sollen danach ohne weitere Subventionen ihren Lebensunterhalt möglichst wieder selbst verdienen.

Die Arbeitsintegrationsagenturen definieren Gesundheit als individuell bearbeitbares und „lösbares“ Problem. Sie geben die Verantwortung für die „Bearbeitung“ an die Betroffenen ab. Die institutionellen Akteure versuchen im Beratungsprozess, Gesundheit zu objektivieren, zu quantifizieren und zu medikalisieren. Das heißt, nur medizinisch festgestellte Einschränkungen von Ärzt/-innen werden als objektiv akzeptiert. In manchen Fällen wird aber diese Objektivität der Ärzt/-innen auch in Frage gestellt (Stichwort: Gefälligkeitsgutachten für die eigenen Patient/-innen). Gleichzeitig werden gesundheitliche Probleme zum Selektionskriterium für die Fortführung und Finanzierung der institutionellen Bemühungen um eine berufliche (Re-)Integration der Betroffenen. Die Berater/-innen flexibilisieren und funktionalisieren die Definition von Gesundheit in verschiedenen Kontexten durchaus strategisch.

Martina Koch arbeitet in ihrem Buch deutlich heraus: Die Betroffenen sind einem unklaren Zuschreibungs- und Entscheidungsprozess ausgesetzt, den sie scheinbar wenig aktiv beeinflussen können. Gleichwohl wird eine hohe Mitwirkung von ihnen verlangt, sonst drohen Leistungskürzungen. Betroffene werden zwischen der Invalidenversicherung, Arbeitsintegrationsagentur, Sozialamt und Arbeitsmarkt hin- und hergeschoben.

Gesundheitlich eingeschränkte, erwerbslose Personen gelten als Zielgruppe mit besonderen Vermittlungshemmnissen. Die dokumentierten „Fälle“ zeigen, dass die Berater/-innen immer nur um eine Sichtbarmachung, Objektivierung und Feststellung gesundheitlicher Einschränkungen bemüht waren. Vermisst habe ich, dass die Berater/-innen auch nach Möglichkeiten der Arbeitsplatzanpassung an die (gesundheitliche) Leistungsfähigkeit der Betroffenen suchen. In den dargestellten Fallverläufen wurde immer nur von den Betroffenen eine einseitige Anpassung an reelle oder vermutete allgemeine Anforderungen des Arbeitsmarktes verlangt.

Die systembedingten Probleme werden zudem im Fallverlauf zu individuellen Problemen definiert, für deren Lösung die Betroffenen in die Verantwortung genommen werden. Doch diese können in der Regel die systembedingten oder institutionellen Probleme und Verwerfungen ebenso wenig lösen, wie sie ihre gesundheitlichen Einschränkungen nicht einfach durch mehr Bemühen, mehr Aktivität oder mehr Aushalten von Schmerzen positiv verändern oder heilen können.

Gleichzeitig dokumentiert Martina Koch die strukturellen Bedingungen, unter denen die institutionellen Akteure agieren und entscheiden müssen. Diese sind geprägt von interinstitutioneller Kooperation und Nichtkooperation, Verschiebung oder Zuweisung von betroffenen Personen, Erfolgsdruck bezüglich einer erfolgreichen (Re-)Integration und Kostenvermeidungsdruck. Die persönlichen Vorstellungen der Berater/-innen über Gesundheit, Krankheit und Zumutbarkeit spielen bei den Entscheidungen durchaus eine Rolle, scheinen jedoch nicht ausreichend reflektiert zu werden. Ebenso wird der Kontext der Begutachtungen zu wenig berücksichtigt. Scheinbare Objektivierungen in Form medizinischer Gutachten oder durch Begutachtungen im Rahmen von Arbeitserprobungen in künstlichen Situationen werden zur Absicherung der Entscheidungen der Berater/-innen genutzt. Unklare oder ungelöste institutionelle/strukturelle Zuständigkeiten oder Verwerfungen werden zu wenig betrachtet. Stattdessen wird die Gesundheit oder Krankheit der Betroffenen zum Dreh-und Angelpunkt für Entscheidungen. Die Betroffenen müssen zwangsläufig cooling out-Prozesse ihrer beruflichen Optionen und Ansprüche durchlaufen und/oder hinnehmen. Bei der Legitimierung ihrer Entscheidungen greifen die Berater/-innen letztlich doch wieder auf das Konstrukt der Arbeitsunfähigkeit und gesundheitlichen Einschränkungen zurück, obwohl die Barrieren auch auf anderen Feldern liegen. So sind etwa die genutzten Instrumente zur Unterstützung der (Re-)Integration für die beschriebenen „Fälle“ zu wenig passend und zu wenig flexibel. Es gilt eher das Prinzip: Zuerst in einem künstlichen Schonraum qualifizieren, dann im Arbeitsmarkt platzieren. Die Betroffenen sollen sich einseitig anpassen. Die überaus positiven Erfahrungen, die mit dem Konzept der Unterstützten Beschäftigung und der Arbeit der deutschen Integrationsfachdienste vorliegen, scheinen meiner Einschätzung nach nicht genutzt zu werden. Für Personen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf wurde hier festgestellt, dass eine Umkehrung des Prinzips sinnvoller ist: Erst platzieren, dann qualifizieren – inklusive einer längerfristigen Begleitung.

In der Untersuchung fällt auf, dass Martina Koch ausschließlich „misslungene“ berufliche (Re-)Integrationsprozesse dokumentiert. Ob dies ein Zufallsergebnis der zufälligen Fallauswahl ist oder durch eine bestimmte Fragestellung der Autorin entstand, wird leider nicht deutlich. Interessant wäre die Frage, ob das untersuchte Setting der Arbeitsintegrationsagenturen auch erfolgreiche „Fälle“ produziert hat und welche Faktoren dazu geführt haben, dass sie erfolgreich waren. Auch wäre die Sicht der Betroffenen auf den Beratungs- und Coachingprozess interessant gewesen. Ihre Äußerungen in den beobachteten Beratungsgesprächen oder Arbeitserprobungen werden zwar dokumentiert. Es erfolgt aber keine eigene Befragung der Betroffenen. Von den Berater/-innen erfährt man dagegen, wie sie den jeweiligen Prozess einschätzen und ihre Entscheidungen begründen.

Mit der Studie werden die Diskrepanzen zwischen politischem Anspruch nach mehr Teilhabe von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen und dem verwaltungspraktischen Handeln deutlich. Die Lektüre des Buches ist sehr erhellend, gleichzeitig aber auch erschreckend. Es ist ein Lehrstück darüber, wie Verwaltungshandeln entsteht und sich legitimiert. Die Betroffenen haben zwar eine Mitwirkungspflicht, aber kaum eine reelle Chance sich gleichberechtigt an dem Aushandlungsprozess zur Feststellung ihrer „Arbeits(un)fähigkeit“ zu beteiligen. Vielmehr sind sie gezwungen, an verschiedenen Begutachtungen und Trainingsmaßnahmen (häufig in Schonräumen) teilzunehmen, einen cooling out-Prozess mitzumachen und die Reduzierung von beruflichen Optionen oder das Schließen ihres Falles zu akzeptieren. Viele Betroffene sind auch in der reellen Praxis nicht ausreichend in der Lage, die Logiken im Sozialsystem zu erkennen und aktiv (in begrenzte Rahmen) mitzubestimmen.

Und gerade deshalb sind diesem Buch viele Leser/-innen zu wünschen. Zu denken ist dabei an die Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiter/-innen, von Verwaltungsangestellten in den verschiedenen Sozialverwaltungen (Arbeitsagenturen, Jobcentern, Rentenversicherung, Krankenversicherung) sowie Mitarbeiter/-innen von Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und/oder Behinderungen.

Fazit

Mehr Teilhabe für beeinträchtigte Menschen lautet seit einigen Jahren das politisch erklärte Ziel sozialstaatlichen Handelns. Aber wie kann das für den Bereich Arbeit gelingen? Martina Koch untersucht in zwei Schweizer Kantonen, wie in den dortigen Arbeitsintegrationsagenturen die „Arbeits(un)fähigkeit“ von gesundheitlich eingeschränkten, nicht erwerbstätigen Personen im Rahmen eines Beratungs- und Coachingprozesses festgestellt bzw. konstruiert wird. Diese bildet dann die Grundlage für die Entscheidung, ob eine weitere finanzielle Förderung (etwa einer Qualifizierungsmaßnahme) und begleitende Unterstützung Erfolg versprechend sind und genehmigt oder abgelehnt werden. Mit Hilfe ethnografischer Studien arbeitet Martina Koch die Logiken und Aushandlungsprozesse bei der Herstellung der „Arbeits(un)fähigkeit“ heraus. Der Fokus liegt auf den institutionellen Akteuren. Die Schweizer Ergebnisse sind überaus interessant und durchaus übertragbar auf die deutsche Situation. Martina Koch leistet eine differenzierte Mikroanalyse, die viele systembedingte Logiken und Praktiken im Sozialsystem aufdeckt – inklusive der Sollbruchstellen.

Rezension von
Dr. Antje Ginnold
Dipl. Pädagogin.
Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt berufliche Integration von Menschen mit Behinderung, langjährig tätig in den Bereichen Fort- und Weiterbildung, Lehre und Forschung sowie als Integrationsberaterin für Jugendliche mit Lernbehinderung im Übergang Schule – Beruf in Berlin
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Es gibt 16 Rezensionen von Antje Ginnold.

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Zitiervorschlag
Antje Ginnold. Rezension vom 05.04.2017 zu: Martina Koch: Arbeits(un)fähigkeit herstellen. Arbeitsintegration von gesundheitlich eingeschränkten Erwerbslosen aus ethnographischer Perspektive. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2016. ISBN 978-3-03777-155-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21280.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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