Axel Franzen, Ben Jann u.a. (Hrsg.): Essays on Inequality and Integration
Rezensiert von Prof. Dr. Angelika Diezinger, 22.11.2016

Axel Franzen, Ben Jann, Christian Joppke, Eric D. Widmer (Hrsg.): Essays on Inequality and Integration. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen (Zürich) 2016. 320 Seiten. ISBN 978-3-03777-145-7. D: 44,00 EUR, A: 44,00 EUR, CH: 48,00 sFr.
Thema
Die zehn Beiträge behandeln aus unterschiedlicher Perspektive zwei klassische soziologische Paradigmen: Ungleichheit und soziale Integration, wobei aktuelle Krisenphänomene, deren Herausforderungen und Chancen reflektiert werden.
Herausgeber
Axel Franzen, Benn Jann und Christian Joppke sind Professoren für Soziologie an der Universität Bern, Eric Widmer ist Professor für Soziologie an der Universität Genf.
Entstehungshintergrund
Der Band enthält ausgewählte Vorträge, die auf dem Kongress der Schweizer Gesellschaft für Soziologie in Bern 2013 gehalten wurden. Die Mehrzahl der zehn Essays und die Einleitung sind in englischer Sprache verfasst. Die empirischen Beiträge beziehen sich mehrheitlich auf die Schweiz, enthalten sind aber auch Essays zu französischen, amerikanischen und westeuropäischen Entwicklungen.
Aufbau und Einleitung
Der Sammelband ist in drei Kapitel gegliedert:
- „Integration and Social Policy“,
- „Changing Inequalities“ und
- „Inequality, Fairness and Environmental Justice“.
Die Einleitung beginnt mit einer kurzen Reflexion der theoretischen Relevanz der beiden Paradigmen: Soziale Ungleichheit und Soziale Integration und geht ebenfalls knapp auf aktuelle Entwicklungen insbesondere in Europa ein, die es notwendig machen, beide Themen neu zu behandeln und aufeinander zu beziehen. Im Weiteren werden die einzelnen Beiträge kurz und informativ zusammengefasst und auf einander bezogen. Das erleichtert Leserinnen die Auswahl von Texten.
Zu Teil 1
Die drei Beiträge des ersten Teils beschäftigen sich mit dem Thema Integration und Sozialpolitik.
Der innovative Essay von Serge Paugam: „The Levels of Social Integration“ behandelt ausdrücklich nicht die Frage ökonomischer Ungleichheit, sondern untersucht, welche Formen der sozialen Beziehungen Integration ermöglichen und wie ungleich der Zugang und die Stärke solcher Bindungen verteilt sind. Er entwickelt eine Typologie verschiedener Bindungen und Einbindungen: familiale via Abstammung und Verwandtschaft, selbstgewählte Bindungen via soziale Kontakte, „organische Einbindungen“, v.a. über berufliche Arbeitsteilung und wohlfahrtsstaatliche Regulierungen und staatsbürgerliche Zugehörigkeit. Alle vermitteln in unterschiedlicher Weise Schutz und Anerkennung bzw. können – wenn sie geschwächt sind oder fehlen – Erfahrungen von Verunsicherung Schutzlosigkeit und Missachtung erzeugen. Die Bedeutung der einzelnen spezifischen Bindungen hängt gerade nicht nur von den Handlungen der Individuen ab, sondern v.a. auch von der Stärke sozialer Institutionen. Auf der Basis möglicher kumulativer bzw. kompensatorischer Wirkungen zwischen den unterschiedlicher Formen der Einbindung entwickelt er vier Niveaus sozialer Integration und erläutert sie an empirischen Beispielen (zumeist aus Frankreich): gesicherte, geschwächte, kompensierte und marginalisierte Integration.
Im Beitrag von Tobias Eule wird Integration in dem aktuell vorherrschenden Verständnis von Integration „Zugewanderter“ in eine „aufnehmende“ Gesellschaft untersucht. Er vergleicht die Formen „ziviler“ Integration in Deutschland und der Schweiz. Er meint damit die konkrete Förderung v.a. kultureller Integration (u.a. via Sprachkursen) und Information und die explizite Forderung nach Integrationsleistung der Zugewanderten. Er stellt hier wie dort fest, dass der Graben zwischen fördernden und fordernden Institutionen (und hier v.a. denjenigen, die über Aufenthaltsrechte entscheiden) bisher nicht geschlossen werden konnte und daher eher Selektion als Integration stattfindet.
Debra Hevenstone vergleicht in ihrem Beitrag die Wohnungspolitik in Zürich und New York. Sie fragt zunächst nach der Notwendigkeit staatlicher Wohnungspolitik, deren Ziele und Strategien. Sie geht dabei zurück bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts und bestimmt verschiedene „Wellen“, in denen jeweils spezifische Strategien (wie etwa Gründung von Kooperativen, sozialer Wohnungsbau, Berechtigungsscheine, Wohngeld etc.) im Vordergrund standen. Aufgrund der historischen Ergebnisse plädiert sie für eine Mixtur politischer Strategien.
Zu Teil 2
Im zweiten Teil des Buches: „Changing Inequalities“ sind vier Beiträge enthalten.
Der australische Soziologe Salvatore Babones untersucht die Frage, warum seit den 1970er Jahren in fast allen Ländern der Welt Soziale Ungleichheit angestiegen ist, jedoch nicht überall gleichzeitig und auch nicht im gleichen Ausmaß. Dass es die vielbeschworene Globalisierung sei, ist ihm als Antwort zu wenig, denn sozio-ökonomischer Wandel „passiert“ nicht einfach, sondern vollzieht sich nur mithilfe politischer Interventionen und sozio-kulturellem Wandel. Seine Analyse, die er mit den Daten von Thomas Piketty (den er zu beschreibend findet) durchführt, verdeutlicht zwei Kräfte: einmal Nachahmung neoliberale Tendenzen, die von den USA ausgingen und eine Mischung aus externem Zwang (insbesondere durch den Internationalen Währungsfonds) und interner „Annahme“ des Zwangs. Auch wenn manche Schlussfolgerungen fast zu stringent auf die Frage der Verantwortung von Eliten zugeschnitten sind, ist die Ausgangsfrage: Wem nützt der Wandel und wer unterstützt oder bekämpft ihn deshalb? soziologisch anregender als makroökonomische Formeln.
Die folgenden beiden Beiträge haben die Entwicklung innerhalb der Schweiz im Blick. Oliver Hümbeling und Rudolf Farys beschreiben und analysieren die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensungleichheit seit 1950. Sie stützen sich dabei auf fortlaufende Steuerdaten. Vor allem in jüngster Zeit gab es viele Initiativen zur besseren Umverteilung, die jedoch durchaus unterschiedliche Resonanz in der Bevölkerung fanden. Im internationalen Vergleich liegt die Schweiz bei der Einkommensverteilung im Mittelfeld, bei der Vermögensungleichheit allerdings in den vordersten Rängen. Letztere ist v.a. durch Vererbung und Erbrecht zu erklären. Die Entwicklungslinien der Einkommensungleichheit werden im Wesentlichen durch drei Ursachen erklärt: die wirtschaftliche Entwicklung, die sozialpolitischen Interventionen und durch den (internationalen wie innerschweizerischen) Steuerwettbewerb.
Der Essay von Christian Suter u.a. ergänzt diesen Beitrag v.a. in Hinblick auf methodische Fragen bei der Messung sozialer Ungleichheit. Auf welche Indices und Daten soll man sich stützen? Anhand unterschiedlicher Umfragedaten, Armutsberichten, statistischen Erhebungen und Steuerdaten vergleichen sie die Entwicklung der Haushalts- und der individuellen Erwerbseinkommen in der Schweiz. Während sie die zyklische Entwicklung sozialer Ungleichheit durchaus ähnlich abbilden, zeigen sich erhebliche Unterschiede in den gemessenen Niveaus der Ungleichheit.
Daniel Oesch untersucht in seinem Beitrag „Wandel der Berufsstruktur in Westeuropa“ die Frage, ob sich eine neue gesellschaftliche Spaltlinie entwickelt, die nicht auf Einkommensungleichheit, sondern auf dem Zugang zu Arbeitsplätzen beruht. Der deutliche Anstieg von Fach- und Führungspositionen hat z.B. in den USA zu einer Abnahme von Arbeitsplätzen für gering qualifizierte Arbeitskräfte geführt. Einer solchen Polarisierung kann jedoch durch gezielte Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik entgegen gewirkt werden. Daher untersucht er die Entwicklung in fünf westeuropäischen Ländern, die sich in ihren sozialpolitischen Arrangements stark unterscheiden. Interessant ist sein Ansatz, die Berufsstruktur nicht nur hierarchisch, sondern auch horizontal, nach der Arbeitslogik (interpersonale, technische, administrative und selbständige Arbeitslogik) zu unterscheiden. In allen Ländern kann er einen Anstieg in der oberen Berufsstruktur feststellen, der v.a. auch zusammengeht mit einer erheblichen Bildungsexpansion. Dagegen nehmen – in den verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß – Arbeitsplätze in der unteren Mitte ab, v.a. auf Kosten der Industriearbeit und Bürohilfsarbeit. Hier nimmt auch die Arbeitsplatzsicherheit ab. Im Niedriglohnsektor stagniert die Beschäftigung, sie steigt nur dort, wo Migration diese Arbeitsplätze auffüllt (in Großbritannien und Spanien). Eine Politik der Ausweitung des Niedriglohnsektors sieht er als nicht sinnvoll an. Allerdings bezieht sich seine empirische Analyse auf die Zeitspanne 1990 bis 2008, um die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise danach bewerten zu können, hat er zumindest ein interessantes Analyseraster bereit gestellt.
Zu Teil 3
Im letzten Teil „Inequalities, Fairness and Environmental Justice“ beziehen sich die beiden ersten Beiträge auf die Handlungsebene und sind spieltheoretisch ausgerichtet.
Joel Berger und Andreas Diekmann untersuchen experimentell das sog. Tocqueville-Paradox. Es besagt, dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ansteigt, wenn sich Mobilitätschancen verbessern und vergrößern, wie es der Namensgeber etwa am Beispiel der Französischen Revolution beobachtete. Spieltheoretisch wird das als nicht-intendierte Folge rationaler individueller Entscheidungen begriffen: mehr Menschen investieren in Aufstiegsanstrengungen und unter Wettbewerbsbedingungen gibt es auch mehr Verlierer. Allerdings zeigen sie, dass sich keineswegs unter allen (experimentell erzeugbaren) Bedingungen diese Kausalkette ergibt. Um dieses Ergebnis angemessen einschätzen zu können muss man allerdings der spieltheoretischen Ausgangsprämisse folgen: Dass nämlich jeder Spieler weiß, dass sich sämtliche Spieler rational entscheiden und ihren Nutzen maximieren wollen.
Dies gilt auch für den Beitrag von Sonja Pointner und Axel Franzen. Sie untersuchen ebenfalls per Experiment, unter welchen Bedingungen sich Menschen fair verhalten, d.h. hier: auf eigenen Zugewinn zugunsten anderer verzichten und unter welchen Bedingungen sie Verhalten ahnden, das sie als unfair empfinden, auch wenn das für sie selbst mit Verlusten verbunden ist. Sie referieren den Stand der Forschung, beschreiben ihre interessante experimentelle Anordnung und kommen zu dem Schluss: Anonymität ist Gift für Fairness und ist auch Basis für hohe „altruistische Strafen“, die den Strafenden selbst Verluste einbringen, also gewiss nicht „rational“ im Sinne der Spieltheorie sind. Ihre Schlussfolgerung, dass nämlich „emotionale“ Reaktionen notwendig sind, um Kooperation und Fairness unter „rationalen Akteuren“ zu gewährleisten, wird allerdings gerade nicht kritisch gegen die eigene Ausgangsprämisse gewendet.
Aus dem Rahmen fällt der Beitrag von Anton Leist: When Environmental Inequality is unjust. Er beschäftigt sich mit dem relativ neuen Aspekt der „Umweltgerechtigkeit“, der Frage, wie gute Umweltbedingungen bzw. Umweltschäden verteilt sind und wann diese Verteilung ungerecht wird. Und er tut dies in Form einer philosophisch-normativen Abhandlung. Interessant sind seine Unterscheidungen zwischen Umweltgerechtigkeit, die sich auf die Rahmenbedingungen des Alltagslebens von Menschen, wie saubere Luft, Zugang zu Trinkwasser etc. bezieht und ökologischer Gerechtigkeit, bei der es um die Wirkungszusammenhänge natürlicher Kreisläufe geht. Im Weiteren diskutiert er nur Aspekte der Umweltgerechtigkeit, und zwar v.a. die Fälle, in denen keine klare Unterscheidung zwischen Verursacher und (in der Regel) Geschädigte möglich ist, sondern Menschen zugleich Vorteile (etwa Mobilität) genießen und Nachteile (Feinstaub) erleben.
Diskussion
Wie immer bei Sammlungen von Kongressbeiträgen empfiehlt es sich, die wirklich lesenswerte Einführung der Herausgeber zu lesen, um dann je nach Interesse Beiträge auszuwählen. Enthalten sind sowohl Beiträge, die neue Perspektiven auf das Thema Ungleichheit vorstellen, als auch Fragen der empirischen Messung von sozialer Ungleichheit behandeln. Die verschiedenen Beiträge vermitteln dabei unterschiedliche theoretische Herangehensweisen an die Thematik. Hervorzuheben ist, dass fast alle Beiträge auch die Perspektive der Integration behandeln, also die Folgen sozialer Ungleichheit für den gesellschaftlichen Zusammenhang aufwerfen und sozialpolitische Interventionsmöglichkeiten darstellen und bewerten.
Fazit
Ein Band, der v.a. fortgeschrittenen Studierenden der Sozialwissenschaften ermöglicht, über den Tellerrand der deutschen Debatte um soziale Ungleichheit hinauszuschauen und mit neuen Erkenntnissen die Lage „vor Ort“ zu reflektieren.
Rezension von
Prof. Dr. Angelika Diezinger
Website
Es gibt 4 Rezensionen von Angelika Diezinger.
Zitiervorschlag
Angelika Diezinger. Rezension vom 22.11.2016 zu:
Axel Franzen, Ben Jann, Christian Joppke, Eric D. Widmer (Hrsg.): Essays on Inequality and Integration. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen
(Zürich) 2016.
ISBN 978-3-03777-145-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21282.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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