Tanja Sappok, Sabine Zepperitz (Hrsg.): Das Alter der Gefühle
Rezensiert von Allmuth Bober, 08.02.2017
Tanja Sappok, Sabine Zepperitz (Hrsg.): Das Alter der Gefühle. über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung. Hogrefe AG (Bern) 2016. 128 Seiten. ISBN 978-3-456-85594-3. 24,95 EUR. CH: 32,50 sFr.
Thema
Weil sich beim heranwachsenden Kind Emotion und Kognition wechselseitig in engem Zusammenhang entwickeln, verlangsamt eine Verzögerung der kognitiven Reifung das Tempo der emotionalen Entwicklung: Menschen mit geistiger Behinderung sind nicht nur kognitiv „jünger“ als es ihrem Lebensalter entspricht, sondern auch emotional. Oft entspricht dabei das kognitive dem emotionalen Alter, manchmal aber auch nicht. Im letzteren Fall ist das emotionale Alter, das „Alter der Gefühle“, in der Regel das niedrigere, weil Menschen mit geistiger Behinderung oft unter Bedingungen aufwachsen und leben, die die emotionale Entwicklung zusätzlich behindern.
Eine Diskrepanz zwischen kognitivem und emotionalem Entwicklungsstand bleibt oft unbemerkt, denn bei Menschen mit Intelligenzminderung wird meist nur der kognitive Entwicklungsstand erhoben und von diesem auf das emotionale Innenleben geschlossen. Dies kann dazu führen, dass Verhalten eingefordert wird, zu dem der betroffene Mensch gar nicht in der Lage ist. Beispielsweise wird geduldiges Abwarten verlangt, obwohl ihm das entwicklungsbedingt noch nicht möglich ist. Oder Handlungen werden fehlinterpretiert, etwa als bewusste Provokation, ungeachtet dessen, dass er gar nicht in der Lage ist, die Wirkung seines Verhaltens auf andere nachzuvollziehen. In solchen Überforderungssituationen kommt es oft zu selbst- oder fremdschädigendem Verhalten oder zu psychischem Rückzug und in der Folge zu massiven Beeinträchtigungen der Lebensqualität und der Entwicklungsmöglichkeiten.
Im Umgang mit Menschen mit Intelligenzminderung sollte man sich daher nicht nur am Lebensalter und IQ orientieren, sondern auch am emotionalen Entwicklungsstand. Dazu muss man diesen unabhängig vom kognitiven Niveau messen können. Einen Vorschlag hierzu hat der niederländische Psychiater Anton Došen 2005 in einer umfangreichen Monographie publiziert, deren deutsche Übersetzung seit 2010 vorliegt (www.socialnet.de/rezensionen/11072.php: Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung. Ein integrativer Ansatz für Kinder und Erwachsene). Das hier besprochene Buch knüpft direkt an dieses Werk an. Es beschreibt das Došensche Phasenmodell der emotionalen Entwicklung, seine Umsetzung in die Praxis und Weiterentwicklung in der Forschung.
Autorinnen und Entstehungshintergrund
Tanja Sappok ist Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Psychotherapie am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin und leitet dort den Bereich Geistige Behinderung der Psychiatrischen Institutsambulanz und die Arbeitsgruppe Entwicklungsstörungen. Sie forscht zu Autismus (2014 Habilitation zur „Autismusdiagnostik bei Erwachsenen mit Intelligenzminderung“), zu emotionalen Entwicklungsstörungen und zu Ursachen von Verhaltensstörungen bei Menschen mit Intelligenzminderung.
Sabine Zepperitz ist Diplompädagogin, systemische Therapeutin und Traumaberaterin. Sie arbeitet ebenfalls am KEH und ist dort pädagogische Leitung des Berliner Behandlungszentrums für geistige Behinderung und psychische Erkrankung. Hier ist auch Thomas Bergmann, Autor des Unterkapitels zur Affektregulation, als Musiktherapeut tätig.
Das Buch ist aus der klinischen Praxis der Autorinnen als „Produkt langjährig gewachsener Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen wie Ärzten und Pflegenden, aber auch Pädagogen und Heilpädagogen, Heilerziehungspflegern, Psychologen und verschiedenen therapeutisch arbeitenden Berufsgruppen“ (S. 9) entstanden. Interdisziplinär ist auch das Anliegen: Die fachspezifischen Perspektiven der verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitswesen und in der Eingliederungshilfe sollen so aufeinander bezogen werden, dass ein ganzheitlicher Blick auf den Menschen ermöglicht wird.
Aufbau
Das Buch besteht aus einem theoretischen Teil (52 Seiten), einem praxisorientierten Teil (23 Seiten), Resümee, Schlussbetrachtung und Danksagung (6 Seiten) und einem Anhang (24 Seiten) sowie aus Glossar, Sachregister und dem Literaturverzeichnis. Es ist lesefreundlich gestaltet: Zahlreiche Grafiken visualisieren die postulierten theoretischen Zusammenhänge; Farbfotos von typischen Zeichnungen in den verschiedenen Entwicklungsphasen ergänzen die im Text vermittelten Informationen; die meisten Abschnitte werden in Form von den Fließtext ergänzenden Textblöcken knapp zusammengefasst.
Inhalt
Anhand von Beispielen aus der klinischen Praxis wird im Kapitel Emotionale Entwicklung – eine Einführung die These begründet, dass man im Umgang mit Menschen mit Intelligenzminderung nicht nur die körperliche und intellektuelle Entwicklungsebene berücksichtigen soll, sondern auch die emotionale. Man könne sich dann besser in die Person hineinversetzen und nachvollziehen, warum diese sich so und nicht anders verhält, und man könne besser Unterstützung zur Verbesserung der Lebensqualität und beim Lösen von Problemen geben.
Nach dieser Einstimmung auf die zentrale Thematik des Buchs werden entwicklungspsychologische Theorien zur Beschreibung und Erklärung der emotionalen Entwicklung vorgestellt. Die Darstellung fokussiert auf aktuelle, empirisch fundierte Ansätze; klassische Theorien wie die Phasenlehre von Freud werden lediglich kurz erwähnt und als historisches Fundament des aktuellen Forschungsstands gewürdigt. Dieser wird anhand von fünf Entwicklungsaufgaben beschrieben, die als „empirisch fundierte Meilensteine der emotionalen Entwicklung“ (S. 15) bezeichnet werden: Affektregulation, Objektpermanenz, Bindung, geteilte Aufmerksamkeit und die dazugehörigen sozialkognitiven Nachfolgekompetenzen, Emotionsentwicklung.
Nach diesen grundlagenwissenschaftlichen Ausführungen wird eine Brücke zum nachfolgenden Kapitel geschlagen, indem das Phasenmodell der emotionalen Entwicklung von Došen durch einen Vergleich mit der Maslowschen Bedürfnishierarchie eingeführt wird. Deren Ebenen werden tabellarisch den fünf Phasen des Došenschen Modells zugeordnet. Beispielsweise gehören zur Došenschen Ebene 2 (Sozialisation) die Maslowsche Stufe 2 (Sicherheit), die Themen Stabilität und Geborgenheit sowie die Angst, verlassen zu werden.
Allerdings sei die gängige Pyramidendarstellung, so die Autorinnen, nicht die beste Abbildung dessen, was mit dem Došenschen Phasenmodell gemeint ist. Günstiger zum Verständnis der emotionalen Entwicklungsphasen sei eine dynamische Interpretation des Modells von Maslow. Dieser zufolge setzen die einzelnen Phasen zwar zeitversetzt ein, existieren dann aber nebeneinander, lösen sich also nicht ab. Jedem bestimmten ontogenetischen Zeitpunkt lässt sich dann nicht nur ein Leitmotiv zuordnen wie im gängigen Pyramidenmodell, sondern auch ein charakteristischer Motivmix aus dem phasenspezifischen Leitmotiv und den bereits vorhandenen Motiven. Zum Beispiel sei im Lebensalter von fünf Jahren das Zugehörigkeitsbedürfnis intensiver als das Bedürfnis nach Anerkennung, im Alter von zehn Jahren sei es dann umgekehrt (Abbildung 7, S. 24).
Diese dynamische Darstellung trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass sowohl in der verzögerten als auch in der typischen Entwicklung mit fortschreitendem Lebensalter die frühen Motive nicht einfach verschwinden. Wie die Autorinnen später in der Diskussion der Erwachsenengerechtheit ihres Ansatzes (S. 89) ausführen, haben auch Erwachsene ohne Behinderung noch kindliche Bedürfnisse – zum Beispiel nach körperlicher Nähe, nach zweckfreier Betätigung wie Kegeln oder Fußball, nach Anerkennung durch ihre Eltern – und leben diese normalerweise auch.
Im nächsten Kapitel werden die emotionalen Entwicklungsphasen nach Došen beschrieben. In der Phase 1 (erste Adaptation), die in der typischen Entwicklung im ersten Lebenshalbjahr stattfindet, ist ein zentrales Thema die Befriedigung der physiologischen Grundbedürfnisse. Wenn diese gestillt sind, man also momentan satt, schmerzfrei und ausgeschlafen ist, kommt als zweites Thema der Drang zur Verarbeitung der aus der Umwelt und aus dem eigenen Körper einströmenden Reize hinzu. Allerdings dürfen diese nicht zu intensiv, zu häufig oder zu überraschend sein. Die Schwelle zur Überforderung ist noch niedrig und die innerpsychischen Mechanismen zum Schutz vor Reizüberflutung sind noch nicht ausgebildet. Insbesondere ist man noch nicht in der Lage, negative Affekte selbst zu regulieren, sich beispielsweise selbst zu beruhigen.
In dieser Phase benötigt man zuerst einmal eine zeitnahe pflegerische Versorgung zur Sicherung des körperlichen Wohlbefindens. Hilfreich sind hier Strukturen und Routinen. Deren Konstanz hilft, Muster zu erkennen und Erwartungen zu kommender Bedürfnisbefriedigung zu entwickeln. Benötigt werden aber auch sensorische Anregungen, vor allem im Bereich der Nahsinne und der Wahrnehmung des eigenen Körpers. Um beides – Freiheit von unangenehmen Empfindungen und die Möglichkeit für vielfältige Erfahrungen – in der richtigen Dosis und zu den passenden Gelegenheiten zu bekommen, braucht man Partner, die einen aufmerksam beobachten. Sie wissen, an welchen Anzeichen zu erkennen ist, ob die Situation geändert werden muss, Reize intensiviert, reduziert oder variiert werden müssen.
Es folgt die Phase 2 (erste Sozialisation), die einem Referenzalter von einem halben bis anderthalb Jahren zugeordnet wird. Jetzt wird das soziale Gegenüber entdeckt und es kommt zu einer Bindung an eine oder mehrere Bezugspersonen. Diese Bindung ist die Basis für eine angstfreie Erkundung der Umgebung, einem der Hauptbedürfnisse dieser Entwicklungsphase. Man hat jetzt den Drang, auf die Umwelt einzuwirken, sich zu betätigen, zu explorieren und zu experimentieren.
Entsprechend muss die Umgebung so gestaltet werden, dass man vielfältige Erfahrungen machen kann, ohne sich selbst oder andere zu schädigen. Wichtig ist daneben das Angebot einer stabilen Beziehung. Dabei steht der Partner vor der Herausforderung, sich auf die Grenzen des Menschen in dieser Entwicklungsphase einzustellen. Beispielsweise sollte er möglichst immer in Sichtweite sein, damit keine Verlustängste aufkommen, und er sollte nicht erwarten, dass Regeln durch die Internalisierung von Normen gelernt werden können.
Die dritte Phase (erste Individuation) kann in etwa dem Alter von anderthalb bis drei Jahren zugeordnet werden. Umgangssprachlich wird sie auch Trotzphase genannt: Man entdeckt immer mehr seinen eigenen Willen und versucht, diesen durchzusetzen, auch und gerade gegen den Widerstand des Partners. Zentrales Thema ist jetzt die Selbstbehauptung, das Streben nach Autonomie. Jetzt gelingt es immer besser, sich Dinge und Prozesse auf gedanklicher Ebene vorzustellen und entsprechend vorausschauend zu handeln. Allerdings fällt die Trennung von Phantasie und Realität noch schwer, ebenso wie, sich von der eigenen Perspektive auf ein wahrgenommenes Objekt oder eine innere Vorstellung zu lösen. Entsprechend wissen Menschen auf dieser Entwicklungsstufe auch nicht, dass ihre Überzeugungen über die Wahrheit eines Sachverhalts sich von denen anderer Menschen unterscheiden. Deswegen können sie auch noch nicht lügen oder zu täuschen.
Dies gelingt erst in Phase 4 (Ichbildung), die in etwa dem Kindergartenalter entspricht. Man ist jetzt in der Lage und dazu motiviert, außerhalb des engen Kreises der Bezugspersonen weitere soziale Beziehungen einzugehen. Erst jetzt gibt es ein echtes Interesse an Gleichaltrigen und ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe außerhalb der Familie. Es entwickeln sich erste Einsichten in soziale Regeln und Normen sowie die Angst vor Ausschluss aus der Gruppe bei Verletzung dieser Normen.
Allerdings ist das Verständnis sozialer Regeln anfangs noch sehr starr. Das ändert sich erst in der fünften Phase, die des beginnenden Realitätsbewusstseins. Sie lässt sich dem Grundschulalter zuordnen. Mit der zunehmenden Orientierung an Gleichaltrige wachsen das Bedürfnis nach Anerkennung und Status sowie das Verständnis von moralischen, sozialen und Leistungsnormen. Unterstützung bei der Verhaltenssteuerung ist jetzt vielfältiger möglich als vorher. Unter anderem werden jetzt Appelle zum Einhalten sozialer Regeln und allgemein an Einsicht und Pflichtbewusstsein verstanden.
Im dritten Kapitel Feststellung der emotionalen Entwicklung wird das von Došen entwickelte Messinstrument zur Abschätzung des emotionalen Entwicklungsstands vorgestellt. Es heißt Schema der emotionalen Entwicklung, wird aber wie die niederländische Originalbezeichnung „Schaal voor Emotionele Ontwikkeling“ mit SEO abgekürzt. Der SEO ist ein Interviewleitfaden, mit dem ein Experte für Entwicklungspsychologie Bezugspersonen der Person befragt. Es enthält Unterskalen zu verschiedenen Entwicklungsbereichen, denen jeweils Items zugeordnet sind, die den einzelnen von Došen postulierten Entwicklungsphasen entsprechen. Beispielsweise gehört das Item „schämt sich für eigene Fehler“ zur SEO-Phase 5 im Bereich der Selbst-Fremd-Differenzierung. Der Interviewer erstellt dann ein Entwicklungsprofil, das meist, aber nicht immer, die Berechnung eines Gesamtwerts erlaubt.
Die Autorinnen betonen, dass es neben dem SEO und seinen diversen Weiterentwicklungen und Varianten noch viele weitere Möglichkeiten gibt, den emotionalen Entwicklungsstand zu konzeptualisieren und zu erfassen. Leider sei aber derzeit für keine dieser Methoden, auch nicht für den SEO, belegt, dass sie zuverlässig das messen, was sie zu messen vorgeben: „Keines der ggw. verfügbaren Verfahren ist hinreichend validiert, geschweige denn normiert. Insgesamt gibt es derzeit kein nach wissenschaftlichen Kriterien zufriedenstellendes Instrument zur Evaluation der emotionalen Entwicklung bei Erwachsenen“ (S.41). Dieser unbefriedigende Zustand könnte sich allerdings in Zukunft ändern. Die Vertreter der SEO-basierten Instrumente seien dabei, empirische Studien durchzuführen und es gibt bereits erste ermutigende Ergebnisse zur Objektivität, Reliabilität sowie zur konvergenten und divergenten Validität. Seit zwei Jahren arbeitet zudem eine internationale Arbeitsgruppe an der Vereinheitlichung der diversen SEO-Varianten für Erwachsene. Erstes Ergebnis dieser Bemühungen sei eine hinsichtlich der Itemauswahl, der Skalenhomogenität sowie des Auswertungsalgorithmus verbesserte Version, deren Testgütekriterien noch weiter untersucht werden müssen und deren Normierung noch aussteht.
Im Kapitel Emotionale Entwicklung und geistige Behinderung wird ausgeführt, dass Menschen mit geistiger Behinderung die gleichen Entwicklungsphasen durchlaufen wie andere Menschen, allerdings verzögert oder unvollständig. Da bei etwa einem Drittel der Menschen mit geistiger Behinderung der emotionale Entwicklungsstand nicht zum kognitiven passe, dürfe man nicht vom IQ auf den emotionalen Entwicklungsstand schließen. Beides müsse getrennt erfasst werden. Klinischer Erfahrung zufolge sei meist der emotionale Entwicklungsstand der niedrigere. Dies könne unter anderem an zusätzlichen neurologischen Schädigungen liegen, aber auch an Umweltfaktoren wie Traumatisierung, unzureichender emotionaler Förderung in institutionalisierten Einrichtungen oder chronischem Stress.
Es folgt das Kapitel Verhaltensstörungen bei Menschen mit geistiger Behinderung: Bei knapp einem Viertel der Menschen mit geistiger Behinderung komme es zu Verhaltensstörungen. Allerdings sei die diagnostische Abklärung schwierig, denn insbesondere bei Menschen mit ausgeprägter Intelligenzminderung würden bisweilen körperliche Störungen und psychische Erkrankungen nicht entdeckt und irrtümlicherweise als Verhaltensstörungen diagnostiziert und behandelt. Zudem sei es so, dass auch bei den echten Verhaltensstörungen, also nach Ausschluss der Fehldiagnosen, nur eine Untergruppe auf ein Ungleichgewicht zwischen emotionaler und sonstiger Entwicklung zurückgehe oder auf ein Ungleichgewicht zwischen einzelnen Komponenten der emotionalen Entwicklung.
Eine klinische Studie der Erstautorin an über zweihundert Menschen mit geistiger Behinderung, deren Ergebnisse im Kapitel Emotionale Entwicklung als Schlüssel zum Verständnis von Verhaltensstörungen referiert werden, habe allerdings ergeben, dass diese Untergruppe recht groß ist. Innerhalb dieser Untergruppe könne man, wie dann unter Umschriebene emotionale Entwicklungsstörungen ausgeführt wird, wiederum zwischen vier Typen emotionaler Störungen unterscheiden.
Der theoretische Teil schließt mit drei Kapiteln: Nichtbeachtung emotionaler Grundbedürfnisse durch die Umgebung kann dazu führen, dass die Person sich nicht angemessen wahrgenommen fühlt und die Partner frustriert und ratlos sind. Beides steigere das Risiko von Verhaltensstörungen. Es folgen Empfehlungen zu einem systematischen Vorgehen bei der Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten mit dem entwicklungsbasierten Ansatz sowie zur entwicklungsstandgerechten Umwelt- und Beziehungsgestaltung (Entwicklungsbasiertes Vorgehen).
Der praxisorientierte Teil beginnt mit einer Diskussion des Themas Der entwicklungsbasierte Ansatz und Erwachsensein. Der von ihnen vertretene Ansatz impliziere ein „Hinterfragen gängiger Konzepte“ (S. 63). Es bestehe die Gefahr, dass er ohne eine Reflexion dieser Konzepte bereits im Vorfeld abgelehnt oder unsachgerecht durchgeführt wird. Insbesondere könnten die vorgeschlagenen Maßnahmen als nicht erwachsenengerecht bewertet werden und die entwicklungsbasierte Sichtweise als Infantilisierung von Menschen mit Intelligenzminderung verstanden werden. Sie wäre dann ein Rückschritt in die Zeit, in der Menschen mit Behinderung als unmündige Kinder behandelt wurden.
Allerdings sei das Gegenteil der Fall. Gerade unter der Prämisse, dass erwachsene Menschen mit Behinderung als Erwachsene behandelt werden müssen, sei der entwicklungsorientierte Ansatz ein Schritt nach vorne. Er basiere schließlich auf einer realistischeren Konzeption von Erwachsensein als die Vorstellung, dass für Erwachsene nur die oberen Stufen der Maslowschen Bedürfnispyramide handlungsleitend seien. Auch erwachsene Menschen ohne Behinderung hätten kindliche Bedürfnisse, etwa zu kuscheln oder sich einfach so, nur zur Unterhaltung, zu betätigen („Spielen“). Es sei auch gesellschaftlich akzeptiert, dass diese Bedürfnisse ausgelebt werden. Wenn wir in unserer Gesellschaft dies aber Menschen ohne Behinderung fraglos zugestehen, warum dann nicht auch Menschen mit Behinderung?
Der entwicklungsbasierte Ansatz im Sinne einer Akzeptanz vorhandener kindlicher Bedürfnisse und des Respekts vor den individuellen Grenzen der Belastbarkeit negiere in dieser Sichtweise nicht die Forderung Erwachsenengerechtheit, sondern nehme sie ernster als bisher. Das gleiche gelte für die „Abkehr von förderzentriertem Denken und Handeln“ (S. 63). Der Begleiter „muss Machtpositionen immer wieder hinterfragen und seine Tätigkeit auf eine nicht erziehende, erwachsenenadäquate Begleitung“ ausrichten, „bei der der Mensch selbst entscheidet, wie er leben und was er verändern möchte“ (S. 64). Abgelehnt wird somit die eine verkappte Infantilisierung beinhaltende Vorstellung, dass man Menschen mit Behinderung lebenslang erziehen und ändern dürfe.
Anschließend wird im Kapitel Das Dilemma der Kategorisierung vor der Überinterpretation der Ergebnisse des SEO gewarnt. Sie sollten „nicht als unverrückbare Wahrheit, sondern als Hilfestellung betrachtet werden, das Verhalten eines Menschen, seine Bedürfnisse und Motivation besser zu verstehen“ (S. 66).
Es folgen ausführliche Hinweise zur SEO-Anwendung in der Praxis und ein Plädoyer für ein interdisziplinäres Vorgehen bei der Diagnostik und bei der Hilfeplanung (Chancen und Möglichkeiten entwicklungsbasierter, multiprofessioneller Fallkonferenzen).
Der praktische Teil schließt mit fünf Fallbeispielen (Bedürfnisse und Betreuungsansätze in den einzelnen Entwicklungsphasen), zu denen jeweils die Diagnostik, die Maßnahmenplanung, die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Maßnahmen und die erzielten Veränderungen detailliert beschrieben werden.
Im Anhang findet man zwei Versionen des kompletten Interviewleitfadens, einmal als Übersetzung der niederländischen Originalfassung des SEO und einmal in einer von den Autorinnen inhaltlich leicht überarbeiteten Version. Letztere ist so gesetzt, dass man sie als Kopiervorlage für die praktische Anwendung in Teambesprechungen nutzen kann. Ergänzend gibt es noch eine Tabelle, in der die emotionalen Entwicklungsschritte gegliedert nach Bereichen aufgelistet sind, und eine Kopiervorlage mit komprimierten Informationen zu den Entwicklungsphasen und dazu passenden Interventionen (Tipps für den Alltag). Es folgt eine zehnseitige Tabelle pädagogischer Maßnahmen, die im Rahmen einer bestimmten emotionalen Entwicklungsphase in den verschiedenen Bereichen anwendbar sind. Diese Handreichung ist als „Werkzeugkiste“ und „Inspirationsquelle“ gedacht, um sich Anregungen für das individuell für jede Person zu schnürende Maßnahmenbündel zu holen.
Diskussion
Die Publikation richtet sich an Fachleute aus dem Gesundheitswesen und der Eingliederungshilfe, die Dienstleistungen für Menschen mit geistiger Behinderung erbringen und dabei von der Kenntnis der Zusammenhänge zwischen dem emotionalen Entwicklungsstand eines Menschen, seinem individuellen Hilfebedarf und seinen Ressourcen profitieren könnten. Die Autorinnen standen somit vor der Aufgabe, den entwicklungsbasierten Ansatz von Došen auf knappem Raum so darzustellen, dass Menschen mit ganz unterschiedlichem fachspezifischen Vorwissen und unterschiedlichen Handlungszielen – Therapie, Pädagogik, Alltagsbegleitung – von ihren Ausführungen profitieren können.
Diese Aufgabe wurde durch eine durchdachte Auswahl der vermittelten Inhalte hervorragend gelöst. Die einzelnen Entwicklungsphasen werden verständlich erklärt, wobei auf der einen Seite nicht so stark vereinfacht wird, dass die Argumentation nicht mehr nachvollziehbar oder unzulässig verallgemeinert wird, auf der anderen Seite auf für das erste Verständnis unnötige Informationen konsequent verzichtet wird. Hilfreich sind auch die vielen Fallbeispiele, die gerade deswegen überzeugend wirken, weil das Ergebnis der Intervention in manchen Fällen nicht das Verschwinden, sondern lediglich eine Milderung der Symptomatik ist.
Eine ähnlich differenzierte Betrachtungsweise findet sich in den theoretischen Erläuterungen. So wird betont, dass das von ihnen vertretene Phasenmodell nur eine von vielen Möglichkeiten der Strukturierung der emotionalen Entwicklung sei. Alternative Einteilungen, die das Vorgefundene anders modellieren, seien ebenso kompatibel mit dem aktuellen Erkenntnisstand der Entwicklungspsychologie. Auch gingen keineswegs alle Verhaltensstörungen auf emotionale Probleme zurück und es sei auch nicht so, dass alle Menschen mit geistiger Behinderung emotionale Probleme hätten. Gewarnt wird auch davor, den intuitiven Zugang zur Gefühlswelt zugunsten der psychometrischen Erfassung zu negieren. Beide Zugänge ergänzen einander; beide helfen, den Menschen besser zu verstehen. Dieses Bemühen um wissenschaftliche Exaktheit, die Reflexion des Geltungsbereichs einzelner Aussagen, macht die Lektüre sehr spannend und regt zu eigenen Gedanken an.
Die Publikation leistet einen wichtigen Beitrag zur Frage, welche Betreuungsziele Einrichtungen der Behindertenhilfe anstreben sollen bzw. überhaupt dürfen. Den Autorinnen zufolge gehören kindliche Bedürfnisse zum Erwachsenensein, bei Menschen mit wie bei Menschen ohne Behinderung. Sie müssten akzeptiert und ernst genommen werden. Zwar dürften erwachsene Menschen mit Behinderung nicht als Kinder behandelt werden, aber man dürfe ihnen auch nicht die Erfüllung von basalen emotionalen Bedürfnissen verwehren, die Menschen ohne Behinderung in ihrem Alltag ausleben dürfen, „ohne komisch angesehen zu werden“ (S. 89). Ähnlich sei zu hinterfragen, ob die Formulierung von vorwiegend kognitiv-handlungsbezogenen Förderzielen im Hilfeplan und ein entsprechend förderzentriertes Handeln noch zeitgemäß sind (S. 75).
Diese Überlegungen passen zu anderen entwicklungsorientierten Rahmenkonzeptionen wie dem Konzept der Sensomotorischen Lebensweisen nach Winfried Mall oder dem in evangelischen Einrichtungen der Behindertenhilfe verbreiteten Modell der Lebensformen von Werner Haisch. Auch dort wird Förderung primär als Unterstützung der Entfaltung der vorhandenen Lebensformen verstanden, der vorgegebene Entwicklungsstand erst einmal als gegeben akzeptiert und anlasslose therapeutische Interventionen aus Prinzip, also einfach weil sie möglich sind, werden kritisch betrachtet. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es allerdings auch große Unterschiede, eine vergleichende Betrachtung wäre hier eine reizvolle theoretische Herausforderung.
Fazit
Im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung ist es von Vorteil, nicht nur den kognitiven, sondern auch den emotionalen Entwicklungsstand zu kennen. Dieser kann mit dem SEO, einem in den Niederlanden entwickelten Test, erfasst werden. Die Autorinnen beschreiben die theoretischen Grundlagen dieses Verfahrens und seine Umsetzung in die klinische und heilpädagogische Praxis, insbesondere bei der Diagnostik und Behandlung von Verhaltensstörungen. In diesem Zusammenhang diskutieren sie auch die jeder konkreten Betreuungsplanung vorgeordnete Frage nach der Legitimation pädagogischer und therapeutischer Maßnahmen bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Den Autorinnen ist es in hervorragender Weise gelungen, über diese wichtigen Themen auf knappem Raum verständlich zu informieren und neugierig zu machen auf die zukünftigen Ergebnisse der laufenden empirischen Validierung des SEO und der Erforschung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung.
Rezension von
Allmuth Bober
Studium der Psychologie (Diplom) mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsycholinguistik und Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Kommunikation mit Menschen mit angeborener Taubblindheit (M.Sc.). Koordinatorin für Unterstützte Kommunikation in der Stiftung Scheuern in Rheinland-Pfalz.
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Zitiervorschlag
Allmuth Bober. Rezension vom 08.02.2017 zu:
Tanja Sappok, Sabine Zepperitz (Hrsg.): Das Alter der Gefühle. über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung. Hogrefe AG
(Bern) 2016.
ISBN 978-3-456-85594-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21295.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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