Jens Borchert: Pädagogik im Strafvollzug
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 19.12.2016

Jens Borchert: Pädagogik im Strafvollzug. Grundlagen und reformpädagogische Impulse. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 188 Seiten. ISBN 978-3-7799-3451-6. D: 21,95 EUR, A: 22,60 EUR, CH: 30,70 sFr.
Thema
Ausgehend von historischen und allgemeinpädagogischen Entwicklungen entwirft der Autor ein Modell für das pädagogische Handeln im Strafvollzug und gibt dadurch Hinweise, was mit Strafgefangenen in der Haft geschehen soll und welche Ziele mit dem Vollzug verknüpft werden können. In zahlreichen praktischen Beispielen wird u. a. auf Alphabetisierung, allgemeine Didaktik, Peer Education und Kurzzeitinterventionen eingegangen und deren Relevanz für den Strafvollzug untersucht.
Autor
Jens Borchert, Dr. phil. studierte Erziehungswissenschaften in Leipzig und arbeitete u. a. als Sozialarbeiter in den Justizvollzugsanstalten Torgau und Regis-Breitingen. Er untererrichtete als Professor für Pädagogik und Handlungslehre der Sozialen Arbeit an der Technischen Hochschule Georg-Simon-Ohm Nürnberg und seit 2014 als Professor für Sozialarbeitswissenschaft/Kriminologie an der Hochschule Merseburg. Borchert promovierte 2006 zum Thema „Entwicklung von pädagogischen und sozialpädagogischen Angeboten im sächsischen Strafvollzug nach 1990“.
Aufbau und Inhalte
Borchert stellt in zehn Kapiteln die Grundlagen einer Vollzugspädagogik dar (Kapitel 1-3), geht auf reformpädagogische Impulse im Strafvollzug (Kapitel 4), Elementarpädagogik und sozialpädagogische Interventionen (Kapitel 5-7), Peer Education und Erlebnispädagogik als Möglichkeiten lernorientierten Handelns (Kapitel 8 und 9) ein und entwickelt aus den referierten Ideen und Ansätzen abschließend ein integratives Modell pädagogischen Handelns für den Vollzug (Kapitel 10). In einem abschließenden Kapitel (11) erfolgt die Zusammenschau der Aspekte.
Grundlagen. Mit Blick auf einzelne Strafvollzugsgesetzte der deutschen Bundesländer beschreibt Borchert das Ziel des Strafvollzugs als Lernprozess, der die Inhaftierten befähigen soll, ein künftig straffreies Leben zu führen, wodurch letztlich die gesellschaftlichen Interessen (Sicherheit) gewahrt werden sollen. Diesem Ziel geht ein Lernprozess voraus, der von den Strafgefangenen zu bewältigen und den beteiligten Institutionen zu unterstützen ist. Begriffe eines solchen Prozesses sind Bildung, Entwicklung, Erziehung und Anpassung, in deren Kontext der Autor einen knappen Überblick zu Erziehungskonzepten und Bildungstheorien gibt. Als Orte des Lernens benennt Borchert die formale Bildung im Vollzug (durch Lehrkräfte und Ausbilder), die non-formale Bildung (durch Therapeuten, Psychologinnen und Sozialarbeitende) und informelle Lernvorgänge (innerhalb der Gefangenengruppe) und beschreibt die Gleichzeitigkeit dieser Lernebenen, welche bei der Planung pädagogischer Angebote und Projekte berücksichtigt werden müssen. Die Zielgruppe pädagogischer Bemühungen besteht aus den dort untergebrachten jugendlichen und erwachsenen Strafgefangenen, deren soziökonomischen Besonderheiten (Bildung, Teilhabe, Einkommen) knapp umrissen werden. Auf 30 Seiten fasst Borchert dann die Geschichte der Pädagogik im Strafvollzug vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis hin zur aktuellen Situation zusammen; darin enthalten auch ein Exkurs zur Erziehung im DDR-Strafvollzug und eine tabellarische Übersicht zu Aufgaben der LehrerInnen im Strafvollzug, welche von Unterrichtsgestaltung und -durchführung bis zur Mitwirkung bei Behandlungsprogrammen für besondere Straftätergruppen reichen. Ein weiteres Kapitel des Abschnitts zu Grundlagen führt in Konzepte pädagogischen Handelns im Strafvollzug ein. Neben verschiedenen Zielebenen pädagogischen Handelns werden Grundlagen didaktischen Handelns, Methodenkonzeptionen und pädagogische Grundprinzipien (u. a. Selbsttätigkeit, Differenzierung, Motivierung) mit Verweis auf klassische pädagogische Theorien (Klafki, Montessori, Freinet) vermittelt.
Reformpädagogik. Den Impulsen der Reformpädagogik für Bildung und Erziehung im Strafvollzug widmet Borchert ein eigenes Kapitel. Neben einer grundsätzlichen Einführung („Was ist Reformpädagogik?“) finden sich hier ein historischer Überblick reformpädagogischer Ideen im Strafvollzug, aktuelle reformpädagogische Ansätze, ein Projektbeispiel „Lesecafé“ aus dem Bereich des Jugendstrafvollzugs und Hinweise zum „Vollzug in freien Formen“. Schwerpunkt der Ausführungen sind die Reformansätze, welche an den Rahmenbedingungen und Strukturen der Institution Vollzugsanstalt (als Lernort) ansetzen und eine stärker klientenzentrierte, bedürfnisorientierte, lebensweltorientierte, an Selbststeuerungsprozessen orientierte die (sozialen) Räume nutzende Sichtweise orientiert sind. Die Darstellungen zur Reformpädagogik lassen sich auch als Kritik an der (überkommenen) Struktur der Institution Vollzugsanstalt (welche sich als „Totale Institution“ darstellt) lesen. Betont werden Aspekte der Öffnung der Institution, der Kooperation (mit anderen Erziehungsakteuren) und die Bedeutung der räumlichen Gegebenheiten und deren (Um)Gestaltung.
Elementarpädagogik. Im entsprechenden Abschnitt geht Borchert auf die Problematik fehlender Kulturtechniken bei Strafgefangenen ein. Die Zahl der Analphabeten ist hier besonders hoch, was grundlegende Probleme der Teilhabe und Gestaltung eigener Problemlöseansätze nach sich zieht. Borchert stellt hier zwei von ihm selbst durchgeführte Unterrichtsprojekte aus dem Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug vor, welche als exemplarisch anzusehen sind.
Qualifikationsmaßnahmen. Ebenfalls defizitär stellt sich der Bereich der schulischen und beruflichen Qualifikationen von Strafgefangenen dar. Entsprechend sind allgemein- und berufsbildende Maßnahmen im Strafvollzug etabliert, im Jugendstrafvollzug fast flächendeckend. Borchert stellt in diesem Abschnitt die rechtlichen Bedingungen und bewährte Handlungsansätze vor, ebenso ein Projektbeispiel „Reststoffveredelung mit jungen Haftentlassenen“, wodurch das Potential neuer Ansätze berufsbildender Maßnahmen erfasst wird.
Sozialpädagogik im Vollzug. Was ist Sozialpädagogik, welche gesetzlichen Grundlagen gelten in diesem Feld, welche Aufgaben erfüllt sie? Der Autor beschreibt hier die entsprechenden Grundlagen und verortet Sozialpädagogik (womit i. e. Soziale Arbeit gemeint ist) zwischen fachlichen Standards (mit Bezug auf die theoretischen Klassiker), „Notfhilfemaßnahmen“ und struktureller Verbesserung der Selbsthilfepotentiale der Zielgruppe. Als Aufgaben werden die Beteiligung an der Vollzugsplanung und -gestaltung, Berichterstattung, psychosoziale Beratung, Gruppenarbeit und Entlassvorbereitung benannt und knapp erörtert.
Erlebnispädagogik. Dass erlebnisorientierte pädagogische Ansätze im Strafvollzug verwirklicht werden können, diese einen wichtigen Impuls für Lern- und Bildungsprozesse darstellen, greift Borchert im achten Kapitel auf. Die Praxishinweise beschränken sich hier auf Projektbeispiele aus dem Jugendarrest. Wohl auch, weil entsprechende Angebote im Erwachsenenstrafvollzug fehlen.
Peer Education. Die Darstellung methodischer Ansätze wird mit einem (eher) knappen Hinweis auf Gleichaltrigengruppen als pädagogischer Raum abgeschlossen. Neben Hinweisen auf theoretische Bezüge verweist Borchert auch hier auf ein Projektbeispiel, hier zur Entlassvorbereitung im Jugendstrafvollzug, an dem die Bildungsziele und das methodische Vorgehen expliziert werden.
Pädagogisches Vollzugsmodell. Die in den vorangegangenen Kapiteln erschlossenen didaktischen, methodischen und theoretischen Bezüge fasst Borchert im zehnten Kapitel zu einem „Modell für ein Konzept intramuraler pädagogischer Angebote“ zusammen. Hier systematisiert der Autor die unterschiedlichen pädagogischen Quellen und konstruiert ein Handlungsmodell für den Kontext der Justizvollzugsanstalt. Alle pädagogischen Schritte, von der Diagnostik, über die Grundbildung, schulische und berufliche Bildung, soziale Bildung, bis hin zu Freizeitmaßnahmen und Entlassvorbereitung werden hier zusammengefasst und in auf alle Phasen der Vollzugsdauer abgestimmtes pädagogisches Konzept integriert. Das Modell greift dabei freie Lernprozesse, Unterricht, soziale Lernphänomene, sowie ziel- und prozessorientierte Aspekte auf, wodurch ein Grundgerüst für die Pädagogik im Strafvollzug aufgestellt wird.
Zusammenschau. Borchert plädiert hier, mit nochmaligem Verweis auf die methodischen Möglichkeiten für einen Ausbau fachlich fundierter pädagogischer Angebote im Strafvollzug. Sein Credo: so lange es den Strafvollzug gibt (dessen Beendigung ja auch nicht zur Debatte steht), geht es um die Verbesserung der methodischen Möglichkeiten zur Erreichung der definierten Vollzugsziele. Wichtige Impulse, und diese darzustellen, ist das Hauptanliegen der vorliegenden Publikation, sind aus den Ansätzen der Reformpädagogik zu ziehen.
Zielgruppe
Alle Berufsgruppen, die im Kontext von Bildungsarbeit und Pädagogik im Strafvollzug beschäftigt sind, sowie Studierende der entsprechenden Ausbildungsgänge.
Diskussion
Kann der Strafvollzug überhaupt ein Ort für Lernen und Bildung sein? Oder sollten solche Anstalten abgeschafft, bzw. durch pädagogische Institutionen ersetzt werden? Ausgehend von dieser Leitfrage, die i. Ü. nicht beantwortet wird, erfasst Borchert die pädagogischen Möglichkeiten im Kontext von Lernen und Bildung für die Zielgruppe inhaftierter Menschen. Dem Buch ist anzumerken, dass der Autor selbst jahrelang im Strafvollzug gearbeitet hat. Eine Irritation angesichts der institutionellen Unmöglichkeiten und Hindernisse kommt nicht auf. Vielmehr argumentiert Borchert konsequent von der Basis der fachlichen Grundlagen aus und definiert Lernen und Bildung als Prozess der Selbstaneignung. Pädagogik wird, mit gründlicher Bezugnahme auf Reformpädagogische Ansätze, als Intervention zur Selbstbefähigung definiert, die Rolle der pädagogisch Tätigen (wozu er das gesamte Vollzugspersonal zählt) als Begleiter, Initiator und Helfer definiert, die staatlich definierten Vollzugsziele (Spezial- und Generalprävention, Resozialisierung) als Aneignung von Kulturtechniken und Anlass für Persönlichkeitsentwicklung aufgegriffen. Genauso konsequent wie die theoretische Begründung verfolgt Borchert Fragen der praktisch-methodischen Umsetzung.
Die theoretischen Ausführungen werden durchgehend durch Praxisbeispiele expliziert, welche didaktisch so aufbereitet sind, dass auch Arbeitsfeldfremde deren Wirkgehalt problemlos werden nachvollziehen können. Verzichtet hat der Autor auf Hinweise zur Kultur des Strafens, auf die Darstellung des Machtdiskurses in totalen Institutionen, die Eigendynamik in geschlossenen Peer Groups und deren Auswirkung auf Motivation und Sozialisationseffekte und vor allem auf die mit dem Institutionstyp Justizvollzugsanstalt verbundenen Risiken und Nebenwirkungen (Stichworte: Ausgrenzung, Etikettierung). Für eine spätere Neuauflage des Grundlagenbandes (dann als „Handbuch Pädagogik im Strafvollzug“?) sollten diese Themen aufgegriffen werden.
Insgesamt ist das Buch ein Glücksfall und gelungenes Beispiel für die Verschränkung von Theorie und Praxis in einem mehr als schwierigen Arbeitsfeld der (Sozial)pädagogik, das in den einschlägigen Ausbildungsgängen als Grundlagenliteratur verwendet werden sollte.
Fazit
Wie soll mit Strafgefangenen umgegangen werden? Welche Ziele sollen verfolgt, welche methodischen Ansätze dafür Anwendung finden? Das Buch greift diese Fragestellungen auf, umreißt pädagogische Grundlagen, die Geschichte der Pädagogik im Strafvollzug, den Beitrag der Reformpädagogik und verschiedene pädagogische Standardsituationen, von der Schul- und Berufsbildung, über Freizeitmaßnahmen und Entlassmanagement. Diese Bezugspunkte werden zu einem allgemeinpädagogischen Modell für das pädagogische Handeln im Strafvollzug zusammengeführt und dessen Relevanz anhand einer Vielzahl von Praxisbeispielen dargelegt. Das Buch ist damit ein wichtiger Impulsgeber für die pädagogische Praxis in den Vollzugsanstalten, von dem das dortige Personal, vor allem aber die dort untergebrachten Menschen profitieren werden.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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